Noah Klieger spricht zum 69. Jahrestag der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora

Mittelbau-DoraVor fünf Jahren nahm ich das letzte Mal an der Gedenkfeier zur Befreiung des KZ Mittelbau-Doras bei Nordhausen teil.  Ist das wirklich schon solange her? Anscheinend schon, denn die Autobahn 38 nach Leipzig ist durchgehend befahrbar. Kein zeitaufwändiges Fahren durch die Dörfer. Auch  in Nordhausen hat sich einiges geändert. Der Bahnübergang von Werder auskommend hat eine Unterführung erhalten. Ich habe nun keine Orientierung mehr, wie ich früher zur KZ Gedenkstätte Mittelbau-Dora gefahren bin und folge den Hinweisschildern.  Sie führen mich über einen sehr langen Umweg  an mein Ziel.

 

Gäste

Die Gäste sind mit Großraumtaxen, Busse und Autos angereist. Ein externer Parkplatz Mittelbau-DoraSicherheitsdienst weist die Parkplätze zu. Der gutgelaunte Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes ist wohl der Meinung, ich setze zu schwungvoll zurück.  Er gibt mir eilfertig Zeichen, dass der Abstand in Ordnung sei.

Auch die Polizei ist auf dem Gelände präsent. Heute wird neben der lokalen politischen Prominenz auch Prof. Dr. Thomas Deufel erwartet. Er ist Staatssekretär im Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur.

rekonstruierte BarackeNun gehe ich die Stufen zur rekonstruierten Baracke hinauf. Ein Fernsehsender ist gerade dabei die Kameras auszurichten. In der Eingangstür steht die stellvertretende Gedenkstättenleiterin Dr. Regine Heubaum. Wir kennen uns von dem Interview für mein Hörbuch über das KZ Mittelbau-Dora. Sie bittet mich in den rechten Teil der Baracke zu gehen.

In dem linken Teil der Baracke ist die Bühne aufgebaut und hier sind die Plätze für die Überlebenden und ihrer Begleitung  sowie für die Prominenz reserviert. Auch im rechten Teil sind die Sitzreihen bereits  besetzt. Dahinter gibt es Stehplätze und einige Tische.  Ich ziehe meinem Mantel aus, stelle meine Rucksacktasche auf den Tisch an der Wand und setze mich auf die Tischkante. Ein jüngerer Feuermann beäugt mich etwas misstrauisch. Der Versuchung ihm den Inhalt meines Rucksackes zu zeigen, gebe ich nicht nach. Stattdessen hole ich einen Stift und ein Notizbuch heraus.

Es wird voll in der Baracke. Meine “innere Heizung“ läuft auf vollen Tour. Ich wundere mich, dass der neben mir stehende Mann (ca. 30 J) noch seinen wadenlangen schwarzen Trenchcoat anbehält. Auch  ein Herr (ca. 50) daneben mit angegrauten Haaren und Pferdeschwanz trägt seine dicke dunkelbraune Lederjacke.

Noah Klieger, einer der Überlebenden kommt in unseren Bereich und spricht mit jemandem und entfernt sich wieder. Er geht leicht gebeugt, nicht mehr so dynamisch wie vor 7 Jahren als ich ihn das erste Mal traf. Er ist inzwischen 88 Jahre alt und immer noch als Journalist tätig.

 

Programm

In dem Stimmengewirr ertönt leise Klezmer Musik, die dann lauter und der erste Bestandteil des Veranstaltungsprogramms wird.

Dr. Jens Christian Wagner, der Leiter der KZ Gedenkstätte Mittelbau-Dora [Anm.: bis Herbst 2014], begrüßt die Gäste. Er weist darauf hin, dass der 11. April nur ein symbolischer Jahrestag der Befreiung sei,  da die meisten Häftlinge sich noch am 11. April 1945 in „den Händen ihrer Peiniger befunden hätten und viele auch noch nach dem 11. April ermordet worden seien“.

Anlässlich des 70. Jahrestages der Deportation und  Ermordung der ungarischen Juden sei das diesjährige Leitthema der Gedenkveranstaltung  die  „Geschichte der jüdischen Häftlinge im KZ Mittelbau-Dora“.  Ende Mai 1944 seien ca. 1000 ungarische Juden in Dora und den Lagern Ellrich und Harzungen eingetroffen. Bedingt durch die Räumung der KZ´s Auschwitz und Groß-Rosen sei die Zahl der nach Mittelbau-Dora verschleppten jüdischen Häftlinge auf über 6000 gestiegen.

 

„Vernichtung und Arbeit“

Jens-Christian Wagner stellt die neuveröffentlichte Broschüre der Gedenkstätte mit dem Titel „Vernichtung und Arbeit“  vor.  Er weist daraufhin, dass der Titel auf einen Widerspruch hinweise. Normalerweise sei es nicht üblich die Arbeitskraft, auf die man dringend angewiesen sei, zu vernichten.  In Mittelbau-Dora habe die Arbeit nicht vor der Vernichtung gerettet, sondern getötet.

„Opfer der Zwangsarbeit, des Hungers und der Gewalt“ in Mittelbau-Dora  seien neben den jüdischen Häftlingen auch politische Häftlinge“ aus ganz Europa, “Sinti und Roma, sowjetische und italienische Kriegsgefangene, Wehrmachts-Deserteure, als ‚kriminell‘ oder  ‚asozial‘ verfolgte Menschen, Homosexuelle und Zeugen Jehovas“.

 

„Das Auschwitz-Album. Geschichte eines Transportes ungarischer Juden“

69. GedenkfeierDer Beitrag von Staatssekretär Prof. Dr. Thomas Deufel  vom Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur befasst sich mit der Ausstellung in der Feuerwache. Die Sonderausstellung wird um 13 Uhr eröffnet.  Sie trägt den TitelDas Auschwitz-Album. Geschichte eines Transportes ungarischer Juden.

Thomas Deufel erklärt, dass die ungarische Jüdin Lilly Jacob von ihrer Familie auf der „Rampe“ in Auschwitz brutal getrennt worden sei. Sie habe als einzige aus ihrer Familie überlebt. Lilly Jacob sei kurz vor Kriegsende nach Mittelbau-Dora transportiert worden. Am Tag der Lagerbefreiung habe sie in einer verlassenden SS-Baracke ein Fotoalbum gefunden. Die fast 200 Fotos würden den Ablaufder Selektion, die Registrierung, die Entlausung, der Abnahme der Habseligkeiten und den Weg zu den Gaskammern in Ausschwitz“  dokumentieren. Lilly Jacob habe Fotos von sich selbst und ihrer Familie bei ihrer Ankunft in Auschwitz Birkenau entdeckt. In der Ausstellung hier am Ort werden 35 Fotos aus dem Album gezeigt.

 

Noah Klieger

Die vergangenen sieben Jahre seit unserem Treffen  sind an Noah Klieger zwar nicht ganz spurlos vorübergegangen, aber  seine Stimme ist immer noch sehr kraftvoll. Dies sagt mir auch der neben mir auf dem Tisch sitzende Herr,  als das Funkmikrophon zumNoah Klieger 11.4.2014 Mittelbau Dora 3. Mal ausfällt. Noah Klieger kann man hier hinten auch ohne Mikrophon verstehen. Er erzählt klar, verständlich und flüssig. Seine Worte sind gut gewählt, hin und wieder blitzt sein Humor hervor.

Es ist keine leichte Kost, die die Zuhörer zu hören bekommen. Wir erfahren, wie er in einem offenen Güterwagen mit ca. 150 Mithäftlingen zusammengepfercht nach Mittelbau-Dora transportiert wurde. Die Häftlinge hätten  10 Tage lang weder Essen noch Trinken erhalten. Viele seien auf dem Transport gestorben. Bei seiner Registrierung in Mittelbau-Dora habe er sich als französischer politischer Häftling ausgegeben. Er sei in Straßburg aufgewachsen und spreche daher perfekt Französisch. Er sei sich bewusst, dass dies ihm einige Male, dass Leben gerettet habe.

Als Feinmechaniker für Arbeiten in der unterirdischen Fabrik gesucht wurden, habe er sich gemeldet. Er habe aber überhaupt keine Ahnung von Feinmechanik gehabt. Die SS habe herausfinden wollen, ob die Häftlinge tatsächliche Feinmechaniker seien. Die Häftlinge hätten eine Prüfung ablegen müssen. Wenn herausgekommen wäre, dass er keine Ahnung habe, wäre er gehängt worden. Ein französischer Häftling habe ihm die Lösungen besorgt. Leider habe er sich bei „seinem Engel“ nie bedanken können. Auch bei der 2. Prüfung habe er Hilfe erhalten und sei zum Vorarbeiter im Stollen ernannt worden. Zwei Monate sei er im Stollen gewesen. Das, was er an Grausamkeiten erlebt habe, könne man nicht mit menschlicher Sprache schildern. Dafür gäbe es keine Worte.“ Am  4.4.1945 sei er dann auf den Todesmarsch nach Ravensbrück geschickt worden. Selbst in Ravensbrück habe er noch arbeiten müssen. Ravensbrück sei am 26.4.45 geräumt worden, er habe sich aber geweigert das Lager zu verlassen. Dies sie sein Glück gewesen. Das Lager sei am 29.4.1945 von der Roten Armee befreit worden.

 

Glauben und KZ-Haft

Katharina Friedek und Carl-Lukas Pokoj,  junge Freiwillige an der KZ Gedenkstätte Mittelbau-Dora, stellen die Frage:  „Wie konnte ein Mensch, dem fast alles genommen worden war, was ihn zum Menschen machte, sich selbst retten vor der Selbstaufgabe, vor dem Tod?“

Drei Möglichkeiten als Antwort auf die Frage sind:  1. Der Glaube an Gott durch Gebet und Einhaltung religiöser Feiertage zum Ausdruck gebracht;  2. Das Vertrauen an das Gute im Menschen; 3. In Gedanken in eine andere bessere Welt zu fliehen.

Sie belegen ihre Antworten mit Zitaten von den Überlebenden Jerzy Jasinski, Jean Mialet, Chayim Perl und Primor Levi.

Die  Besucher strömen  in Richtung Gedenkplatz vor dem ehemaligen Krematorium.

 

Schüler wollen keine Gedenkveranstaltung besuchen

Während ich auf Jens-Christian Wagner warte, belausche ich ein Gespräch.  Der Mann, anscheinend ein Lehrer,  erklärt: „ Ich muss jetzt wieder zurück zum Unterricht.  Ich habe meiner  Klasse eine Arbeit aufgegeben.“ Er bedauert auch, dass keiner seiner Schüler und Schülerinnen  ihn zur Gedenkfeier habe begleiten wollen. Ich finde dies sehr schade, da die Gedenkstätte doch offensichtlich ganz in der Nähe der Schule zu sein scheint. Andererseits hat mich das Thema KZ oder NS-Geschichte als Schülerin auch nicht so sehr interessiert.  Allerdings kamen wir im Geschichtsunterricht nur bis zur Machtergreifung Hitlers und niemand kam auf die Idee mit den Schülern zu einer KZ Gedenkstätte zu fahren. Da besuchte man doch lieber eine Kaserne oder das Stahlwerk Salzgitter. Noah Klieger hatte zum Schluss appelliert: „Dann liegt es an Ihnen und Ihren Kindern, dass nicht vergessen wird, was uns von den Deutschen im 3. Reich angetan wurde.“  Hier sind aber auch Gedenkstätten gefordert.  Wie können sie bei den Schülern am besten das Interesse wecken? Sind es neue Formen der Gedenkarbeit wie Theaterstücke und Comic-Werkstätten?

Jens-Christian Wagner kommt nun aus der Baracke.  Ich freue mich ihn, wenigstens kurz persönlich sprechen zu können. Wir hatten uns geeinigt, dass wir es offenlassen, wann und ob wir ein Interview führen. Das Veranstaltungsprogramm ist ziemlich straff und ich habe heute noch einen Termin in Göttingen.

Ich betrete wieder die Baracke. Noah Klieger kommt mir mit seinen Begleitern entgegen. Ich frage ihn, ob ich ihn kurz ansprechen dürfe. Er antwortet schlagfertig. „Sie sprechen ja schon mit mir.“

Ich sage ihm nur kurz, dass wir schon einmal ein Interview geführt hätten und dass ich auch das Hörbuch über das KZ Mittelbau-Dora herausgebracht habe. Auch sei ich wegen ihm zur Veranstaltung gekommen.  An das Hörbuch erinnert er sich anscheinend und er freut sich mich zu sehen. Ob er sich auch an  mich erinnert, weiß ich nicht, aber ich bin überzeugt, dass er ein sehr gutes Gedächtnis hat.

Wie er so vor mir steht, komme ich mir so riesig vor. Ich überrage  ihn sicherlich um einen halben Kopf. Mir war dies vor 7 Jahren gar nicht aufgefallen, aber wir haben das Interview ja auch im Sitzen durchgeführt. Die wirkliche Größe eines Menschen hat ja bekanntlich nichts mit seiner körperlichen Größe zutun. „Das Denken macht die Größe des Menschen aus“, schreibt der französischer Religionsphilosoph und Naturwissenschaftler Blaise Pascal. Das Denken hat Noah Klieger sich nie verbieten lassen.

Jetzt fordere ich noch die Pressemappe am Info-Stand an und gehe hinunter zum eigentlichen Gedenkstättengebäude. Ich erwerbe die neue Broschüre „Vernichtung und Arbeit“.

Ich wundere mich auch hier über das gute Gedächtnis von Jörg Kulbe an der Anmeldung.

 

Rückfahrt und Alibi

Als ich an dem ehemaligen Zugang des Stollens vorbeifahre, sehe ich eine Originalschienen Stolleneingang AVeränderung. Früher war hier alles zugewachsen. Jetzt ist  ein Teilstück alter Schienen zu sehen. Mein Auto stelle ich auf einem Nebenweg ab und überquere die Straße, um Fotos zu machen. Ein weißes Auto fährt  währenddessen die Straße herunter,  wendet und hält am Straßenrand. Der Fahrer droht mir mit dem Zeigefinger. „Aber hier steht doch gar nicht: Betreten des Rasens verboten?“,  denke ich. Der gutgelaunte Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes von heute früh macht mir klar, dass ich „wild“ parken würde. Stimmt, ich vergaß das Schild am Anfang des Geländes. „Ich parke ja nicht, sondern halte nur.“  Nach einigen Worten über die Neugestaltung des alten Waggon Mittelbau-DoraStolleneinganges gehe ich zum Auto. Dort hat man die ehemalige Bahntrasse mit ehemalige SchienenMittelbau-Dorahellem Schotter aufgefüllt. Ich mache noch schnell ein Foto und fahre weiter. Kurz vor dem Verlassen des Geländes sehe ich rechts den Güterwagon auf den Schienen stehen und frage mich, ob er schon immer hier gestanden hat. Um nicht den Sicherheitsdienst erneut auf mich aufmerksam zu machen, halte ich kurz und mache ein Foto aus dem Auto.

Eins ist mir jedenfalls bei  dieser Sicherheitsüberwachung klar: Falls mich jemand befragen sollte, wo ich mich heute früh zwischen 10:30 Uhr und 13 Uhr aufgehalten habe, hätte ich ein fast lückenloses Alibi aufzuweisen.

Auf dem Rückweg fahre ich über die Straße der Opfer des Faschismus zurück. Dieser Weg ist wesentlich kürzer als der ausgeschilderte Weg. Mein Auto freut sich, dass es endlich wieder einmal auf der Autobahn fahren kann und “fliegt“ nur so dahin. So kann ich noch stressfrei meinen zweiten Termin in Göttingen wahrnehmen.

 

© Ingeborg Lüdtke

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