Umgang mit Kindern religiöser Minderheiten

Die Sendung wurde am 21.11.2005 im StadtRadio Göttingen ausgestrahlt.

Am 21.09.2005 fand im StudienInstitut NiederrheiN (SINN) in Krefeld das Seminar „Umgang mit Kindern religiöser Minderheiten“ statt. Das Studieninstitut hatte LehrerInnen, Pädagogische Fachkräfte aus Kindergärten, Kindertagesstätten und Sozial- und JugendamtmitarbeiterInnen eingeladen. Der Referent war der Theologe und Religionswissenschaftler Dr. Joachim Süss. Zum damaligen Zeitpunkt war er Leiter der Kontaktstelle neureligiöse Gemeinschaften am Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien. Das Seminar hatte drei Ziele:

1. Gesellschaftliche Entwicklungen im Hinblick auf den Pluralismus religiöser Richtungen und die daraus resultierenden Herausforderungen an Bildungs- und Beratungseinrichtungen zu beleuchten

2. Über grundlegende Theologie und damit verbundene Lebenspraxis für Kinder der religiösen Minderheiten – etwa der Siebenten-Tags-Adventisten, Mennoniten, Baptisten, Zeugen Jehovas, Neuapostolischen Kirche sowie Juden und Moslems –aufzuklären und Konfliktpotential zu benennen

3. Anhand von Fallbeispielen und Rollenspielen angemessene Handlungsoptionen zu diskutieren und aufzuzeigen

Um solche Ziele zu erreichen, ist der Referent immer auf die Mitarbeit und Toleranz der Seminarteilnehmer angewiesen. Laut der Pressereferentin des Institutes (SINN) Christiane Willsch, die auch freundlicherweise einen Teilmitschnitt des Seminars anfertigte, herrschte eine positive Stimmung unter den 10 Teilnehmern.

Die Gruppe bestand hauptsächlich aus Erzieherinnen in Kindertagesstätten, sowie einem Leitenden Mitarbeiter eines Advent-Kindergartens, einem Lehrer und einer Mitarbeiterin aus einem Jugendamt, die mit Sorgerechtsfragen betraut ist.

Durch die richtige Mischung aus Theorie und Praxis kam keine Langeweile auf.

MoscheeZu Beginn fragte Dr. Joachim Süss nach den akuten Problemen. Hier wurden besonders Konflikte mit Kindern muslimischer Herkunft und Kindern von Zeugen Jehovas genannt. Bei den muslimischen Kindern betraf es das Schminken zum Karneval, das Basteln von Schutzengeln, das Osterfrühstück, das Anziehen eines T-Shirt eines türkischen Mädchens in einem Raum, in dem sich auch Jungen befanden oder die Tatsache, dass die Meinung der muslimischen Mutter vom Vater nicht akzeptiert wurde.

Bei den Kindern von Zeugen Jehovas ging es um die Ablehnung der Teilnahme an Geburtstags- und Weihnachtsfeiern.

Schon bei der Konfliktbesprechung erzählten die Teilnehmer, welche Lösungen sie gefunden haben. Interessant war es zu erfahren, dass Kinder weniger Probleme haben, etwas nicht mitmachen zu dürfen, als die Betreuer.

Eine weitere Erkenntnis war, dass unsere Kultur immer mehr verweltlicht und bei vielen Traditionen nicht mehr nach dem religiösen Hindergrund gefragt wird. Eine Vermeidung von Konflikten könne man schon dadurch erreichen, dass man sich mehr mit den religiösen Ursprüngen und dem jeweiligen Kulturkreis des Kindes befasse.

Danach gab Dr. Joachim Süss einen Überblick über die gesellschaftliche Entwicklung der religiösen Pluralität aus religionssoziologischer Sicht.

Es wurde festgestellt, dass es in Deutschland eine Hierarchie in der Religionslandschaft gibt. An der Spitze der Akzeptanz stehen die evangelische und katholische Kirche. Bekannte Religionsgemeinschaften werden ebenfalls akzeptiert. Alles was fremd ist, wird als neutral, kritisch, potentiell gefährdend oder als gefährlich eingestuft.

Im täglichen Leben kann sich dies durch ungewollte geduldete Ausgrenzung bemerkbar machen.

Aber es gibt auch die bewusste Ausgrenzung. Ein Beispiel hat Michael Krenzer in seinem Beitrag in der Zeitschrift „Religion – Staat – Gesellschaft“ 2002 veröffentlicht. Er berichtet über einen 13 jährigen Schüler, der von seinem Lehrer aufgefordert wurde, das morgendliche Gebet vorzulesen. Anschließend ist es in dieser Schule üblich, sich zu bekreuzigen. Der Schüler lehnt es ab, das Gebet vorzulesen, da dies nicht mit seiner Überzeugung als Zeuge Jehovas übereinstimmt. Er wird vom Lehrer und den Mitschülern unter Druck gesetzt und gibt nach, fühlt sich danach aber als Versager. Der Lehrer hält ihm danach eine 20-minütige Standpauke, in dem ihm Parallelen zur Verfolgung der Juden und der Zeugen Jehovas im NS-Regime vor Augen geführt werden. Diese seien deshalb verfolgt worden, weil sie sich ausgrenzt hätten. Der Lehrer droht ihm Probleme von seiner Seite und der Seite der Schüler an, wenn er sich künftig weiterhin ausgrenzen würde.

In den folgenden Tagen wird der Schüler mehrfach außerhalb der Schule von Mitschülern beschimpft, bedroht und tätlich angegriffen.

Ähnliche massive Probleme konnte Dr. Süss von den evangelischen Kindern eines Kollegen an einer katholischen Schule in Thüringen berichten.

Die TeilnehmerInnen hatten Gelegenheit im Rollenspiel Konfliktsituationen nachzuspielen.

Am Ende des Seminars wurden noch einmal die eingangs erwähnten Konflikte angesprochen. Zum Teil hatten die betroffenen BetreuerInnen schon Lösungen für sich gefunden oder erhielten neue Impulse:

Bei Geburtstagsfeiern wurde das Kind von Zeugen Jehovas in eine andere Gruppe geschickt und nach der Feier wieder abgeholt. Für die feiernden Kinder und das nichtfeiernde Kind war diese Situation normal.

Das Schminkverbot des muslimischen Vaters wurde heimlich umgangen und die Kinder vor Verlassen der Einrichtung wieder abgeschminkt.

Dr. Süss wies darauf hin, dass man auch hier nach dem religiösen Hintergrund forschen müsse, da das Schminken auch im Zusammenhang mit einem religiösen Fest stehen und nur zu bestimmten Zeiten vorgesehen sein könne.

Das Basteln der Schutzengel wurde durch das Basteln eines anderen Gegenstandes ersetzt.

Beim gemeinsamen Essen kennzeichnete man das Schweinefleisch oder bot nur vegetarische Kost an.

In dem bewusst von muslimischen Eltern ausgewählten adventistischen Kindergarten, vermittelte man keine traditionellen Werte, sondern nur die biblischen Geschichten.

Das türkische Mädchen, das ein T-Shirt anziehen sollte, wurde mit den anderen Mädchen aufgefordert, sich im Nebenraum umzuziehen.

Die Erzieherin wurde nicht als Erziehungsberechtigter akzeptiert. Das Kind sagte: „Ich brauche nicht auf Frauen zu hören.“

Das Gespräch mit den Eltern wurde mehrfach gesucht. Da keine Änderung erreicht werden konnte, wurde das Kind bei eventuell zu erwartenden Konflikten teilweise in eine andere Gruppe eingeteilt.

Es wurde vorgeschlagen, einen männlichen Kollegen mit ins Boot zuholen und eng mit dem Kollegium zusammenzuarbeiten. In diesem Fall war der Junge das einzige muslimische Kind. Das Problem wurde erst dadurch gelöst, weil er in die Schule gekommen ist.

Dr. Süss forderte die TeilnehmerInnen auf Querdenker zu werden und gemeinsam mit dem Kollegium nach anderen Lösungen zu suchen. Er sagte, sie sollten sich auch fragen, ob immer die Norm eingehalten werden müsse oder ob man auch einmal einen Standpunkt so stehen lassen könne.

In seinen abschließenden Worten fasste er den Zweck des Seminars zusammen:

„Ich wollte in diesem Seminar dafür sensibilisieren, dass es notwendig ist, sich mit den Fakten auseinander zu setzen, die einfach da sind. Sie sind nicht sehr erfreulich. Sie produzieren Schwierigkeiten. Hinter den Fakten stehen jeweils Menschen und ich glaube es ist wichtig, dass man den Einzelnen sieht. … Es lohnt sich zu kämpfen für jedes kleine Mädchen, jeden kleinen Jungen, ob es deutscher oder türkischer Abstammung ist.“

Die TeilnehmerInnen fühlten sich verstanden und nahmen neue Erkenntnisse mit nach Hause.

© Ingeborg Lüdtke

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Weiterführende Literatur:

Neue Soziale Bewegungen – Forschungsjournal Heft 4, Dezember 2004: DOES RELIGION MATTER? Zum Verhältnis von Religion und Sozialer Bewegung, Lucius Verlag

Religionsfreiheit und Konformismus – Über Minderheiten und die Macht der Mehrheit
(Zeitdiagnosen, Bd. 8), LIT Verlag 2005

Klöcker/Tworuschka, Handbuch der Religionen, 3. Ergänzungslieferung 2000 (April),
Olzog Verlag

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