Einladung
Überraschenderweise erhalte ich vom Thüringer Ministerpräsidenten Mario Voigt und dem Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora Prof. Dr. Jens-Christian Wagner eine Einladung zum Gedenkakt aus Anlass des 80. Jahrestages der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora am Sonntag, dem 6. April 2025 um 10:00 Uhr in der Weimarhalle in Weimar.
Nach anfänglichem Zögern beschließe ich an dem Gedenkakt teilzunehmen. Möglicherweise ist es eine der letzten Gedenkveranstaltungen mit Überlebenden.
Reise nach Weimar
Damit ich pünktlich spätestens um 9:50 Uhr in der Weimarhalle ankomme, reise ich schon am Samstag, den 5. April 2025 per Zug an. So habe ich noch die Möglichkeit mir einige Orte in Weimar anzusehen, die ich vor 23 Jahren nur von weitem gesehen habe.
Der Regionalzug fährt pünktlich ab, ist aber durch den Beginn der Ferien in fünf Bundesländern voller als sonst.
Bei meiner Ankunft am Bahnhof Weimar mache ich mich auf die Suche nach einem Schließfach für meinen Koffer, da die Rezeption meines Hotels erst ab 17:00 Uhr besetzt ist. Leider habe ich bei den Schließfächern am Bahnhofsausgang Pech. Der nette Bahnmitarbeiter rät mir, zu den Schließfächern auf Bahnsteig 1/2 zu gehen. Hier kann ich endlich meinen Koffer sicher einschließen. Da ich sehr mit dem Verstauen des Koffers beschäftigt bin, bemerke ich erst spät rechts von mir einen Mann, der mir seinen Rücken zu dreht. Er kommt mir irgendwie bekannt vor: weißes kurzgeschnittenes Haar, breites Kreuz und eine graue Anzugjacke. Es wäre wirklich ein sehr großer Zufall, wenn ausgerechnet einer der beiden Personen, die ich überhaupt in Weimar kenne, neben mir stände. Später sehe ich ihn erneut vor dem Bahnhof bei einem Auto stehen. Es ist tatsächlich Jens-Christian Wagner (Direktor der Stiftung Gedenkstätte Buchenwald/Mittelbau-Dora), der einen Gast abgeholt hat.

Auf dem August-Baudert-Platz vor dem Bahnhof befinden sich Stellwände mit Fotos und kurzen Infos von ehemaligen Inhaftierten des KZ Buchenwald.
Heute möchte ich mich aber mit der früheren Geschichte Weimars und ihren berühmten Persönlichkeiten beschäftigen.
Marstall und Stadtschloss

Über den Herderplatz mit dem Herder-Denkmal gelange ich zum Weimarer Marstall am Kegelplatz. Das Gebäude hat eine wechselhafte Geschichte. Es wurde als Reithalle erbaut und beherbergte später die Gestapo-Leitstelle. Heute ist er der Sitz des Hauptstaatsarchivs Weimar.
Ganz in der Nähe befindet sich das Weimarer Stadtschloss, das jetzt als Schlossmuseum (kunsthistorischen Ausstellung mit Schwerpunkt Malerei) genutzt wird. Es wird gerade renoviert. So werfe ich nur kurz einen Blick in den Hof.

Grünes und Rotes Schloss

Ich gehe den Hügel hoch zum Platz der Demokratie. Links steht das sogenannte „Grüne Schloss“ in dem sich die Herzog Anna-Amalia-Bibliothek befindet. Heute gibt es ohne ein vorbestelltes Zeitfensterticket keinen Einlass mehr.
Geradeaus laufe ich auf das ehemalige Fürstenhaus zu, in dem sich heute der Sitz der Hochschule für Musik Franz-Liszt befindet. Davor steht das Reiterstandbild von Herzog Carl August.


Da ich erst um 15:00 Uhr ein Zeitfensterticket für Goethes Gartenhaus habe, gehe ich Richtung Marktplatz und komme am „Roten Schloss“ vorbei. Es war ursprünglich als Wohnsitz der Witwe von Herzog Johann Wilhelm I. gedacht. Nach dem Stadtschloss-Brand 1616 wohnte hier zeitweise die Fürstenfamilie.
Hotel Elephant
Schräg gegenüber steht heute das legendäre Hotel „Elephant“. Auf dessen Parkplatz stand früher das Haus von Johann Sebastian Bach.
In dem ursprünglichen Gasthof „Elephant“ verkehrten zahlreiche Dichter und Musiker wie Christoph Martin Wieland, Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Franz Liszt und Richard Wagner.
In dem 1937 neu errichteten Hotel „Elephant“ wohnte Adolf Hitler während seiner Aufenthalte in Weimar in einer nur von ihm benutzten Suite im 1. Stock. Vom Balkon an der Vorderfront des Hotels hielt Hitler einige Reden.

Marktplatz

Da heute Markt ist, hat man leider keinen guten Blick auf die schönen geschichtsträchtigen Häuser, wie das Rathaus, das Stadthaus und das Cranachhaus. In dem Cranachhaus befand sich die Werkstatt von Lucas Cranach dem Älteren. Heute ist es das „Theater im Gewölbe“ (Privattheater). Lucas Cranach d. Ä. war ein Vorfahr von Goethe – mütterlicherseits.
Wittumspalais, Theaterplatz und Goethewohnhaus

An der ehemaligen Mietwohnung von Friedrich Schiller in der Windischenstraße vorbeikommend und über den Hof des Wittumspalais gelange ich zum Theaterplatz. Das Wittumspalais war viele Jahre der Wohnsitz von Herzogin Anna-Amalia. Hier fanden die berühmten Tafelrunden (literarische Diskussionen, Aufführungen von Theaterstücken, Musik), sowie der erste Thüringer Landtag statt. Heute ist es ein Museum.
Vor dem Deutschen Nationaltheater steht das Goethe-Schiller-Denkmal. Goethe soll angeblich einen halben Kopf kleiner als Schiller gewesen sein. Das Gebäude des Nationaltheaters wurde mehrfach zerstört und wieder aufgebaut. Es diente nicht nur als Mehrspartentheater (Schauspiel, Musik), sondern war auch Schauplatz von politischen Ereignissen. Hier wurde am 11. August 1919 von der Nationalversammlung die Weimarer Reichsverfassung verabschiedet. Später veranstalteten hier die Nationalsozialisten seit 1924 Parteiversammlungen. Im Herbst 1944 wurde das Theater zu einer Rüstungsfabrik der Firma Siemens und Halske umfunktioniert. Anlässlich des 200. Geburtstag Goethes am 28. August 1949 hielt Thomas Mann seine berühmte Ansprache an die Deutschen.
Ich verlasse nun diesen geschichtsträchtigen Ort, um wieder Richtung Park an der Ilm zu gehen. Am Frauenplan werfe ich nur einen kurzen Blick in den Hof des Goethe-Nationalmuseum mit Goethes Wohnhaus. Goethe hat hier 50 Jahre lang gelebt.
Goethes Gartenhaus
Um 15:00 Uhr habe ich ein Zeitfensterticket für Goethes Gartenhaus. Bei meinem letzten Besuch in Weimar haben wir während der Stadtführung das Gartenhaus nur von weitem gesehen. Es erschien mir kleiner zu sein.
Obwohl ich etwas früher dort bin, darf ich schon ins Gartenhaus.
Ich schaue mir recht nüchtern die Möbel und ausgestellten Texte von Johann Wolfgang von Goethe an. Die Ehrfurcht, die ich als junge Buchhändlerin vor seinen Werken empfand, stellt sich nicht mehr ein. Damals dachte ich noch, dass jede/r Autor/in über mir auf einem Treppchen stände. Nach fast 50 Jahren im Verlagswesen und Buchhandel ist schon längst eine Entzauberung eingetreten. Werke von Goethe begeistern mich nicht sehr. Ich stimme mit Heinrich Heine überein, dem die „göthischen Schriften“ nicht gefielen, sie aber in „poetischer Hinsicht verehrte“. Mir gefallen Texte von Friedrich Schiller besser.

Goetheplatz und Weimarhalle

Da ich schon einmal erkunden möchte, wo die Weimarhalle ist, gehe ich Richtung Goetheplatz. Auch hier gibt es wieder historische Gebäude wie den Kasseturm (Teil der ehemaligen Stadtmauer), das Lesemuseum (ehem. Vereinshaus der Weimarer Lesegesellschaft, heute Radio Lotte), das Hauptpostamt Weimar, sowie gleich über die Straße der Zweckverband Musikschule „Johann Nepomuk Hummel“ (ehem. Bürgerschule) zu sehen.
Auf dem heutigen Goetheplatz (vorm. Karlsplatz) fand am 5. Juli 1939 der große Aufmarsch der Standarten zum ersten Reichsparteitag statt. Zu diesem Zweck wurde das Reiterstandbild von Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisennach entfernt.
Unweit vom Goetheplatz liegen die Weimarhalle und das Bauhausmuseum.
Die ursprüngliche Weimarhalle wurde 1931 erbaut. Die Nutzung der Halle konnte unterschiedlicher nicht sein. 1932 fanden dort die Feierlichkeiten anlässlich des 100. Todesjahres von Johann Wolfgang von Goethe statt. In demselben Jahr trat Adolf Hitler noch vor der Machtergreifung zu einer Massenkundgebung der NSDAP Gau Thüringen auf.
Die in Weimar stationierte Sowjetarmee benutzte zeitweise die Weimarhalle als „Haus der sowjetischen Offiziere“. Zu DDR-Zeiten fanden hier regelmäßig die Parteitage der Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) statt.
Die Weimarhalle wurde 1997 wegen Baumängel abgerissen und neu gebaut.
Ich erkunde noch kurz, wo sich der Nordeingang der Weimarhalle befindet, denn nur diesen Eingang sollen wir morgen benutzen.


Schräg gegenüber der Weimarhalle bzw. direkt gegenüber des Bauhausmuseum war früher das ehemalige Gauforum, das nicht mehr komplett errichtet wurde. In einem Teil der dazugehörigen Gebäude ist heute das Museum Zwangsarbeit untergebracht.
Vor dem Museum stehen genau wie auf dem August-Baudert-Platz Stellwände mit Fotos und kurzen Infos von ehemaligen Inhaftierten des KZ Buchenwald.
Hier schließt sich dann der Kreis meiner Weimarer Stadtbesichtigung.
Irgendwie kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass fast alles in der Stadt mit Goethe oder Hitler bzw. NS-Geschichte zu tun hat. Thomas Mann sprach von einer Vermischung „von Hitlerismus und Goethe“.
Check-In Automat
Nun hole ich den Koffer aus dem Schließfach und gehe zum Hotel. Leider bin ich eine halbe Stunde zu früh dort. Angeblich besteht außerhalb der Rezeptions-Öffnungszeiten die Möglichkeit, sich an dem Check-In Automaten am Haupteingang selbständig einzuchecken. Hierzu benötige man die Reservierungsnummer und den Nachnamen.
Leider erhalte ich mehrfach die Meldung, dass es für mich keine Reservierung gäbe. Ein netter junger Mann lässt mich aber schon mal in den Vorraum, so dass ich mich auf das schwarze Ledersofa setzen kann.
Als die Rezeption dann geöffnet wird, kann ich einwandfrei einchecken. Mein Zimmer liegt in der 3. Etage am Ende des Ganges. Es hier sehr ruhig.
Gedenkakt 80. Jahrestages der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora
Einlass in die Weimarhalle
Heute am Sonntag, den 6. April 2025 wird der Gedenkakt aus Anlass des 80. Jahrestages der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora in der Weimarhalle begangen.
Als erstes bringe ich wieder meinen Koffer zum Bahnhofsschließfach. Den Weg zur Weimarhalle kenne ich ja inzwischen.
Als ich um ca. 9:30 h bei der Weimarhalle ankomme, stelle ich mich ans Ende der Wartenden beim linken Eingang. Vor mir steht eine Gruppe Franzosen/Französinnen. Einer von ihnen trägt ein grünes Sakko aus Breitcord. Durch seinen Hut und seinen Bart erinnert er mich an Horst Lichter.
Beim rechten Eingang fahren gerade Limousinen mit abgedunkelten Fenstern vor. Die Sicherheitsbeamten sorgen dafür, dass die Personen des öffentlichen Lebens schnell und sicher die Halle betreten können.
Unsere Taschen und Rucksäcke werden kontrolliert und ich werde auf gefordert meinen Rucksack gemeinsam mit der Jacke an der Garderobe abzugeben. Nun erfolgt die Kontrolle der Einladungen. Da ich meinen Sitzplatz schon im Voraus gebucht habe, kann ich in der linken Schlange bleiben. Das Ticket ist schnell gescannt. Die beiden Frauen vor mir haben sich noch nicht registriert und werden auf die rechte Seite mit dem V.I.P-Schild geschickt. Beide Frauen amüsieren sich köstlich, dass sie nun als V.I.P. gelten.
Die erste Garderobe ist bereits voll. Um zur anderen Garderobe zu gelangen, muss ich einmal am Saal vorbei und eine Etage nach unten gehen.
Meinen Sitzplatz habe ich schnell gefunden. Ich sitze in der 11. Reihe am Gang und hinter mir ist auch ein Gang. Die Person, die sich neben mir eingebucht hatte, erscheint nicht. Darüber bin ich auch nicht böse.
Während ich darauf warte, dass alle Gäste ihre Plätze einnehmen, kommen nun viele Personen mit ihren Mänteln und dicken Rucksäcken herein. Vermutlich reicht die Kapazität der Garderoben nicht mehr aus.
Musik und Fotos
Der Saal wir nun verdunkelt. Musiker spielen das Werk Żal (Bedauern) von Józef Kropiński, das er im September 1944 im Konzentrationslager Buchenwald komponierte. Gleichzeitig werden Fotos von der Befreiung der KZ Mittelbau-Dora (Nordhausen), KZ Buchenwald und dessen Außenlagern auf eine Leinwand projiziert. Es sind die schrecklichen Bilder, die sich den Befreiern bei ihrer Ankunft boten: Leichenberge, ausgemergelte Menschen, die mehr tot als lebendig zwischen den Toten sitzen oder liegen. Die Fotos der Außenlager Penig und Lippstadt der Frauen sind weniger schockierend. Weitere Fotos zeigen die Totengedenkfeier am 19. April 1945 auf dem Gelände des KZ Buchenwald, sowie französische Buchenwald-Überlebende bei einer Maikundgebung am 1. Mai 1945 in Paris.
Gedicht
Johanna Geißler rezitiert das Gedicht Forderung von Sarah Udi. Es wurde im Februar 1945 im Außenlager Sömmerda des Konzentrationslagers Buchenwald verfasst.
Sarah Udi wurde 1914 in Mukasch (damals Ungarn) geboren. Sie war Lehrerin und mit einem aktiven Zionisten verheiratet. Sie und ihre Eltern wurden als Juden 1944 nach Auschwitz deportiert. Ihre Eltern wurden dort ermordet. Sie musste Zwangsarbeit in Gelsenkirchen und im Buchenwalder Außenlager Sömmerda für die Firma Rheinmetall Borsig leisten. Sie überlebte das Lager und wanderte nach Israel aus. Sie starb 2007.
BEGRÜßUNG

Der Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora Prof. Dr. Jens-Christian Wagner begrüßt und bedankt sich besonders bei den neun Überlebenden, die trotz des Leidens, dass sie im KZ Buchenwald erleben mussten, an den Ort ihres Leidens zurückgekehrt sind. Es sei eine große Ehre, dass sie gemeinsam mit uns an die Befreiung des KZ Buchenwalds und Mittelbau-Doras vor 80 Jahren erinnern.
Häftlinge aus allen Teilen Europas seien befreit worden, die zu den unterschiedlichsten Opfergruppen gehörten: politische Gegner der Nationalsozialisten, Widerstandskämpfer, Jüdinnen oder Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, sogenannte „Berufsverbrecher“ oder Sicherungsverwahrte, angeblich „Asoziale“, Zeugen Jehovas, Opfer der Wehrmachtsjustiz, Männer, Frauen und Kinder. Von den 278 000 von den Nazis deportierten Menschen nach Buchenwald hätten 56 000 nicht überlebt.
Foto: (c) Thomas Müller, TSK
20 000 Menschen von den 60 000 Häftlingen in Mittelbau-Dora seien verstorben. Überlebende seien vielfach körperlich und seelisch von der Haft gezeichnet. An sie alle würden wir heute erinnern.
Doch der heutige Gedenktag sei auch ein Tag, des gemeinsamen „Nachdenkens“, über die Bedeutung der Lehren aus der Zeit des Nationalsozialismus. Für die Mütter und Väter des Grundgesetzes sei die Antwort 1949 klar gewesen, deshalb hätten sie in Artikel 1 des Grundgesetzes geschrieben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Dies bedeute die Würde aller Menschen, nicht nur des Deutschen.
MUSIKALISCHES ZWISCHENSPIEL
Józef Kropiński: Tak się o ciebie boję (Ich habe solche Angst um Dich) komponiert im August 1944 im Konzentrationslager Buchenwald
GRUßWORT
Der Thüringer Ministerpräsident Mario Voigt (MdL) lässt in seiner Rede die Ereignisse und unmenschliche Lebenssituation der Häftlinge am 11. April 1945 lebendig werden. Er fragt: „Wie konnte das geschehen?“ Über 50 000 Menschen seien ermordet, erschlagen, erschossen, zu Tode geschunden worden oder verhungert. Hinter all den Toten ständen Namen, Leben, Familien, Biografien. Es sei eine Schuld, die keine Verjährung kenne und eine Verantwortung, die bleiben würde.
Das KZ Buchenwald sei weithin sichtbar gewesen. Man habe die Transporte sehen und die Kommandos hören können. Die Stadt der Kultur, des Humanismus, der deutschen Klassik und der Ort der Barbarei, der systematischen Entmenschlichung lagen dicht bei einander. Dies sei eine Warnung, denn Bildung und Kunst oder moralische Selbstvergewisserung würden nicht immun machen gegen das Böse. Zwischen „Goethe und Gewalt“ läge kein schützender Raum. „Die Leserin von Schiller könne zur Schreibtischtäterin werden, der Hörer von Beethoven zum Lagerarzt“.
Foto: (c) Fotos Thomas Müller, TSK
Buchenwald sei ein Ort „systematischer Entmenschlichung“ gewesen. In dem Konzentrationslager habe „Vernichtung durch Arbeit, Hunger und kalkulierte Grausamkeit“ stattgefunden. Alles in diesem Lager sei dazu ausgerichtet gewesen, den menschlichen Geist und seine Würde zu brechen.
Es gelte die Verantwortung, die Menschlichkeit zu verteidigen und aus der Vergangenheit zu lernen, um eine gerechte Zukunft zu gestalten. Wichtig sei es, wachsam gegenüber den ersten Anzeichen von Unrecht zu sein und die Würde jedes Menschen aktiv zu achten. „Erinnerung sei nicht nur rückblickend, sondern solle auch die Gegenwart kritisch betrachten und eine Haltung gegen Gleichgültigkeit und Geschichtsrelativierung fördern“. Es sei ein starkes Signal, den Schwur von Buchenwald ernst zu nehmen: „Nie wieder.“

TEXTAUSZÜGE aus „Das schönste Museum der Welt“
Sebastian Kowski trägt Auszüge aus dem Werk „Das schönste Museum der Welt“ vor, das François Le Lionnais über das Konzentrationslager Mittelbau-Dora 1946 verfasst hat.
François Le Lionnais war Chemiker und Wissenschaftsjournalist, der vor und nach dem Krieg in Künstlerkreisen verkehrte. Er war Mitglied in zahlreichen Verbänden. Als Resistance-Mitglied wurde er 1942 verhaftet und 1944 in das KZ Mittelbau-Dora verschleppt. Er überlebte.
MUSIKALISCHES ZWISCHENSPIEL
Stanisław Więckowski: Wojna (Krieg) komponiert 1943/44 im Konzentrationslager Buchenwald
GEDENKREDE

Christian Wulff, der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland a. D., bedankt sich bei den anwesenden Überlebenden und deren Angehörigen dafür, dass sie so vieles Wichtiges überliefert hätten. Sie seien große Vorbilder für ihn für Menschlichkeit, Wahrhaftigkeit, Verständigung und Versöhnung.
Er erinnert an die Befreiung von Buchenwald und Mittelbau-Dora und warnt vor dem Wiederaufleben rechtsextremer Ideologien.
In „Weimar-Buchenwald sei zu spüren, wozu „fehlgeleitete, aufgehetzte, hasserfüllte Menschen gegenüber ihren Mitmenschen fähig“ seien. Menschen seien erniedrigt und getötet worden „wegen ihres Glaubens, kultureller Zugehörigkeit, politischer Überzeugungen oder ihrer sexuellen Orientierung“.
Thüringen sei ein „Vorreiter auf den Weg in den NS-Staat“ gewesen. Christian Wulff zeigt kurz auf, wie der NSDAP der Einzug in eine Regierungskoalition mit Bürgerlichen und Deutsch-Nationalen gelang.
Foto: (c) Fotos Thomas Müller, TSK
Die NSDAP und die AfD seien nicht gleichzusetzen, da dies eine „unverantwortliche Verharmlosung des Nationalsozialismus“ wäre. Er sieht aber Parallelen in den Äußerungen einiger AfD-Politiker.
Es sei wichtig aktiv gegen Extremismus und Diskriminierung einzutreten und die Errungenschaften von Demokratie und Menschenrechten zu verteidigen.
Deutschland habe die Verantwortung aus der Geschichte zu lernen und sich aktiv gegen Feindseligkeit und Entmenschlichung einzusetzen, um den Schwur von Buchenwald „Nie wieder“ einzuhalten.
(Die ganze Rede kann man nachlesen unter https://www.stiftung-gedenkstaetten.de/reflexionen/reflexionen-2025/gedenkakt-weimar-wulff-rede )
MUSIKALISCHER ABSCHLUSS
Edvard Grieg: Peer Gynt, Suite Nr. 1, Op. 46, daraus: Åses Tod, 1875
Edvard Grieg war kein Häftling in Buchenwald, aber sein Stück ist eng mit Buchenwald verbunden. Es wurde vom Lagerorchester am 19. April 1945 anlässlich der ersten Gedenkfeier für die ermordeten Kameraden auf dem Appellplatz gespielt.
Foto: (c) Fotos Thomas Müller, TSK

Ende der Gedenkfeier
Am Ende der Gedenkfeier hole ich meinen Mantel und den Rucksack. Trotz der vielen Menschen kann ich die Weimarhalle schnell verlassen.
Über den Inhalt der Reden muss ich noch einmal nachdenken und plane mir die Veranstaltung in der MDR-Mediathek noch einmal anzusehen.
Am Fußgängerüberweg in Nähe der Weimarhalle lässt mich der Fahrer einer Limousine mit verdunkelten Scheiben und Hannoveraner Kennzeichen die Straße überqueren. Ich winke als Dank.
=======
Rokokosaal in der Herzogin Anna-Amalia Bibliothek
Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek ist eine der ältesten öffentlichen Bibliotheken Europas. Sie wurde 1691 gegründet.
Für 12:30 Uhr habe ich ein Zeitfensterticket für den Rokokosaal in der Herzogin Anna-Amalia Bibliothek. Ich kenne den Weg und laufe diesmal auf sehr freien Wegen und Plätzen und kann so u.a. noch einmal schöne Fotos von den Häuser am Marktplatz aufnehmen.
Im September 2004 brannten Teile der Herzogin Anna-Amalia Bibliothek. Trotz großer Hilfsaktionen wurden 50.000 Bände vernichtet, etwa 60.000 – 100.000 beschädigte Bücher konnten gerettet werden. Die Bestände konnten teilweise durch Buchspenden aufgestockt werden. Durch den Bibliotheksbrand entstanden besonders schwere Brandverluste bei der herzoglichen Musikaliensammlung.
Der Rokokosaal ist wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt. Die Bibliothek wurde 2007 wiedereröffnet.
Der ovale helle Rokokosaal mit den weißen kunstvoll gestalteten Bücherregalen bis unter die Decke auf mehreren Ebenen ist schon beeindruckend. Er erstreckt sich über drei Etagen. Die Brüstungen sind vergoldet und die Decke ist mit Stuck verziert. Das Deckengemälde „Der Genius des Ruhmes“ wurde nach dem ursprünglichen Werk rekonstruiert. Leider kann man die Treppe in dem Bücherturm nur im Rahmen einer Führung besteigen.
Foto: (c) Klassik Stiftung Weimar

Im unteren Bereich und auf der Brüstung befinden sich Büsten von Dichtern, Künstlern und Philosophen. Auch hier begegnet mir Johann Wolfgang von Goethe als Büste oder auf Gemälden. 35 Jahre lang leitete er als Bibliothekar die Herzog Anna-Amalia Bibliothek.
Viele Inhalte der alten Bücher geben uns heute einen Einblick in Ideen, Perspektiven und Wissen zur Zeit der Veröffentlichung. Heute haben sie einen großen Wert für Historiker, Sprachwissenschaftler, Literaturwissenschaftler und andere Forschende.
Per App kann man auch einen Blick in bestimmte Werke werfen. Ich würde die Bücher lieber persönlich in die Hand nehmen und aufschlagen.
Der Brandgeruch wurde durch ein bestimmtes Verfahren von den Büchern entfernt. Der prächtige wohltemperierte Rokokosaal wirkt allerdings sehr steril auf mich. Ich vermisse den Geruch von Staub und altem Papier, der mich jedes Mal auf dem Dachboden in dem alten Verlagsarchiv von Vandenhoeck & Ruprecht umgab. Ehrfurcht beschlich mich auch vor den dort lagernden ungebundenen Buchseiten aus dem 18. Jahrhundert, die man damals noch auf Buchmessen einzeln oder in Bögen verkaufte.
Abreise
Mein Rückweg führt mich nun auf den bereits bekannten Straßen zurück zum Bahnhof. Ich hole meinen Koffer aus dem Schließfach. In der Bahnhofseingangshalle ist die Polizei diesmal sehr präsent.
Mein Regionalzug hat nur 5 Minuten Verspätung. Leider ist der Zug noch voller als auf der Hinfahrt und so kann ich nicht allein in einer Reihe mit dem Koffer sitzen. Ein netter junger Mann legt meinen Koffer in die Ablage über mir und verspricht mir, ihn auch wieder in Göttingen herunter zu holen.
Neben mir quetscht eine junge Frau ihren großen Koffer in die Sitzreihe und setzt sich quer auf den Sitz. Eine korpulente Frau um die 40 Jahre bittet sie aufzustehen und ihr den Platz zu überlassen, da sie nicht zwei Stunden stehen könne. Die junge Frau steht auf. Als sich der Zug etwas leert, bittet die junge Frau sie, sich auf einen anderen freien Platz zu setzen. Auch das Pärchen mit den großen Rucksäcken findet einen Sitzplatz. Die Frau saß zuvor auf dem Boden des Ganges.
Trotz der Enge geht hier alles zivilisiert und friedlich zu. Ich muss kurz mit Schaudern an die unmenschlichen Häftlingstransporte in den überfüllten Zügen zum KZ Buchenwald denken.
Am Göttinger Bahnhof fährt mein Bus erst in einer halben Stunde ab. Ein Bekannter bringt jemanden zum Zug. Als er zurückkommt fragt er mich, ob er mich nachhause fahren kann. Da er noch Zeit bis zu seinem nächsten Termin hat, nehme ich dankbar an.
© Copyright Ingeborg Lüdtke
Anmerkung:
Die feierliche Kranzniederlegung fand um 15 Uhr auf dem ehemaligen Appellplatz des Konzentrationslagers Buchenwald statt. Hierbei kam es zu einem Eklat, als eine junge Teilnehmerin bei der Präsentation eines Jugendprojekts auf Englisch von einem „Genozid“ in Palästina sprach. Der letzte Text war mit der Gedenkstätte nicht abgesprochen.
Im Vorfeld wurde auf Grund eines Konflikts zwischen der Botschaft Israels und der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora die geplante Rede des deutsch-israelischen Philosophen Omri Boehm aus dem Programm des Gedenkaktes gestrichen und auf einen anderen Termin verlegt.
Fotos: (c) Ingeborg Lüdtke Fotos //Foto: Anna Amalia Bibliothek (c) Klassik Stiftung Weimar// Fotos in der Weimarhalle (c) Thomas Müller, TSK – Alle Fotos dürfen nicht von Dritten verwendet werden
Text- und Data-Mining: Ich behalte mir eine Nutzung aller Inhalte dieser Webseite für kommerzielles Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.