Einweihung: Gedenkstein an den Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in Göttingen

ehemaliges Polizeigebäude in Göttingen

Am Mittwoch, den 17. Mai 2017 wurde in Göttingen um 14:00 Uhr vor dem Thomas-Buergenthal-Haus (Stadtbibliothek, ehem. Stadt. Polizeigefängnis/Johanniskirchhof)

der Gedenkstein an den Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in Göttingen eingeweiht. Das Denkmal soll an die Göttinger Bürger und des Umlandes erinnern, die aus politischen, weltanschaulichen oder religiösen Gründen Widerstand gegen das NS-Regime geleistet haben. Bei der Enthüllung sprach Petra Broistedt, Dezernentin für Kultur und Soziales, einige einführende Worte. Sie habe befürchtet, dass der Zeitpunkt für die Gedenksteineinweihung ungünstig wäre. Ihre Befürchtung war angesichts der ca.

80-100 Teilnehmer nicht begründet. Petra Broistedt stellte die Frage: „Hätte ich selbst vor [über] 70 Jahren Widerstand geleistet?“ Sie hob die Meinungsfreiheit in einer Demokratie hervor. Auch sei sie der Meinung, dass es heute einfacher sei, Widerstand gegen Ungerechtigkeit zu leisten.

Gedenksteinenthüllung

Stadträtin Petra Broistedt und Dr. Rainer Driever

Gemeinsam mit Axel Fette von der EAM enthüllte die Stadträtin den Gedenkstein. Die EAM hatte die Straßenlaterne am Platz des Denkmals entfernen

und danach eine neue

neben den Gedenkstein setzen lassen. Auf dem 2,20 m hohen schwarzen schwedischen Granitstein ist zu lesen:

„Zum Gedenken an die Menschen, die zwischen 1933 und 1945 trotz aller Bedrohungen mutig Widerstand gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime geleistet haben.

Dieser Gedenkstein steht vor dem Thomas-Buergenthal-Haus. Hier befand sich das städtische Polizeigefängnis, in dem die meisten Göttinger Mitglieder des NS-Widerstands inhaftiert waren.“

Einführungsrede von Dr. Rainer Driever

Der Historiker Dr. Rainer Driever hielt danach die Einführungsrede. Er hatte im Auftrag der Stadt Göttingen 2, 5 Jahre über die Geschichte des Widerstandes in Göttingen geforscht.

Seine Ergebnisse kann man im HIER nachlesen.

In seiner Rede stellte Rainer Driever vier Organisationen vor, die in Göttingen auf unterschiedlichste Weise Widerstand gegen das NS-Regime geleistet haben. Er ging „stellvertretend für die mutigen Männer und Frauen, die sich gegen Hitler und das neue Regime stellten, auf zwei Personen“ näher ein. Diese gehörten zu den „vergessenen Opfern“ der Zeugen Jehovas und der Kommunisten, deren Opfergeschichte erst viel später in den Fokus der Geschichtsaufarbeitung rückte.

Zeugen Jehovas

Die Zeugen Jehovas, damals noch bekannt als „Internationale Vereinigung der ernsten Bibelforscher“, wurden im Juni 1933 verboten. Trotzdem nahmen „in Grone weiterhin etwa 20 Personen an den Zusammenkünften“ teil. Ihre Verweigerung gegenüber dem NS-Regime brachten sie vor allem „durch Verweigerung zum Ausdruck“. Sie traten keinen NS-Organisationen wie z.B. dem Luftschutzbund oder der Volkswohlfahrt bei, sie wählten nicht, leisteten keine Eide auf den Führer und lehnten den Hitlergruß ab. Außerdem verweigerten sie später den Kriegsdienst. „Repression durch Polizei und Arbeitgeber waren die Folge.“

ehemalige Bäckerei

Obwohl die Polizei versuchte die Weitergabe der Zeitschriften „Das goldene Zeitalter“ und des „Wachtturm“ zu unterbinden, zirkulierten diese weiterhin in der Stadt. Mitglieder der Göttinger Zeugen Jehovas verteilten diese Zeitschriften auch nach Einbeck und Hann. Münden. Flugblätter wurden ab 1936 verteilt. Zu den Verteilern gehörten Willy Schmalstieg aus Grone und der Bäckermeister Wilhelm König aus Groß Lengden. Da Wilhelm König ein Auto besaß, führte er Kurierfahrten illegaler Schriften durch. Am 1.4.1937 wurde „er dann in seinem Hause von der Gestapo“ verhaftet. Über drei Jahre war er in verschiedenen Gefängnissen inhaftiert. Er erkrankte in der Haft so schwer, dass er von seinen Mitgefangenen getragen werden musste. Er wurde als haftunfähig entlassen und war noch längere Zeit bettlägerig. In dieser Zeit kämpfte seine Frau Minna um den Erhalt der Bäckerei. Um den Bäckereibetrieb aufrechterhalten zu können, nahmen Minna und Wilhelm König ihren Sohn Gerhardt im Herbst 1944 aus der Schule.

Kommunisten – die KPD Ortsgruppe

ehemaliges KZ Lichtenburg

Ende Februar 1933 waren die KPD-Funktionäre entweder verhaftet oder untergetaucht. Die Verbindung zur Bezirksleitung in Hannover war unterbrochen. Der „Rote Stürmer“ (Wochenzeitschrift der Ortsgruppe) und Flugblätter wurden weiterhin in Göttingen verteilt. Als im Mai die Rotations- und Schreibmaschinen beschlagnahmt wurden, verteilten sie Klebzettel. „Die meisten Mitglieder der Göttinger Gruppe der KPD wurden Ende 1936 inhaftiert und im September 1937 verurteilt.“

ehemaliges KZ Buchenwald

Einer der 1933 verurteilten Kommunisten war Wilhelm Eglinsky. Gemeinsam mit anderen Kommunisten verbreitete er in Nörten Hardenberg die Tarnschrift „Wie wasche ich mit Persil?

Am 6.9.1933 wurde er verhaftet und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Am 22.08.1935 erfolgte seine erneute Verhaftung und die Überführung in das KZ Lichtenburg. Von dort aus kam er in das KZ Buchenwald. Im Februar 1945 glückte ihm die Flucht. Mit ihm befreundete Kommunisten versteckten ihn in Bovenden.

Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK)

Systematisch baute der ISK einen organisierten Widerstand auf. Willi Eichler richtete 1933 ab Ende Dezember 1933 die Emigrationszentrale der Organisation in Paris ein. Der ISK arbeitete im Inland mit Mitgliedern freier Gewerkschaften zusammen und im Ausland mit der Internationalen Transportarbeiter-Förderation (ITF).

In Göttingen waren für den ISK u.a. Fritz Körber, Heinrich Düker, Karl Wagner und Heinrich Oberdiek tätig. Sie führten „Flugblatt-Aktionen zu den Maifeiern 1934 durch.“ Die Flugblätter wurden im Psychologischen Institut gedruckt. Hier wohnte und arbeitete Heinrich Düker. Die ISK´ler  verwendeten einen Koffer, an dessen Boden ein Farbstempel angebracht war. Dort wo der Koffer gestanden hatte, konnte man später lesen „Nieder mit Hitler“.

Aus Gründen der Sicherheit brachte man ab Sommer 1934 nur noch Handzettel an Bäumen, Masten und Schildern an. Im Januar 1936 wurden 14 ISK-Mitglieder verhaftet und 11 von ihnen erhielten mehrjährige Haftstrafen

Eisenbahner Widerstand

Göttingen gehörte zu den 137 Städten, in denen die Gewerkschaft  „Einheitsverband der Eisenbahner Deutschland“ (EdED) tätig war. Der EdED war eine Sektion des ITF und arbeitete eng mit der Internationalen Transportarbeiter-Förderation (ITF) zusammen.

„Ab 1934 leitete der Kommunist Hermann Fraatz diese Organisation für die Orte Göttingen, Seesen, Höxter, Northeim, Kreiensen und Kassel.“  Vom Herbst 1935 bis zu seiner Verhaftung im Januar 1936 übernahm der ISK´ler Oskar Schmitt die Leitung. Danach lag die Leitung wieder bei Herman Fraatz.

Der Widerstand der Eisenbahner lag vor allem im Sammeln von Informationen und im Transport von illegalem Material (u.a. der Schriften des ISK). „Über die Netzwerke der Eisenbahner wurden zudem die einzelnen Widerstandsgruppen mit Geld für ihre Arbeit versorgt.“

Andere Formen des Widerstandes

Kleine Teile der Göttinger Bevölkerung drückten ihren Widerstand in anderer Form aus. Akte des Widerstandes zeigten sich z.B. in der Verweigerung des Hitlergrußes, der Beflaggung, des Hörens von ausländischen Sendern.

Fazit

Es ist gut, dass es in Göttingen einen Gedenkstein nun auch für „die Menschen gibt, die zwischen 1933 und 1945 trotz aller Bedrohungen mutig Widerstand in verschiedenen Formen gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime geleistet haben„. Ein Historiker stellte fest: „Das fehlte noch in Göttingen“.

Gut ist es auch über die eingangs gestellte Frage von der Stadträtin Petra Broistedt nachzudenken: „Hätte ich selbst vor [über] 70 Jahren Widerstand geleistet?“

Wir haben zwar eine Demokratie in Deutschland, aber Demokratien können sich genau wie in Russland (Verbot der Zeugen Jehovas) oder in der Türkei (eingeschränkte Meinungsfreiheit, Verhaftungen von Journalisten) verändern.

Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetztes ist ein wesentlicher Bestandteil des Grundgesetzes, der verhindern soll, dass wieder eine Diktatur mit nur einem Machtinhaber oder ein Polizeistaat entstehen kann. Eine Garantie für den immerwährenden Fortbestand des Grundgesetzes, das als Verfassung dient, gibt es nicht.

Artikel 146 des Grundgesetzes besagt, dass das Grundgesetz seine Gültigkeit verliert, wenn es durch eine vom deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen Verfassung ersetzt würde.

Allerdings hat jeder Bürger des deutschen Volkes gar nicht die Möglichkeit persönlich über die Einsetzung einer neuen Verfassung zu abzustimmen. Er wird von gewählten  Politikern vertreten. Es bleibt immer ein Restrisiko bestehen, dass korrupte  Politiker ihre eigenen Interessen per Gesetz mit einer 2/3 Mehrheit durchsetzen könnten.

© Ingeborg Lüdtke

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Weitere Links:

http://www.goettinger-tageblatt.de/Goettingen/Uebersicht/Gedenkstein-fuer-den-Widerstand-gegen-den-Nationalsozialismus-in-Goettingen

https://www.hna.de/lokales/goettingen/goettingen-ort28741/ein-stein-fuer-widerstand-gegen-nazis-8319599.html

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