Klassenfoto mit Massenmörder – Das Doppelleben des Artur Wilke

Das Doppelleben des Artur Wilke“ hat Jürgen Gückel seine dokumentarisch-biografische Rekonstruktion im Untertitel genannt. Der frühere SS-Hauptsturmführer hatte nach dem Krieg die Identität seines gefallenen Bruders Walter angenommen, übernahm dann als falscher Onkel auch die Vormundschaft für seine eigenen Kinder aus erster Ehe und lebte bis 1961 als Volksschullehrer unbehelligt in Stederdorf bei Peine. Aufschluss über sein Doppelleben gab erst der Koblenzer NS-Prozess, als Wilke 1963 für die Ermordung von 6.600 Menschen während der NS-Belagerung im weißrussischen Minsk unter Anklage gestellt und verurteilt wurde.

Auf dem Klassenfoto mit seinem ersten Lehrer ist auch Jürgen Gückel abgebildet, der nicht nur die Vergangenheit eines Massenmörders anhand der Prozessakten rekonstruieren wollte. In seinem Buch beschreibt er auch die Situation in den Tötungslagern selbst, die sich dann für ihn auch in ihren unfassbaren Dimensionen darstellte. Wie erbarmungslos die Schließbefehle an der Grube erfolgten und wie Wilke selbst den Opfern die Pistole an den Nacken legte und abdrückte und sich in den Einsatzkommandos bestärkt fühlte, die Weißrussland judenfrei machen würden. Gückel hat diese Szenen fiktionalisiert und die Gedankengänge der Täter imaginiert. Zeugenaussagen belegen die Ereignisse, die sich auch für ihn manchmal der Beschreibung entziehen. In vielen Passagen klingt die Frage an, wie sich die Fakten aus der historischen Distanz überhaupt darstellen lassen auf welchem Wege eine Annäherung möglich ist und welche Erkenntnisse, sich auch für die Nachkriegsgesellschaft ableiten lassen, die davon nichts oder nichts mehr wissen wollte.

Immer wieder pendelt der Zeitchronist zwischen den Jahren und Jahrzehnten und beschreibt das Erinnerungsprofil seines Heimatdorfes. Die Verbrechen Wilkes waren weder während des Prozesses noch später ein Thema, als sich der Massenmörder nach 10 Jahren Haft wieder in Stederdorf niederließ. Gückel hat mit früheren Klassenkameraden Nachbarn und Freunden gesprochen, ob und wie sie diesen Artur Wilke erlebt haben und ob seine Entlarvung in ihnen etwas ausgelöst hat. Auch diese Begegnungen reflektiert Gückel im Gespräch mit sich selbst und konfrontiert sich und die Leser mit der Frage, wie authentisch oder verschwommen sich Erinnerungen überhaupt darstellen und wie glaubhaft sie nach Jahrzehnten sind. Fakt ist allerdings, dass sein Buch „Klassenfoto mit Massenmörder“ eine Zeit widerspiegelt, in der Alt-Nazis in Politik und Verwaltung etabliert waren und das große Schweigen über den Holocaust immer noch anhielt.

 

(c) Tina Fibiger (mit freundlicher Genehmigung)

 

Das Interview mit Jürgen Gückel und Tina Fibiger kann man auf der Webseite des Göttinger Kulturbüros nachhören unter: https://www.kulturbuero-goettingen.de/szenenwechsel/997-oeffentlich/szenenwechsel/8804-klassenfoto-mit-massenmoerder

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Am 19. November 2019  las Jürgen Gückel  im Holbornschen Haus aus seinem Buch „Klassenfoto mit Massenmörder – Das Doppelleben des Artur Wilke“.

Seine Erinnerung an die Verhaftung seines Lehrers direkt aus dem Unterricht ließ ihn nie los. Erst Jahre später erfuhr er, wer Artur Wilke wirklich war: Ein Bigamist und Massenmörder .

Weitere Infos unter: https://www.ns-familien-geschichte.de/veranstaltungen/2019/goettingen-11-2019

Auszüge aus der Lesung wurden im StadtRadio Göttingen und Rundfunk Meissner in Eschwege gesendet.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Buchmesse Frankfurt 2019 oder warum ich mit dem Taxi von Kassel nach Göttingen fuhr

Die Bahn ist relativ pünktlich. Ich sitze in einem Abteil. In Kassel setzen sich fünf Männer zwischen 45 und 60 Jahren dazu. Sie frühstücken gemeinsam. Einer hat Brötchen mitgebracht, der andere Käse, ein anderer Eier. Eine ihrer Frauen hat auch etwas für sie mitgegeben und bittet um Bewertung. Der mir gegenübersitzende Mann hat sogar ein Geschirrhandtuch über seine Jeans gelegt. Zum Frühstück gibt es Kaffee und danach einen Kräuterschnaps. Anscheinend ist alles gut geplant, denn jetzt werden die Skatkarten herausgeholt.

Haben Sie denn keine Bahn-App?

Unterbrochen werden sie nur durch den eintretenden Schaffner. Der Schaffner fragt mich: „Haben Sie auch noch eine andere Bahncard für mich?“ Ich habe die abgelaufene Bahncard mitgenommen. Bei meiner letzten Fahrt im September war sie gerade noch gültig. Nun fragt  der Schaffner, ob ich auch einen Personalausweis dabei habe. Nun den habe ich bei mir. Er ist ganz neu. Vor fünf Jahren wurde mir der Personalausweis in der Frankfurter U-Bahn gestohlen und deshalb habe ich bis vor kurzem immer meinen gültigen Reisepass mitgenommen. Der Schaffner entfernt sich mit der Bahncard und dem Fahrschein. Einer der Männer meint augenzwinkernd: „Nun müssen Sie immer in der Bahn bleiben. Haben Sie denn keine Bahn-App?“ (Ja, warum habe ich eigentlich keine Bahn-App?) Der Schaffner hat nun festgestellt, dass ich eine neue gültige Bahncard besitze und vermerkt dies handschriftlich auf der Fahrkarte.

Der Tag fängt ja schon gut an.

In Frankfurt sind wir relativ pünktlich. Mit der U-Bahn bin ich schnell im Messeturm.

Taschenkontrolle und offene Wendeltreppe

Nach der Ticketkontrolle heißt es, warten in der endlosen Schlange für die Taschenkontrolle. Ein Sicherheitsmitarbeiter schreit mehrfach: „Ohne Taschen rechts“. Niemand geht rechts an der Schlange vorbei. Wer geht schon ohne Tasche auf eine Buchmesse?

Anstandslos komme ich durch die Taschenkontrolle. Um der Menschenmenge zu entkommen entschließe mich rechts zu gehen und laufe außerhalb des Gebäudes Richtung Halle 3 an der riesigen Asterix-Figur vorbei. In der Vorhalle von Halle 3 finde ich keinen Hinweis, wie ich in die Ebene 1 kommen kann und gehe wieder nach draußen. Dort  sehe ich den Hinweis auf Halle 3.1. Es gibt von außen eine breite offene Wendeltreppe aus Stahl mit Gitterstufen. Ich hasse diese offenen Treppen. denn ich bin nicht schwindelfrei. Mutig steige ich Stufe um Stufe nach oben und halte mich am Geländer fest. Eigentlich ist das Treppensteigen kein Problem für mich, da ich zuhause oft mehrfach 50 Treppenstufen rauf und runter steige, ohne mich am Geländer festzuhalten. Als ich endlich auf der Dachterrasse ankomme, sehe ich, dass es auch eine Rolltreppe gibt.

Da ich um 9:45 h den ersten Termin habe, muss ich mich nun etwas beeilen. Am Stand der Dt. Bibelgesellschaft sagt man mir, dass die Kollegin leider wegen einer familiären Angelegenheit nicht kommen konnte und fragt, ob ich mit dem Kollegen von der Lizenzabteilung sprechen möchte. Da ich aber speziell diese Kollegin sprechen will, lehne ich ab.

„blended learning“

In einer der Gänge findet gerade ein Seminar von Ralf Schiering über Online-Kurse statt. Er bietet E-Learning als „blended learning“ an. Ich setze mich dazu. Er verbindet  Präsenzlernen (z.B. in Live-Webinaren) mit einem Online-Kurs, der genau auf die Bedürfnisse der Lernenden zugeschnitten ist.

Autoreninterviews

An dem Stand des  S. Fischer Verlages steht der Krimiautor Klaus Peter Wolf. Am Chrismon Stand wird gerade der „Stern“-Reporter Walter Wüllenweber von Chefredakteurin Ursula Ott zu seiner These „Es geht uns besser, denn je“ befragt.

Beim Deutschlandfunk wird Jan Weiler interviewt. Sein neues Buch ist ein Krimi mit dem Titel „Kühn hat Hunger“. Kommissar Kühn kämpft mit seinem Gewicht  und seiner männlichen Identität. Laut Autor ist das Buch nicht durchgehend heiter.

Während ich kurz in das Interview mit Jan Weiler rein höre, läuft die Regisseurin und Buchautorin Doris Dörrie in einem roten Hosenanzug links an mir in Begleitung einer Frau vorbei. Ein Mann mit Kappe und Spiegelreflexkamera fragt sie: „Haben Sie eine Minute Zeit.“ Ihre Antwort verstehe ich nicht, aber sie geht weiter und der Mann läuft neben ihr.

An einem Stand lese ich den Spruch „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden. An was aber denken die anderen? Und wie frei denken sie?“ Das sind  interessante Fragen. Der erste Satz ist von Rosa Luxemburg. Eine Demokratin war sie trotzdem nicht.

Inzwischen  macht sich meine Unterzuckerung bemerkbar und ich mache außerhalb der Halle Pause in der Nähe der Rolltreppe.

Doris Dörrie und ihre Begleiterin gehen an mir vorbei  zur Rolltreppe.

Wie letztes Jahr werde ich während der Pause das „Opfer“ einer Befragung. Die junge Frau reicht mir ein Tablett für die Beantwortung der Fragen.  Was hat eigentlich mein Musikgeschmack mit der Befragung zur Buchmesse zu tun? Nach der Befragung setzt sich eine ehemalige Kollegin zu mir. Sie ist inzwischen Vertriebsleiterin in einem Musikverlag. Sie äußert den Verdacht, dass man die Buchmesse  und Musikmesse zusammenlegen wolle. Das glaube ich zwar nicht, aber wer weiß das schon?

YouTube, Apps & Co, die neuen Lerncoaches

Meine nächste Station ist Bühne des „Kulturstadions“. Das Thema lautet „YouTube, Apps & Co, die neuen Lerncoaches“. Die Kollegen*innen  aus den Verlagen (Cornelsen, Reclam, Duden, Hueber) wünschen sich von den Schulen eine Guide-Line für Verlage, um Zusatzprodukte entwickeln zu können. Hardware und der passende Content müssten zusammengebracht werden. Schulen hätten das Geld für die Hardware, aber es fehle der Content. Schüler würden ihre eigenen Lernmethode suchen z.B. in dem sie YouTube benutzen. Lehrer täten sich schwer, Schülern Lehrmaterial außerhalb des vorgeschriebenen Unterrichtsmaterials zu empfehlen. Einer der  Verlag böte für die Eltern Vorträge an, die zeigen, wie sie ihre Kinder zuhause unterstützen könnten. Zusatzmaterial solle der Sprache der Schüler angepasst werden. Eine Lernform könnte das Kollaborative Lernen sein. Dies ist eine E-Learning-Technik, bei der ein oder mehrere Schüler und Lehrer gemeinsam lernen, erforschen und teilen.

Zweifel als Alibi

Bis zum nächsten Termin habe ich noch etwas Zeit. Auf dem „blauen Sofa“ der ARD spricht Katty Salié mit dem Benediktinerpater Anselm Grün über sein Buch „Den Zweifel umarmen“. Er erlebt, dass Menschen an sich zweifeln und dass sie kein Selbstvertrauen oder keinen Glaube haben. Für ihn gehört der Zweifel zum Glauben, wenn man den Zweifel verdrängen würde, würde man hart und fundamentalistisch. Würde man den Zweifel umarmen, würde er den Glauben befruchten und ihn zwingen den Glauben zu hinterfragen und immer wieder neu zu erarbeiten. Er selbst stelle sich auch manchmal beim Beten die Frage, ob er sich alles nur vormache oder sich nur selbst beruhige. Aber wenn er sich nur etwas vormache oder selbst beruhigen würde, wem könnte er überhaupt noch trauen? Wenn er den Zweifel zulasse, dann erhalte er das Vertrauen in den Glauben zurück. Durch die Äußerung des Zweifels im Gebet, werde das Gebet wieder lebendig. Der Unterschied zwischen Zweifel und Skepsis sei, dass ein Skeptiker keine Argumente an sich heranlasse und sie von vornherein ablehne. Der Zweifler höre sich die Argumente an und entscheide sich danach. Der Zweifel sei für die Wissenschaft eine wichtige Quelle, um die Wissenschaft durch neue Forschungen voranzubringen. Decartes hätte gesagt, man könne zwar alles anzweifeln, aber es müsse doch etwas geben, worauf er etwas setzen könne. Sein Satz: „Ich denke also bin ich“, würde aussagen, dass es keinen Zweifel  daran gäbe, dass er sei. Es gäbe Menschen, die alles anzweifeln würden, die genau wie die Skeptiker Argumente abwehren und sich auch nicht selbst in Frage stellen wollen. „Der Zweifel ist das Wartezimmer der Erkenntnis“. Dies sei für die Philosophie und Naturwissenschaft gemeint. Nur wenn ein Wissenschaftler zweifle, würde er sich bemühen neue Fortschritte zu machen. Zweifler kämen auch in der Bibel vor z.B. der „ungläubige Thomas“. Sein Zweifel führte zur Erkenntnis und Erfahrung, weil er Jesu Wunden berühren durfte. Positiv sei auch der Zweifel des Nathanaels, der nicht einem Menschen nachlaufen wollte, nur weil andere ihm gesagten, dieser Mensch sei toll. Er wollte Erfahrungen mit Jesus machen. Anselm Grün vertritt die These: „ Wer am Glauben zweifelt, der suche nach tausend Gründen, um nicht zu glauben.“ Wer nicht an Gott glaube, habe berechtigte Zweifel. Gott könne man nicht so beweisen. Man müsse diesen Zweifel ernst nehmen und genau hinschauen, woran der Gesprächspartner zweifeln würde (an die Kirche oder Missstände in der Kirche). Manchmal sei der Zweifel auch nur ein Alibi, um nicht glauben müssen. Ein wirklicher Zweifel ließe auch die Frage zu: „Vielleicht stimmt es aber doch?“ Auch der Zweifel habe keine absolute Gewissheit. Man könne auch am Zweifel zweifeln. Zweifelnde Jugendliche könne man fragen: „Warum wehrst Du Dich so gegen den Glauben. Ist nicht eine tieferliegende Sehnsucht in Dir?“ Es gäbe den philosophischen Grundsatz: „Wenn ich zu viele Gründe suchen muss, habe ich keinen Grund.“ Wenn  man zu viele Gründe gegen den Glauben suchen müsse, hätte man eine Sehnsucht nach Glauben. Sind die genannten Gründe wirklich das, was am Glauben hinderte oder was ist es?  Mit wirklich Suchenden könne man immer reden. Manche würden  den Zweifel benutzen, um sich nicht mit dem Glauben auseinander setzen zu müssen. Der Zweifel würde auch etwas über den Zweifelnden aussagen.

Wie bestellt und nicht abgeholt

Nun habe ich eine Verabredung mit einem Autor am CBJ Stand. Ich bin pünktlich, aber der Autor ist noch nicht in Sicht. Ich setze mich nach einer Weile auf die Sitzstufen vor den Kinderbüchern. Eine Mutter mit zwei kleinen Kindern kommt an den Stand. Das eine Kind greift um mich herum zu den Büchern, die Mutter hilft ihm. Ich rücke weiter, um Platz zu machen. Nun wollen sie dort an die Bücher, wo ich sitze. Der Autor ist immer noch nicht gekommen. Ich sende ihm eine SMS. Keine Reaktion. Nachdem ich 25 Minuten gewartet habe, wird es Zeit zum Workshop „Den perfekten Podcast produzieren“ zu gehen.

Den perfekten Podcast produzieren

Eigentlich hatte ich einen Stand mit einer Leinwand erwartet. Ich sehe aber an dem angegebenen Stand nur relativ wenige Stühle. Diese sind sehr schnell besetzt und es stehen viele. Eigentlich habe ich mir den Workshop anders vorgestellt. Der Anbieter des Workshops ist Wolfgang Tischer. Er ist sehr erstaunt, dass so viele zuhören wollen. Er hat kein Mikrophon und muss sehr laut gegen den Lärm in der Messehalle anreden. Wir sollen alle etwas näher kommen. Die Aussicht nun ein halbe bis dreiviertel Stunde stehen zu müssen, stimmt mich nicht gerade froh. Ein Herr verlässt seinen Sitzplatz. Nur die Höflichkeit verbietet es mir, mich auf den Stuhl zu stürzen. Eine Dame um die 40 Jahre steht vor mir und geht in Richtung Stuhl. Plötzlich dreht sie sich um und fragt, ob ich sitzen möchte. Das ist die Rettung! Ich bedanke mich. Sie setzt sich auf den Fußboden. Vor 20 Jahren hätte ich das auch einfach so gemacht. Ich biete ihr eine Tasche zum drunter legen an. Sie lehnt ab.

Im Wesentlichen werden die angekündigten Themen angesprochen:

  • Überblick über die Podcast-Szene
  • Podcast – ein Marketing-Allheilmittel?
  • So finden Sie Ihr Konzept
  • Mikrofon & Co: Welches Equipment brauchen Sie?
  • Vor allem: Fragen, Frage, Fragen!

Aber so völlig ohne visuelle Hilfsmittel und Mikrophon verdient die Veranstaltung nicht als Workshop bezeichnet zu werden.

Downloadbare Leseproben als neue Nutzungsform

Nun bin ich mit einem Rechtsanwalt von Börsenverein des Deutschen Buchhandels verabredet. Zu meiner Freude klappt dieser Termin. Der Rechtsanwalt hatte netterweise für mich bei der VG Bild nachgefragt, ob man die Nutzungsrechte für eine Leseprobe zum Download über sie einholen könne. Man kann, aber nur für Bilder, bei denen wir auch die Rechte über die VG Bild eingeholt haben. Eine generelle Rechteeinholung für in der Leseprobe zum Download enthaltene Bilder gibt es leider nicht.

Wir führen noch ein nettes Gespräch. Als nächstes steht noch die Fachveranstaltung „Fallen und Tücken im Verlagsvertrag“ für Autoren auf meiner Liste. Leider wurde der Veranstaltungsort in Halle 3.0 verlegt. Da ich inzwischen weiß, welchen Ausgang und welche Rolltreppe ich nehmen muss, ist das kein Problem für mich. An diesem Stand sind auch genügend Hocker vorhanden.

Fallen und Tücken im Verlagsvertrag

Der Rechtsanwalt Tobias Kiwitt legt den Autoren ans Herz, den Vertrag Wort für Wort mit dem Normvertrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zu vergleichen. Ein Vertrag, der besage, dass der Autor Geld bezahlen müsse, solle sofort weggeworfen werden. Denn wenn der Verlag das Geld hätte, wären die Kosten schon gedeckt und es bestände keine Notwendigkeit mehr, etwas mehr als notwendig für das Werk zu tun. Auch solle man darauf achten, dass die „gemeinsamen Vergütungsregeln für Autoren belletristischer Werke“ eingehalten werden.

Der Rechtsanwalt vergisst aber darauf hinzuweisen, dass wissenschaftliche Verlage andere Risiken tragen müssen als ein Belletristik-Vertrag. Bei einem belletristischen Werk ist davon auszugehen, dass fast alle Texte vom Autor stammen und zusätzliche Nutzungsrechte für Fremdtexte oder Fremdbilder nicht eingeholt werden müssen. Auch gelten die Vergütungsregeln nur für Belletristik-Verlage.

Der Rechtanwalt rät den Autoren,  sich auch zu überlegen, welche Nutzungsrechte er dem Verlag überlassen wolle und welche für das Werk wirklich nötig seien.

Es ist interessant wieder einmal die Sicht eines Autors einzunehmen.

Rückweg durch die Halle

Auf dem Rückweg durch die Halle komme ich am Stand der Edition Porsche Museum vorbei. Dieses Jahr ist ein gelber  Porsche 911 Carrera RS 2.7, Baujahr 1972 ausgestellt. Ein Vater mit zwei blonden Mädchen (ca. 9-12 Jahre) schießt fleißig Fotos: Mal stehen die Mädchen vor dem Porsche, mal lugen sie neugierig in das Innere des Autos.

Auch ich mache Fotos. Während ich mein Handy einpacke und weitergehe, höre ich eine Frauenstimme meinen Namen nennen. Es ist eine ehemalige Kollegin, die mit ihrem und meinem ehemaligen Vorgesetzten durch den Gang geht. Nach einem kurzen „Hallo“ gehe ich weiter.

Auf dem Weg zur U-Bahn sehe und höre ich  – wie fast jedes Jahr – den älteren Mann Geige spielen.

Von Kassel nach Göttingen per Taxi

Nachdem der Messetag nicht immer wie geplant verlaufen ist, hoffe ich, dass die Deutsche Bahn wenigstens pünktlich ist und ich innerhalb von zwei Stunden in Göttingen bin.

Mein Wunsch wird leider nicht erfüllt.

Der Zug wurde gestrichen und dafür ein Ersatzzug eingesetzt. Erst heißt es, der Zug würde gleich bis Göttingen durchfahren. Während der Fahrt heißt es, dass Göttingen nicht angefahren werden könne und wir in Kassel Wilhelmshöhe aussteigen müssten und mit der Regionalbahn weiterfahren sollen. Aber niemand von der DB kann uns sagen, in welchen Zug wir bis zum Hauptbahnhof KS einsteigen sollen und wann dann dort der Canto abfahren wird.

Eine ältere Dame schließt sich mir an. Ein mir unbekannter Herr fragt mich, ob ich bereit sei, mir die Taxifahrt nach Göttingen mit ihm zu teilen. Ich sage, dass ich nur 17,- € bei mir hätte. Das wäre kein Problem. Die ältere Dame schließt sich uns an und so bezahlen wir insgesamt 97,- €. Meine Restschuld muss ich nun noch der Dame bezahlen.

Während der Taxifahrt habe ich den Song „Mit einem Taxi nach Paris“ von der Band Felix de Luxe im Ohr. Als ich diesen Satz ausspreche, erzählt der sehr nette und gesprächige Taxifahrer, dass er tatsächlich einmal mit dem Taxi in Paris gewesen sei. Es sei eigentlich ein Krankentransport nach Holland gewesen und dort habe man ihn gefragt, ob er auch weiter nach Paris fahren könne.

Wir erfahren noch einiges aus dem Leben eines Taxifahrers.

Gegen 20 h bin ich dann endlich zuhause.

Prolog

Meine Schulden habe ich bei der netten älteren Dame beglichen. Ich habe nun auch die Bahn-App installiert. Nach einigen Tagen erhalte ich eine Büchersendung von dem Autor, der mich versetzt hat mit einer netten Entschuldigungskarte. Bis um 14 h hatte er ein intensives Gespräch mit seinem ehemaligen Vertriebsleiter und hat mich total vergessen. Auch die Kollegin von der Dt. Bibelgesellschaft hat sich gemeldet und erklärt, aus welchen familiären Gründen sie nicht kommen konnte. Da darf ich gar nicht wegen des Bahnchaos meckern. Alles relativ.

(c) Ingeborg Lüdtke

DEUTSCHE BAHN:

Ich habe ganze € 6,45 von der Bahn zurückerhalten. Die Begründung war, dass der Zug noch unter einer Stunde Verspätung gehabt hätte. Das ist natürlich Blödsinn. Ich hätte frühestens um 19:05 h einen Zug nach Hann. Münden nehmen können und dann hätte dann weiter per Bus 120 fahren müssen. Die Ankunft wäre dann in Göttingen am Bahnhof um 20:25 h gewesen.

Ein Zug zum Kasseler Hauptbahnhof fuhr erst um 19:35 ab KS-Wilhelmshöhe. Dort hätte ich um 19:46 h den Cantus nehmen können und wäre um 20:46 h in Göttingen angekommen.

Wenn man bedenkt, dass ich normalerweis um 18:58 h in Göttingen hätte sein sollen, dann wäre ich bei beiden Varianten über eine Stunde später am Zielort angekommen.

Mit anderen Worten: Rechnen konnte der/die Mitarbeiter*in der Dt. Bahn nicht oder wollte er/sie nicht?

Er/sie wollte es nicht. Da ich mein Veto einlegte, teilte er/sie mir sinngemäß mit, dass ich mehr Geld zurückerhalten hätte, wenn ich mit der Bahn weitergefahren wäre. So hätte ich aber ein anderes Verkehrsmittel benutzt und bis Kassel hätte der Zug keine Stunde Verspätung gehabt.

Man hat sich aber herabgelassen, mir noch € 4,50 für die Platzreservierung zu erstatten.

(c) Ingeborg Lüdtke

Text- und Data-Mining: Ich behalte mir eine Nutzung aller Inhalte dieser Webseite für kommerzielles Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Asterix-Foto: (c) Dina Lüdtke

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Studienreise nach Auschwitz und Krakau (14.5. – 18.5.19)

Dienstag, den 14.5.2019

Wir fliegen von Frankfurt/Main nach Kattowice.

Das Flugzeug hat durch die schlechte Wetterlage bei Nürnberg Verspätung. Aufgrund des Windes in Frankfurt werden nicht alle Startbahnen freigegeben. Statt um 12.40 h fliegen wir gegen 14 h ab.

Kattowice begrüßt uns mit Regen.

Wir übernachten in direkt in der Nähe des Stammlagers Auschwitz. Unsere Unterkunft ist ein „Zentrum für Information, Begegnung, Dialog, …“ und ist entstanden, um für alle Menschen, die betroffen sind von dem, was dort geschehen ist, unabhängig von ihrer religiösen Orientierung, einen Ort zu schaffen, der zu Besinnung, Begegnung, Lernen, und Gebet einlädt. Das Zentrum soll helfen, die Opfer zu ehren und eine Welt des gegenseitigen Respektes, der Versöhnung und des Friedens zu gestalten.“

Ich habe ein Zimmer im Erdgeschoss mit zwei schmalen Betten, ein Badezimmer mit Dusche. Das Waschbecken hat keinen Stöpsel oder Sieb. Ich bin froh, dass ich meine Kontaktlinsen nicht mitgenommen habe. Sie wären auf jeden Fall irgendwann hineingefallen.

Um 17.30 h treffen wir uns im Foyer und gehen zum Stammlager, das ganz in der Nähe liegt. Es regnet.

Auf dem Weg dorthin überqueren wir Schienen. Auf dem Bahnsteig befindet sich auch eine Büste des polnischen Widerstandskämpfers Witold Pilecki und eine Gedenkplatte. Er ging „freiwillig in die Gefangenschaft des KZ Auschwitz.“ Er „organisierte den Widerstand der Insassen aus dem KZ und informierte bereits 1940 die westlichen Alliierten über die Gräueltaten der Nationalsozialisten im Lager.“

Auf dem Vorplatz zum Eingang des ehemaligen Stammlagers „Auschwitz I“ ist es leer. Auf dem Parkplatz steht ein Informationswagen. Gerade fährt ein Kleintransporter ab.

Das Abendessen nehmen wir um 18.30 h ein. Ich bekomme gluten- und laktosefreies Essen. Auf dem Teller befinden sich 6-8 kleine Eierkuchen und drei Scheiben Brot mit Käse belegt. Das ist einfach zu viel. Ich gebe den anderen am Tisch etwas ab.

Um 19.30 h treffen wir uns in der Bibliothek und besprechen Fragen und organisatorische Dinge.

Obwohl ich kaputt und müde bin, schlafe ich schlecht in dem ca. 80 cm breiten Bett. Das Bettgestell hat noch Metallfedern, die beim Umdrehen quietschen. Wenn man bedenkt, dass die Gefangenen [Unsere Gruppe diskutierte darüber, ob man die KZ-Häftlinge, als Häftlinge bezeichnen dürfe, da man diese Bezeichnung mit Verbrechern in Verbindung bringen würde. Deshalb wird hier immer der Begriff „Gefangene“ verwendet.] z.T. auf dem Betonboden auf Stroh schlafen mussten, darf ich gar nicht meckern.

Mittwoch, den 15.5.2019 vormittags

Unsere Gruppe trifft sich um 7.45 h im Foyer, damit wir pünktlich um 8.00 h beim Museum „Auschwitz – Stammlager“ sind.

Der Vorplatz vom ehemaligen Stammlager Auschwitz I und die Eingänge sind voller Menschen. Reiner (unser Reiseleiter) hat die Karten schon online individuell auf unsere Namen bestellt. Wir müssen dem Museumspersonal deshalb passend zum Kartenausdruck unsere Pässe zeigen. Einer aus der Gruppe hat seinen Pass nicht mit. Wir anderen können schon durch den Sicherheitscheck. Taschen und Rucksäcke, die größer als DIN A4 sind, dürfen nicht mitgenommen werden. Nun heißt es warten. Als wir alle anwesend sind, gehen wir durch eine Drehsperre. Draußen regnet es. Über dem Eingangstor lesen wir den zynischen Spruch „Arbeit macht frei“. Das Schild „Arbeit macht frei“ wurde im Dezember 2009 gestohlen und im Norden Polens zerlegt wieder gefunden.

Nach der Eingangsschranke gibt es zwei Stacheldrahtzäune, die durch ca. 1,5 m Schotter abgetrennt sind. In den Stacheldrahtzäunen gibt es ca. alle 2-2,5 m oben gebogene, ca. 2 m hohe Pfähle mit Transformatoren. Das Lager ist rechteckig angelegt, am Ende stehen hölzerne Wachtürme. Nach dem zweiten Stacheldrahtzaun liegt wieder Schotter, der mit kurzen Pfählen abgegrenzt ist. Manche Gefangene liefen freiwillig in den Zaun, um zu sterben. Entweder starben sie durch den elektrischen Zaun oder sie wurden schon vorher durch die Kugel eines Wachsoldaten getötet.

Im sogenannten Stammlager oder Museum stehen gemauerte rote Backsteinhäuser. Einige der Häuser waren früher Bestandteil einer polnischen Kaserne. Die Häuser wurden umgebaut und aufgestockt. Die Wege dazwischen waren mit Schotter belegt, was aber nicht verhinderte, dass es dort sehr matschig war. Wir sehen den Platz, an dem die ehemalige Lagerkapelle spielen musste. Dann stehen wir auf dem ehemaligen Appellplatz. Die Gefangenen mussten bei Wind und Wetter lange Appell stehen, während der SS-Mann geschützt in einem turmartigen Holzhaus sitzen konnte. Gleich vor dem Appellplatz gab es einen Gemeinschaftsgalgen (heute Rekonstruktion). Vor einem Haus liegt eine Steinwalze, mit der die Gefangenen Straßen oder andere Flächen planieren mussten.

Wir folgen Reiner, der uns einige der Gebäude zeigt, in denen der spätere Lagerfotograf Wilhelm Brasse arbeiten musste.

Bis 12.00 Uhr haben wir nun Zeit, uns die Länderausstellungen in den verschiedenen Blocks anzusehen.

Als erstes gehe ich in die Niederländische Ausstellung. Hier wird ein Film in Dauerschleife gezeigt, der beweist, dass die Juden in Waggons geladen wurden. Gerade wird die Tür des Waggons geschlossen.

Es gibt ein Foto von Anne Frank und ihrer Familie. An einer Wand liest man tausende Namen. In der Ausstellung finde ich in einer Vitrine Fotos und Dokumente über die ermordete Zeugin Jehovas Deliana Rademakers. Ein Zitat aus ihrem Brief an ihre Familie zeigt den Hinweis auf Psalm 18. 5. Sie schreibt: „Jehova ist mit uns, was können Menschen uns antun.“ Für sie war Gott auch in Auschwitz.

Die Ungarische Ausstellung ist künstlerisch gestaltet. In einer Ecke liegt auf Kies eine beleuchtete KZ-Häftlingsjacke. Man kann durch einen gläsernen Waggon gehen. Unter dem Glassteg, auf dem man geht, liegen Schienen. Beim Verlassen des Waggons sieht man ein Meer aus elektrischen Kerzen. An den Wänden hängen Fotos von den Tätern und Opfern. Hier finde ich auch ein Foto von Josef Kramer, dem letzten Kommandanten von Bergen-Belsen. Er wurde Ende 1945 in Hameln hingerichtet.

Ein Bild von einer ehemals fülligen jungen Frau schockt mich. Sie ist nach der Befreiung nur noch Haut und Knochen.

Auf dem Gelände lasse ich mich etwas treiben und gehe in Block 5 und 6, aus denen Besucher kommen. Hier kann man auch die unterschiedlichen Winkel für die Häftlingsgruppen sehen.

In den folgenden Räumen liegen jeweils hinter Glas haufenweise Bürsten, Brillen, Koffer mit Namen, Schüsseln und Schuhen. Beim Anblick der in Größe und Art unterschiedlichen Schuhe stelle ich mir vor, wie plötzlich Füße in den Schuhen stecken. Das erinnert mich an Hesekiel 37. 7, 8: „Also prophezeite ich wie befohlen. Und sobald ich prophezeite, war ein Geräusch zu hören, ein Klappern, und die Gebeine fügten sich allmählich aneinander, Knochen an Knochen. 8 Als Nächstes sah ich, wie sie mit Sehnen und Fleisch überzogen wurden und Haut darüber gespannt wurde. Aber es war immer noch kein Atem in ihnen.“

Es regnet noch immer. Vor mir befindet sich eine große Pfütze. Dahinter ist der Stacheldraht mit den Transformatoren vor dem Wachtturm. Auf einem Schild mit Totenkopf steht „Halt Stop“.

Die französische und belgische Ausstellung befindet sich in Block 20. Dies war der Krankenblock. Hier wurden auch Gefangene mit Phenolspritzen getötet.

Um 12 h trifft sich unsere Gruppe zum Mittagessen. Nach dem Mittagessen haben wir noch Zeit genug, uns ein wenig hinzulegen.

Mittwoch, den 15.5.2019 nachmittags

Unsere Führung beginnt um 15.00 h und wir müssen schon um 14.30 h losgehen. Der Besucherstrom ist erschreckend. Besucher aus vielen Ländern. Für einen Moment stelle ich mir eine der vielen Besuchergruppen in KZ-Häftlingskleidung vor.

Diesmal müssen wir keine Pässe vorzeigen. Wir treffen auf die Dame, die uns heute und morgen führen wird. Nach dem wir die Sicherheitskontrolle durchlaufen haben, müssen wir uns je einen Kopfhörer und einen Sender holen.

Wir besichtigen auch wieder Block 5 und 6, in denen ich schon war, aber wegen der vielen Besuchergruppen nicht immer so viel sah. Wir gehen auch in Block 4.

Wir sehen viele Fotos mit ankommenden Transporten, z.B. bei der Rampe. In einer Vitrine liegt eine Aufzählung von Todesopfern der verschiedenen Nationalitäten, die Rudolf Höß für den Nürnberger Prozess angeblich aufgrund von Angaben Eichmanns erstellt hat. Es wären Angaben über größere Aktionen. Er selbst wisse nicht, wie viel Tote es gab.

Auf einem Dokument (K210404) kann man lesen: Anstelle der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten. Die Aktionen sind jedoch lediglich als Ausweichmöglichkeit anzusprechen, doch werden hier bereits jene praktischen Erfahrungen gesammelt, die im Hinblick auf die kommende Endlösung der Judenfrage von wichtiger Bedeutung sind. Im Zug der Endlösung der europäischen Judenfrage kommen rund 11 Millionen Juden in Betracht, die sich wie folgt auf die folgenden Länder verteilen: … (hier folgt dann die Liste).“

Es gibt ein Modell von Krematorium II in Auschwitz-Birkenau, dass den Leidensweg von der Ankunft bis zur Verbrennung zeigt.

Dosen des benutzten Gases sind hinter einer Glaswand aufgehäuft.

In einem der unteren Bereiche finden wir Stehbunker. Auch sehen wir Berge von Haaren, die z.T. von Firmen verwertet wurden z. B. für die Oberfläche von Matratzen oder Filz. (Hier dürfen wir nicht fotografieren.)

Es gibt Bilder der Wertgegenstände, die den Inhaftierten abgenommen wurden und in die Effektenlager „Kanada“  gebracht wurden.

Bilder zeigen vom Hunger gezeichnete Kinder unterschiedlichen Alters.

In einem Gebäude kann man links und rechts sehen, dass die Gefangenen auf dem losen Stroh auf dem Steinboden lagen, auch sieht man an anderer Stelle Strohmatratzen.

Erschießungswand Auschwitz Stammlager

Wir werfen einen Blick auf die wenigen Toiletten und auf die Waschrinnen. Sicherlich war das Waschen gedrängt und menschenunwürdig. Wir sehen Räume mit mehrstöckigen schmalen Holzbetten, dann wieder Räume, die wohl nicht für die normalen Gefangenen gedacht waren. Vermutlich für die Funktionshäftlinge.

Wir stehen vor der Erschießungswand im Hof.

In einem Gebäude sind an den Wänden Zeichnungen von Kindern: Züge, Person mit Koffer, Gleise die zu dem bekanntesten Gebäude von Auschwitz Birkenau führen und ein Galgen, an dem Menschen hängen.

Ein Raum beinhaltet das „Book of Names“, das Buch der Ermordeten. Es ist einige Meter lang und hängt über dem Boden und besteht aus vielen Bänden. Obwohl alles ganz dicht gepresst ist, kann man mit der Hand dazwischen fassen und auf dem engbedruckten Papier Namen lesen.

Wieder draußen gehen wir in den hinteren Bereich des Stammlagers. Es regnet. Hinter einem modernen Eisentor kann man in einiger Entfernung die Villa von Rudolf Höß sehen. Dieser Bereich gehört nicht mehr zum heutigen „Museum“ Auschwitz Stammlager. Heute ist die Villa von unbefangenen Polen bewohnt.

In der Nähe des Eisentors befindet sich ein einzelner Galgen. Hier wurde am 16. April 1947 Rudolf Höß hingerichtet.

Zum Schluss gehen wir in das ehemalige Krematorium, in dem sich auch ein Raum zur Vergasung befand. Zwei Verbrennungsöfen sind noch zu sehen.

Wir sind eine der letzten Gruppen im Lager.

Um 18.30 h gibt es das Abendessen, und um 19.30 h haben wir die Besprechung des ersten Tages.

Donnerstag, den 16.5.2019 morgens

Frühstück 8.00 h. Bis zum Zeitzeugengespräch mit Karol Tendera haben wir noch etwas freie Zeit. Er soll um 10.00 h kommen.

Treffen mit dem Überlebenden Karol Tendera

Karol Tendera ist fast 99 Jahre alt und trägt eine dunkle Brille und einen grauen Anzug. Er war früher einmal Geschäftsführer eines Betriebes. Er hat eine kräftige Stimme. Er reist von Krakau mit Frau und Dolmetscherin an.

Es ist nicht so wie bei den Zeitzeugengesprächen, denen ich bisher beigewohnt habe. Es läuft alles etwas unpersönlicher ab. Auch werden keine Fragen zugelassen.

Bevor Karol Tendera seinen Bericht anfängt, gibt er der Dolmetscherin lange Erklärungen auf Polnisch. Ich habe den Eindruck, dass sie uns nicht alles übersetzt, was er sagt. Auch scheint er sich zu wiederholen.

Karol kam aus Galizien und hat früher mit deutschen Kindern gespielt. Es gab keine Probleme.

Es ist ihm wichtig, das sich Polen und Deutsche als Freunde treffen. Wir sollen dies auch unseren Kindern sagen. Er war drei Jahre im KZ Auschwitz-Birkenau und dreizehn Monate in einem Arbeitslager in Hannover. Insgesamt war er fünf Jahres seines Lebens in Haft. Ab 1939 ging er in Krakau zur Berufsschule. Im März 1940 wurden er und 30 andere Berufsschüler als Zwangsarbeiter abgeholt und ohne bekanntes Ziel nach Hannover gebracht. Sie mussten in den Max Mueller-Hann Flugzeugwerke arbeiten. Sie wurden in Baracken untergebracht. Ihnen wurden die Kennkarten und Pässe abgenommen.

Nach ca. dreizehn Monaten beschloss er, per Zug zu fliehen. Er konnte einige Zeit die Passkontrolle umgehen, aber als es dann kein Ausweichen mehr gab, sagte er, dass er Arbeit suchen würde. Man schickte ihn nach Breslau. Dort blieb er 1,5 Monate und floh dann zu Fuß. Er erhielt Hilfe von Bauern. Er gelangte wieder zu seinem Vater. Nach ihm wurde gefahndet. Trotzdem hat er sich mit verschiedenen Hilfsarbeiten über Wasser gehalten. Als er gerade zur Arbeit in ein Geschäft ging, kam ein Mann in Zivilkleidung aus dem Geschäft und bliebt draußen stehen. Die Dame im Laden sagte Karol, dass jemand nach ihm gefragt hätte. Der Mann in Zivil hörte dies, kam ins Geschäft und nahm ihn fest. Ihm wurde vorgeworfen, er hätte seine Kennkarte gefälscht und unterhielte Kontakt zu einem Priester. Dies stimmte nicht. Er wurde geschlagen und leidet heute noch an einem Gehörschaden. Im Krakauer Gefängnis lernte er zwei Männer kennen, die für ihn später sehr wichtig sein sollten.

Am 2. 2.1942 befand er sich unter den sechzig Gefangenen, die in einem Wagen nach Auschwitz gebracht wurden. Die Fahrt dauerte zwei bis drei Stunden. Die Gefangenen durften nicht sitzen, sondern mussten die ganze Zeit auf einer Eisenplatte knien. Bei ihrer Ankunft konnten viele der älteren Gefangenen nicht mehr aufstehen. Karol und seine Freunde konnten aufstehen. Kaum angekommen wurden sie von SS-Männern mit Gummiknüppeln gescheucht. Sie mussten in die Sauna und sich nackt ausziehen. Ihre Haare wurden geschoren. Das heiße Wasser wurde angestellt. Sie mussten bei -18 nackt nach draußen gehen und konnten sich nicht abtrocknen. Die drei Freunde haben sich gegenseitig massiert, damit sie warm blieben. Dann wurde auf einem Rollwagen Kleidung gebracht. Die Kleidung wurde ihnen zu geworfen. Nicht immer war die passende Kleidung dabei. Mancher hatte z.B. zwei Hosen, aber kein Hemd. Einige Gefangene wurden krank.

Sie kamen auf den Quarantäneblock 8 a. Sie wurden mit den Lagerregeln zur Eingewöhnung vertraut gemacht. Dazu gehörten sinnlose Gymnastikübungen wie Hüpfen, Rollen und Kniebeugen. Die Übungen wurden bei jedem Wetter durchgeführt. Bei Regen war die Kleidung durchnässt. Sie bekamen keine trockene Kleidung und konnten ihre nasse Kleidung auch nicht trocknen.

Der erste Lagerführer Karl Fritzsch begrüßte die Neuzugänge gerne mit: „Ihr seid hier nicht in ein Sanatorium gekommen, sondern in ein deutsches Konzentrationslager, aus denen es keinen anderen Ausgang gibt als durch den Schornstein des Krematoriums. Ein Jude lebt hier eine Woche, die Pfaffen einen Monat, gewöhnliche Häftlinge drei Monate!“

Der Stacheldrahtzaun mit den Transformatoren war elektrisch (380° Volt) geladen, täglich sind Gefangene freiwillig in den Zaun gelaufen.

Karol musste 7 Tage Strafgymnastik machen. Er wurde tätowiert (dies gab es in keinem anderen KZ außer Auschwitz) und bekam die Nummer 1000430.

Er wurde zuerst in das Arbeitskommando zum Ziegeltragen eingeteilt. Die Ziegel mussten in den 4. Stock getragen werden.

Der Blockführer holte einige Gefangene zu Block 28, dem Krankenbau. Hier wurden medizinische Versuche vorgenommen. Sie bekamen eine Spritze der Firma Bayer und wurden einige Tage beobachtet. Sie bekamen ca. 40° Fieber. Wahrscheinlich wurden sie mit Malaria und Typhus angesteckt, damit man ein Gegenmittel finden konnte. Die Ärzte im Bock waren nicht zum Heilen dort, sondern zur Beobachtung. Es gab zwei Pfleger, die Suppe verteilten und beim Aufstehen halfen. Karol hat seitdem Herzprobleme / Herzflimmern (eine OP ist zu riskant).

Angst und Tod waren ständige Begleiter. Zum Beispiel mussten die Gefangenen die Mütze abnehmen, wenn sie auf einen SS-Mann trafen. Grüßte man nicht, kam es vor, dass der SS-Mann so lange auf den Gefangenen einschlug, bis er starb.

Karol Tandera versteht nicht, warum sich intelligente Menschen wie die Offiziere so von Hitler leiten ließen. Sie wurden als Verbrecher geschult. Eine wichtige Rolle habe die Propaganda gespielt.

Ungefähr 15 Gefangene wurden am nächsten Morgen ausgewählt und zur Essensbaracke gebracht. An 80 Gefangenen wurden medizinische Versuche durchgeführt. Karol war einer von ihnen.

Auschwitz-Birkenau

In Birkenau gab es unzählige Baracken, die zum Teil früher Pferdeställe gewesen waren. Hier gab es keine Heizung, kein Wasser, kein WC, nur Dachziegel. Die Holzwolle war dreckig. Es gab Ratten und Läuse.

Er meint, wenn wir heute unter solchen Umständen leben würden, würden Frauen höchstens zwei Wochen überleben. Männer würden etwas länger leben.

Hilfe von Wadek

Karol glaubt nicht an Gott und fragt: „Wo war Gott?“ Er ist der Meinung, dass er sein Leben nur Menschen und Glück verdankt.

Einer der Menschen, die ihm halfen, war sein Freund Wadek. Er half ihm mehrfach: 1942 wollte er sich in den elektrischen Zaun werfen. Wadek hat ihn ermuntert durchzuhalten und sang ein russisches Lied.

Ein anderes Mal hatte Karol Durchfall und bekam im Krankenbau keine Hilfe. Wadek hat für ihn Brot zu Kohle verbrannt. Das hat ihm geholfen.

Tote und Halbtote

Gerhard Palitzsch sei der „Henker von Auschwitz“ gewesen (nicht wörtlich zu verstehen, er hat aber viele Gefangene persönlich ermordet) und hätte Frauen wie Männer auf dem Platz zwischen Block 10 und 11 erschossen. Seine Vorliebe sei es gewesen, dass sich die jüdischen Frauen nackt ausziehen und im Kreis um ihn herumgehen mussten. Er habe in der Mitte gestanden und per Zufall seine Opfer ausgewählt und erschossen. Falls diese noch nicht tot gewesen wären, habe er Fotos oder kleine Filme mit sich und den Sterbenden gemacht. Manchmal habe er die Frauen aber auch lebendig wieder weggeschickt.

Einmal am Tag kam ein großer LKW und holte Tote oder Halbtote ab. Die Leichen haben in Birkenau vor dem Krankenbau im Dreck gelegen. Sie konnten ihnen nicht helfen.

Karol taten die leidenden Frauen leid. Später als Geschäftsführer einer Fabrik habe er sich immer für die Frauen eingesetzt.

Das Krematorium hätte von 7-21 Uhr gearbeitet.

Selektion von Kindern

Arbeitsfähige Kinder wurden selektiert. Die SS spannte ein Seil in Höhe der von ihr bestimmten Mindestgröße. Die Kinder mussten unter dem Seil durchgehen. Wenn sie zu klein waren, wurden sie auf einen Rollwagen geworfen und kamen ins Gas. Einige Kinder sind von dem Rollwagen gesprungen und wieder zu den Eltern gelaufen.

Eltern und Kinder wurden in die Sauna gebracht. Erst kam Wasser, dann Zyklon B. Manchmal atmeten kleine Kinder nicht so viel Gas ein, weil die Mutter sie fest an sich drückte. Sie lebten noch und wurden später getötet.

Frage nach Gott in Auschwitz

Karol Tendera glaubt deshalb nicht mehr an Gott.

Auch Papst Benedikt XVI. habe die Frage nach Gott bei seinem Besuch in Auschwitz gestellt:

„An diesem Ort des Grauens, einer Anhäufung von Verbrechen gegen Gott und den Menschen ohne Parallele in der Geschichte, zu sprechen, ist fast unmöglich – ist besonders schwer und bedrückend für einen Christen, einen Papst, der aus Deutschland kommt. An diesem Ort versagen die Worte, kann eigentlich nur erschüttertes Schweigen stehen. Schweigen, das ein inwendiges Schreien zu Gott ist: Warum hast du geschwiegen? Warum konntest du dies alles dulden? In solchem Schweigen verbeugen wir uns inwendig vor der ungezählten Schar derer, die hier gelitten haben und zu Tode gebracht worden sind; dieses Schweigen wird dann doch zur lauten Bitte um Vergebung und Versöhnung, zu einem Ruf an den lebendigen Gott, dass er solches nie wieder geschehen lasse. …“

Karol ist katholisch und ist in die Religion hineingeboren. Der Priester sagte ihm, dass er der Bevollmächtige Gottes sei und seine Fragen an ihn richten soll. Karol findet dies überholt.

Zurzeit (Mai 2019) läuft auf YouTube eine Dokumentation über Pädophilie in der katholischen Kirche und sorgt in Polen für Aufregung.

Einer (71) aus unserer Gruppe steht auf und weint wie ein kleines Kind, als er von der Dokumentation hört. Er wurde als Kind missbraucht. Unser Reiseleiter berührt beruhigend seinen Arm. Eine aus unserer Gruppe steht auf und nimmt ihn in die Arme.

Hilfe bei Selektion und Mutlosigkeit

Karol hatte selbst bei Selektionen mehrfach Glück, aber einmal wurde auch er nach links zugeteilt. Er lief um die Baracke herum und wurde von Wadek und anderen durch ein Fenster in ihre Baracke gezogen.

Bei einer weiteren Selektion kam er wieder nach Auschwitz I ins Stammlager und bekam Medikamente.

Die Behälter (?) für die Fäkalien mussten von Polen entleert werden. Dabei wurde die Kleidung verschmutzt. Die Kleidung konnte weder gereinigt noch gewechselt werden.

Karol musste schwere Arbeit ausführen und konnte nicht mehr. Er wollte in den Draht laufen und Selbstmord begehen. Er bekam den Rat, er solle in die Küche gehen. Der Verantwortliche war ein Musiker, der Karols Vater kannte. Durch ihn bekam er Arbeit in der Küche.

Räumung vom Stammlager Auschwitz

In Oktober 1944 rückten die Russen näher. Die kräftigsten Gefangenen nahm die SS bei der Räumung des Lagers mit. Er wurde im Konzentrationslager in KZ-Außenlager Leitmeritz (heute Litoměřice in Tschechien) von den Russen befreit.

Anscheinend gab es in Leitmeritz auch noch Appelle. Die Gefangenen bekamen Pellkartoffeln (anscheinend auch Soße) zu essen. Ein SS-Mann fragte: „Habt ihr Hunger“. Sie sagten „Ja“. Daraufhin stieß er die Töpfe um. Die Gefangenen stürzten sich völlig entmenschlicht auf das Essen, das auf dem verdreckten Boden lag.

Karol erhielt Anweisung, sich zu seinem Heimatort zu begeben.

Vergebung und Entschuldigung

Letztes Jahr war auch ein Mann in der Studiengruppe, der sich bei ihm für seine Eltern entschuldigt hat. Sein Vater war ein SS-Mann und auch seine Mutter war auch für das NS-Regime tätig.

Karol kann den damaligen Deutschen nicht vergeben. Den heutigen Deutschen muss er nichts vergeben. Sie trifft keine Schuld.

Ende des Zeitzeugengespräches

So ein richtiges Ende des Zeitzeugengespräches gibt es nicht. Gerne hätte ich am Ende seiner Ausführungen geklatscht, um Achtung und Respekt zum Ausdruck zu bringen. Das ist aber nicht möglich. Es gibt auch keine Möglichkeit, noch Fragen zu stellen. Eine Dame aus der Gruppe geht zu ihm mit einem Buch, in dem ein Beitrag über ihn steht. Sie bittet um ein Autogramm. Ehe wir zum Mittagessen gehen, machen wir ein Gruppenfoto.

Karol Tendera sitzt im Speisesaal weit weg von uns. Er sitzt vorne mit seiner Frau und einer Dame des Zentrums an einem Tisch. Richtig verabschiedet oder bedankt haben wir uns alle nicht von ihm. Vermutlich will er es auch nicht.

(Einige Wochen später erfahren wir, dass sich sein Gesundheitszustand verschlechtert hat und dass es das letzte Zeitzeugengespräch war, für das er zur Verfügung gestanden hat. Karol Tendera ist am 1. Oktober 2019 verstorben.)

Donnerstag, den 16.5.2019 nachmittags

Treffen um 14.30 h im Foyer. Wir werden mit einem Bus bis kurz vor die „alte Judenrampe“ gebracht werden. Der Bus darf nicht dorthin fahren. Wir gehen ein Stück zu Fuß. Ganz in der Nähe der alten Judenrampe sind neue Häuser gebaut worden.

Die Gleise sind vor einigen Jahren wieder freigelegt worden und ein Waggon aus der Zeit steht symbolisch auf den Gleisen. Davor gibt es zwei Gedenksteine mit Originalfotos.

Auschwitz-Birkenau

Wir gehen zuerst auf einem Fußweg Richtung Torhaus, später laufen wir neben den Gleisen. Die Gleise führen durch das Tor. Dieses Torhaus ist eins der „bekanntesten Motive“ von Auschwitz.

Die Dame, die uns gestern geführt hat, erwartet uns vor dem Torhaus. (Irgendwie finde ich keine vernünftige Bezeichnung für ihre Aufgabe. In Auschwitz von einer „Führerin“ zu sprechen, wäre bei der Assoziation zu Hitler pietätslos. Guide oder KZ-Museumsführerin passen auch irgendwie nicht.) Es sind viele Besuchergruppen unterwegs. Pro Tag sollen es 10.000 Besucher sein.

Wir steigen zuerst auf den Turm des Torhauses und haben so einen guten Überblick über das gesamte ehemalige Lager Auschwitz II Birkenau und auf die Umgebung. Vor dem Torhaus außerhalb des Lagers wird gebaut. Die Stadt „wächst“ langsam an das ehemalige Lager heran.

Von oben kann man links noch viele gut erhaltene Baracken sehen. Auf der rechten Seite sind nur eine Reihe ehemaliger Pferdeställe, die man zu Baracken umfunktioniert hatte. Hinter dieser Reihe befinden sich nur Überreste von ehemaligen Baracken. Im Turm gibt es einen Plan des Lagers. Aus dem Fenster sieht man die zweite Rampe mit dem Gleis, das sich dann in drei Gleise verzweigt.

Wir verlassen das Torhaus und gehen rechts über ein Gleis. Der Boden ist festgelaufen. Vom Regen gibt es noch einige Pfützen. Wir gehen durch ein Tor mit dem uns schon bekannten Stacheldrahtzaun mit Transformatoren. Wir betreten einige der Baracken. In der ersten Baracke sehen wir links und rechts Reihen von Etagenbetten aus Holz. Auf der Tafel steht, dass hier ca. 400 Menschen geschlafen haben sollen. Auf einem Foto ist das Chaos abgebildet. Wir sehen Reste von Öfen und Schornsteinen.

In der nächsten Baracke sind drei ca. 50 m lange kniehohe Betonklötze. Jeder Betonklotz hat Löcher, die immer versetzt gegenüber liegen. Sind es ca. 50 Löcher auf jeder Seite? Ich weiß es nicht. Sozusagen Massen-Plumpsklos aus Beton.

Wir gehen nun zu der Rampe. Von hier aus kann man hinter dem Stacheldraht viele Grundrisse von Baracken sehen, bei denen der Schornstein noch vorhanden ist. Ein Stück weiter kann man noch erhaltene Gebäude sehen. Auf den Schienen steht symbolisch ein Waggon aus der damaligen Zeit.

Auf dem Weg zur Rampe erzählt uns die Dame, die uns führt, dass Gefangene an Firmen „verkauft“ wurden. Ich frage nach, was mit dem Verkaufen gemeint sei, die Person oder die Arbeitskraft. Sie versteht meine Frage nicht. Auch unser Reiseleiter sagt, dass die Gefangenen verkauft wurden. Letztendlich war es aber nur die Arbeitskraft, die verkauft wurde, da die Gefangenen im KZ wohnten. Beim Verkaufen von Menschen musste ich sofort an den Sklavenhandel in Afrika , z.B. Ghana, denken.

Wir gehen nun auf dem Weg, den die ankommenden ahnungslosen Juden auch gingen, um in die Gaskammern zu gehen und in Krematorium IV und V verbrannt zu werden. Der Weg hat links und rechts einen Stacheldrahtzaum mit Transformatoren. Hinter den Zäunen sind Grundrisse von Baracken zusehen, bei denen der Schornstein noch vorhanden ist. Der leicht terracottafarbene Weg ist noch der Originalweg. Er ist uneben, plattgetretene Erde, kleine unbearbeitete Steine liegen in unregelmäßigen Ansammlungen darauf. Der Weg ist sehr lang. Es ist windig, kühl, aber trocken.

Auf den Erinnerungstafeln sieht man Fotos von jüdischen Frauen und Kindern, die diesen Weg gehen.

Auf der rechten Seite schon ziemlich am Ende dieses eingezäunten Weges sieht man die ehemalige Kommandantur II. Sie gehört nicht mehr zum „Museumsgelände“ und beherbergt heute eine katholische Pfarrkirche, die außerhalb der Stacheldrahtzäune steht.

Wir erreichen das Tor. Davor sind noch Pfützen vom Vortag. Gleich hinter dem Tor links befinden sich noch die Grundmauern der Krankenstation, in der auch medizinische Versuche durchgeführt wurden.

Wir gehen auf einem geteerten Weg weiter und passieren wieder ein offenes Tor. Hier sieht alles so friedlich und teilweise nach unberührter Natur aus: Wassergräben, Birkengruppen auf der Wiese, dann ein Stück Wald, in dem ein großer Teich liegt. Der friedliche Eindruck täuscht. Hier und in anderen Gewässern soll die Asche der verbrannten Gefangenen hinein geschüttet worden sein.

Gaskammer und Krematorien

Drei Gedenksteine zeigen heimlich aufgenommene Fotos eines Häftlings des Sonderkommandos an der Gaskammer. Ein verschwommenes Foto zeigt nackte Frauen auf dem Weg zur Gaskammer, ein weiteres die Leichenverbrennung nach der Vergasung.

Es sind noch Grundmauern des Krematoriums IV vorhanden. Davor stehen zwei Gedenktafeln. Eine zeigt den Grundriss mit der entsprechenden Erklärung (A = Gaskammern, D = Umkleideraum, F = Verbrennungsöfen, H = Ort [Teich], wo die Asche abgeladen wurde). Mitglieder des Sonderkommandos, das die Toten aus der Gaskammer holen musste, hatten erfahren, dass sie getötet werden sollten. Sie hatten eine Revolte angezettelt und das Krematorium IV in Brand gesteckt: Die SS tötete ca. 450 Aufständische.

An der Stelle von Bunker II (Gaskammer), auch das „weiße Haus“ (ehemaliges Bauernhaus) genannt, befinden sich zwei Gedenktafeln. Wir erfahren, dass auch hier Männer, Frauen und Kinder getötet wurden. Als die Krematorien in Betrieb genommen wurden, wurde Bunker II nicht mehr benutzt. Erst mit Beginn der Judentransporte aus Ungarn im Mai 1944 wird er als Gaskammer reaktiviert.

Rechts am Weg ist eine Absperrung um Grundmauern von einem Haus. Es ist ein weiteres ehemaliges zwangsgeräumtes Bauernhaus, das 1942 zur Gaskammer umfunktioniert wurde. Es wurde auch das „rote Häuschen“ und später Bunker I genannt. Rechts von den Mauerresten stehen vor einer riesigen Wiese vier Gedenksteinen. In polnischer, englischer und hebräischer Sprache lesen wir:

„To the memory oft men, woman, and children who fell victim to the Nazi genocide. Here lies their ashes. May their souls rest in piece.“

Zentral-Sauna Auschwitz-Birkenau

Von Weitem hatten wir das Gebäude der ehemaligen Zentral-Sauna schon gesehen.

„Die Gefangenen wurden hier geduscht. Sie erhielten Kleidung und Schuhe. Nachdem man ihnen die Haare geschoren hatte, wurden die zum ‚Verbleib im Lager vorgesehenen‘ Gefangenen registriert und tätowiert. ‚Jüdische Häftlinge wurden in der Zentralen Sauna durch Lagerärzte einer erneuten Selektion unterzogen und jene, die doch als nicht arbeitsfähig galten, wurden in den Gaskammern ermordet.‘

In den ersten Räumen sehen wir an einer Wand hinter Glas Kleidungstücke, Schuhe und Koffer Verstorbener.

Über Türbalken lesen wir z.B. „Haarschneideraum, Untersuchungsraum, Brausen“. Auf einer Tafel sieht man Gefangene beim Desinfizieren von Kleidung. In einem großen Raum steht am Ende eine große Stellwand voller Fotos von Einzelpersonen, Kindern oder Familien. Auch die Rückwand und dahinterstehende weitere, kürze Stellwände sind voller Fotos.

Durch eine Scheibe kann man in einem anderen Raum eine Lore sehen, die vermutlich für die Asche verwandt wurde.

Vor dem „Sauna-Gebäude“ sehen wir auf dem Boden hinter Glas u.a. Reste von Gabeln, Löffeln, Schaufeln.

Unser Weg führt uns an dem Klärwerk und einem Wachtturm vorbei.

Denkmal

Schon beim Betreten der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau sahen wir einzelne Soldaten, aber wir wussten nicht, ob es polnische Soldaten waren.

Als wir am Denkmal in der Nähe der ehemaligen Gaskammern und Krematorien II und III ankommen, stehen Soldaten und Soldatinnen in Uniform im Kreis auf dem Vorplatz. Jede*r hat die linke Hand an der Hosennaht und die rechte Hand liegt auf der Schulter des/der Nebenmannes/Nebenfrau. Sie singen. Es hört sich sehr traurig an. Es sind israelische Soldat*innen, die einmal in Auschwitz gewesen sein müssen. Auch Zivilisten befinden sich unter ihnen. Einige der Soldatinnen ziehen sich anschließend wieder um.

„Der Text am Denkmal im Vernichtungslager Birkenau, das 1967 auf Initiative des Internationalen Auschwitz Komitees errichtet wurde, lautet:

Dieser Ort sei allezeit ein Aufschrei der Verzweiflung und Mahnung an die Menschheit.

 Hier ermordeten die Nazis über anderthalb Millionen Männer, Frauen und Kinder.

Die meisten waren Juden aus verschiedenen Ländern Europas.

Seit 1988 findet einmal jährlich der Marsch der Lebenden zur Erinnerung an den Holocaust statt“ [Zitat laut https://de.wikipedia.org/wiki/KZ_Auschwitz-Birkenau].

Direkt neben dem Gedenkplatz steht die Ruine der Gaskammer/Krematorium II. Die Nazis hatten im Januar 1945 das Gebäude gesprengt. Wie es früher ausgesehen hat, kann man auf einer Gedenktafel sehen.

Frauenlager und Todesbaracke

Wir kommen in den Bereich des ehemaligen Frauenlagers. Hier gibt es rechterhand viele noch von außen gut erhaltene Gebäude. Linkerhand sieht man die bereits bekannten Grundmauern der Gebäude mit den beiden erhaltenen Schornsteinen. Wir haben auch wieder einen freien Blick auf das Torhaus.

Ein Blick in eine Baracke des Frauenlagers ist recht frustrierend. Es gibt nur wenig Tageslicht. Der Fußboden ist zwar mit Steinen ausgelegt, aber recht uneben. Die Frauen schliefen auf Holzbrettern in ca. 1, 50 m breiten doppelstöckigen Kojen, die links und rechts durch Mauerwerk abgegrenzt waren. Im ersten Gang rechts sehen wir links und rechts solche doppelstöckigen Kojen. Am Ende ist ein Waschraum mit mehreren Waschrinnen, die an Pferdetränken erinnern. In einem anderen Raum gibt es wenige freistehende Plumpsklos. Einen privaten Bereich gab es nicht.

Die Baracke für die Kinder und Mütter sieht ähnlich aus. Hier gibt es an den Wänden Zeichnungen für die Kinder, z. B. ist ein Kind mit einem Schulranzen abgebildet. Ich versuche in Gedanken den Raum mit Frauen und Kindern zu füllen, aber es gelingt nicht.

Wirkten diese Baracken schon frustrierend auf uns, so war die „Todesbaracke“ noch niederschmetternder. Der Fußboden besteht aus der blanken unebenen Erde. Hier wurden die nicht mehr arbeitsfähigen Frauen untergebracht, bevor sie vergast wurden.

Eine der Frauen, die in die Todesbaracke kam, war Erna de Vries. Sie verbrachte die Nacht zusammengekauert unter einer Pritsche hockend auf dem Fußboden. Am nächsten Morgen nahm sie am Appell teil und befand sich unter den Frauen, die auf einen Lastwagen getrieben wurden und dann vergast werden sollten. Sie wurde von den schreienden Frauen umgerannt. Sie trampelten über sie hinweg. Sie war zu schwach, um aufzustehen. Sie wünschte sich, noch einmal die Sonne zu sehen. Dies war ihr auch für einen Augenblick möglich. Plötzlich rief ein SS-Mann ihre Nummer auf. Sie raffte sich auf und ging zu ihm hin. Nach dem Vergleich mit der Häftlingsnummer auf ihrem Arm schob er sie in die Todesbaracke zurück. Erna de Vries war Halbjüdin, und laut einem neuen Erlass sollten „Halbjuden“ in der Rüstungsindustrie eingesetzt werden. Sie kam ins KZ Ravensbrück und überlebte.

Als wir wieder aus der Todesbaracke herauskommen, liegt vor uns der vom Vortag reich getränkte matschige Boden mit Blick auf einen Wachtturm mit dem anschließenden Stacheldrahtzaun mit den Transformatoren und dem Torhaus. Hinter dem Zaun befindet sich heute ein Parkplatz.

Hier verabschieden und bedanken wir uns von und bei der uns führenden Dame.

Weiterer Verlauf des Tages

Wir haben heute Nachmittag ca. 10 km zu Fuß zurückgelegt.

Wir sind jedenfalls froh, dass uns der Bus abholt und wir nicht noch über drei km zur Unterkunft laufen müssen. Da wir mit dem kleinen Bus fahren, haben die großen Männer Probleme, ihre Beine unterzubringen. Sie sind aber der Meinung, dass sie froh sein könnten, dass sie bei der Fahrt nicht auf Metall knien müssten, wie heute früh von Karol Tendera erzählt.

Das Abendessen erhalten wir um 19:30 h. Im Anschluss treffen wir uns auf Wunsch der Gruppe in der Bibliothek mit einem deutschen Pfarrer, der seit ca. dreißig Jahren am Rande der KZ Gedenkstätte Auschwitz lebt.

Wo war Gott?“

Die Gruppenteilnehmer würden gerne von dem Pfarrer die Frage beantwortet haben: „Wo war Gott?“ Die Frage könne er nicht beantworten, aber er stimme zu, dass die Zehn Gebote nicht eingehalten wurden. Man müsse aber von Gott weg und an die Menschen denken. Man könne nicht Gott die Verantwortung geben. Auschwitz hätte mit kleinen Schritten begonnen. Sowohl deutsche Gefangene als auch kleine Leute hätten geholfen. Hitler sei demokratisch an die Macht gekommen. Warum hat die Bevölkerung mitgemacht? Christus sei da, aber in dem Sinne, dass er uns nicht verlässt. Gott sei da gewesen, aber habe nicht die Verantwortung abgenommen. Hitler habe gesagt: „ Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“ Der Pfarrer erklärt nun das Entstehen der Nazi-Ideologie: Die schwarze Uniform stehe für die schwarze Erde. Weihnachten sei durch das Julfest ersetzt worden. Die Rassenlehre habe Ordnung in die Welt gebracht, die Entmischung des deutschen Blutes. Der Gott des Judentums sei entfremdet, also unsichtbar. Die Vergasung habe mit der Vergasung deutscher Behinderter begonnen (ab 1939). Die Gasexperten hätten in Hadamar gesessen.

Die Antwort ist nicht für alle befriedigend.

Ich muss an eine Veranstaltung mit Horst Schmidt denken, der kurz vor seiner geplanten Hinrichtung im Zuchthaus Brandenburg von der roten Armee befreit wurde. Er sagte: „… aber Sie werden jetzt fragen: ‚Wo ist denn Ihr Gott? Wo ist denn Ihr Gott damals gewesen, als Sie dies erlebt haben?‘ Ich kann Ihnen antworten: ‚Gott war da!‘ Er war mit denen gewesen, die versuchten nach ihrem Glauben zu leben.“

Freitag, den 17.5.2019

Frühstück 8.00 h. Abfahrt nach Krakau per Bus um 9.00 h. Die Sonne scheint.

Fahrt nach Krakau

Als wir in Krakau ankommen, gehen wir erst einmal gemeinsam auf den Hügel mit der Burg Wawel. Sie war die Residenz der polnischen Könige. In den kommenden tausend Jahren immer wieder erneuert, erweitert und im jeweils aktuellen Baustil modernisiert.

Bis zur Führung im jüdischen Viertel haben wir Zeit zur freien Verfügung. Jeder macht das, was er möchte. Mir steht nicht der Sinn nach der Besichtigung eines Museums. Ich beschließe, allein durch die Altstadt zu gehen und gehe zu den Tuchhallen.

Tuchhallen

In den Tuchhallen werden hauptsächlich Produkte aus Bernstein und andere Souvenirs verkauft. Ich kaufe nichts. Vor den Tuchhallen stehen Pferdekutschen, mit denen sich viele durch die Stadt fahren lassen. Auf dem Hauptmarkt vor den Tuchhallen steht die mittelalterliche Marienkirche mit ihren zwei ungleichen Türmen. Stündlich ertönt vom höheren der beiden Türme das Spiel eines Trompeters. Der Trompeter spielt das sogenannte Krakauer Trompetensignal „Hejnał“  in alle vier Himmelsrichtungen bis es plötzlich abbricht.

Florianstor und Barbakan

Nun begebe ich mich in Richtung Florianstor, das einen hohen Turm besitzt. In dem Torbogen spielt eine junge Frau Geige. Es hört sich gut an. Hinter dem Tor liegt der Barbakan .

Er erinnert an das Holstentor in Lübeck. Links und rechts sind niedrige Mauern. Ich setze mich auf die rechte Seite und esse und trinke etwas. Sofort sind die Tauben da.

Da ich gelesen habe, dass man auch in den oberen Bereich der Tuchhallen gehen kann, gehe ich zurück.

Während ich mich suchend bei den Tuchhallen nach einer offiziellen Tür für den Aufstieg umsehe, ruft jemand laut meinen Namen. Einige aus unserer Gruppe sitzen vor den Tuchhallen an einem Tisch. Sie fordern mich auf, mich zu ihnen zu setzen. Während wir dort sitzen, kommen norwegische Studenten in Anzügen und die Studentinnen in der Landestracht im Rudel auf den Platz. Sie werden von Marschmusik begleitet, singen und skandieren. Sie bleiben vor einem Gebäude stehen. Auf einem Balkon ist eine Gruppe von Menschen zu sehen, die neben einer Pappfigur von König Harald von Norwegen stehen und winken.

Die anderen aus meiner Gruppe wollen noch zum Barbakan. Ich mache mich auf den Weg zum Treffpunkt für die Stadtführung im jüdischen Viertel. Die Straße zieht sich in die Länge, aber es gibt nichts Schönes zu sehen. Es dauert eine Weile, bis ich ankomme. Ich sehe mich suchend nach dem Lokal „Ariel“ um. Wieder ruft jemand meinen Namen und winkt. Die anderen, die noch zum Barbakan gegangen waren, sind schon vor mir da. Irgendwie komme ich mir vor, wie bei dem Rennen mit Hase und Igel: „Ich bin schon da.“ Da sie mit einem der offenen Elektroautos gefahren sind, ist es kein Wunder, dass sie vor mir da sind. Ich bin nicht die Letzte.

Jüdisches Viertel

Als unsere Stadtführerin die Tour im ehemaligen jüdischen Viertel Kazimierz beginnt, fallen die ersten Regentropfen und es regnet dann eine ganze Weile. Diesmal haben wir keine Kopfhörer und es ist nicht so einfach, das Zuhören, Fotografieren und das Tragen des Regenschirmes auf die Reihe zu bringen.

Früher war Kazimierz eine eigene Stadt (1335-1791). Im 19. Jahrhundert lebten hier nur Juden. Es entstand eine eigene Kultur mit eigenem Flair. In der Zeit zwischen 1941-1943 wurde fast die gesamte jüdische Bevölkerung ermordet.

Wir sehen einige der sanierten Synagogen. Das nach dem Krieg heruntergekommene Viertel wurde „wiederbelebt“, als Steven Spielberg Teile seines Films „Schindlers Liste“ hier drehte.

Wir stehen an Drehorten zum Film „Schindlers Liste“. Es sind aber nicht die Originalplätze der Orte, die sie darstellen sollen. An den Wänden sind Fotos aus dem Film zu sehen.

Wir gehen weiter zum Geburtshaus der Kosmetik-Milliardärin Helena Rubinstein in der Szeroka-Straße. Sie wanderte nach Australien aus und hat dort eine Marktlücke entdeckt. Die Frauen hätten alle so eine raue Haut gehabt. Die Creme, die sie anfangs verkaufte, gab es schon. Sie hat sie nicht selbst zusammengestellt.

Nachdem wir eine lange, große Brücke mit Liebesschlössern überquert haben, erreichen wir den Deportationsplatz mit den vielen „großen“ Stühlen [Denkmal für die hier wartenden Menschen], die über den Platz verteilt sind. Jeder Stuhl steht für 1000 Opfer.

Hier steht auch die Apotheke „Zum Adler“, die im „Krakauer Ghetto“ lag. Der arische Apotheker Tadeusz Pankiewicz half den Ghettobewohnern, wo es ging.

Die Stadtführerin möchte noch zur Ghettomauer und zur ehemaligen Schindlerfabrik gehen. Hin und zurück wären das noch vierzig Minuten. Da ich inzwischen zwei Wasserblasen habe, schließe ich mich denjenigen an, die schon zurück zum „Ariel“ gehen. Wie ich später erfahre, kann man von der Ghettomauer nur Fragmente sehen. Zur Besichtigung der Schindlerfabrik ist es zu spät. Außerdem ist nur das Gebäude erhalten, und innen in dem Museum gibt wenig Hinweise auf Schindler. Insofern haben wir nicht wirklich etwas verpasst.

Nach einer Weile kommen die anderen auch schon zum „Ariel“ und wir gehen hinein.

In dem Film „Schindlers Liste“ feiert Oskar Schindler (Liam Neeson) im „Ariel“ ein rauschendes Fest mit den örtlichen Nazi-Funktionären.

Unser Abend soll bei koscherem Essen und Live-Kleszmer-Musik ausklingen. Ich esse Fisch mit Pommes.

Dann kommen die Musiker. Obwohl die Klarinette-Spielerin sehr erkältet ist, spielt sie sehr gut. Die Musiker spielen nicht die üblichen Lieder, die wir bereits heute Nachmittag gehört haben. Sie spielen mehr Impro.

Der Bus holt uns um 22.00 h beim Lokal ab. Um 23:30 h sind wir in der Unterkunft.

Samstag, den 18.5.2019

Frühstück gibt es um 8:00 h. Bis um 9.30 h sollen wir ausgecheckt und die Zimmer geräumt haben. Die Koffer kommen alle in einen separaten abgeschlossenen Raum.

Besichtigung der Stadt Stadt Auschwitz/Oswiecim

Die Sonne scheint.

Um 9.45 h treffen wir uns mit der Aachenerin Alina Hӧtel. Sie absolviert gerade ihren Freiwilligendienst in Oświęcim. Ein Bus bringt uns in die Stadt Auschwitz/Oswiecim.

Alina (19) erzählt uns etwas über die die Geschichte der Stadt und der jüdischen Bürger.

Alina zeigt uns die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Viele davon sind heute auf dem Markplatz von den Marktständen verdeckt.

Auf dem Marktplatz gibt es u.a. Stellwände mit Plakaten für den Frieden. Auf einem Plakat sind lauter schwarze Panzer in kindlicher Form zu sehen. Dazwischen eine pinkfarbene Ente auf Rollen.

In der Synagoge sehen wir einen Leuchter, Gebetstücher, einen Gebetsschrank, eine Mischna und eine Mesusa . Es befindet sich dort auch ein Gedenkstein auf dem groß JHWH (Tetragramm für den Gottesnamen)  in hebräischen Buchstaben steht. Leider kann ich nichts über den weiteren Text erfahren.

In einem der Räume des Jewish Center werden auch Dokumente über die Verfolgungsgeschichte ausgestellt. Wir sehen u.a. ein Bild von zwei Freundinnen. Die eine ist eine Jüdin, die andere arisch. Sie werden getrennt. Die Jüdin stirbt. Ihre Freundin bringt später das Bild und Dokumente hierher.

Auch sehen wir eine Karte eines Lehrers an seine überlebende Schülerin, in der er seine Freude zum Ausdruck bringt, dass sie noch am Leben ist. Er hat jüdischen Kindern heimlich im Keller Unterricht erteilt, obwohl es verboten war. Er wurde verraten.

In einem andern Raum befindet sich eine Mediashow: Wenn man auf eines der Bilder drückt, folgen andere Fotos, oder man kann Videos oder Tondokumente hören.

Abschlussgespräch

Unsere Führung geht bis 12.00 h und um 12.30 h erhalten wir zum letzten Mal ein Mittagessen im „Zentrum für Information, Begegnung, Dialog …“.

Danach haben wir noch das Abschlussgespräch, und wir müssen noch unsere Bewertungsbögen für den Bildungsträger ausfüllen.

Ich sage, dass ich mir Auschwitz nicht so groß vorgestellt habe und nachts von Schienen geträumt hätte.

Mir sei heute früh in der Stadt Auschwitz noch einmal klar geworden, dass man schon in der Schule damit anfangen müsse, Kinder mit einer anderen Religion als Menschen wahrzunehmen, egal ob einem die Religion passt oder nicht.

Bernadette, die Lebensgefährtin unseres Reiseleiters, singt das Lied, dass in der Ausstellung für die Sinti und Roma als Hintergrundmusik gespielt wird. Sie ist sehr ergriffen und es kostet sie viel Kraft. Für uns ist dies noch einmal ein würdiger Abschluss unserer Auschwitz-Studienfahrt.

Wir holen die Koffer um 15.10 h aus dem Gepäckraum. Diesmal fahren wir nur mit dem Kleinbus zum Flughafen. Die Koffer werden im Anhänger verstaut.

Unser Flug wird wegen der Wetterverhältnisse um zwanzig Minuten verschoben. Der Flug verläuft ohne Zwischenfälle und wir sind dann ca. 20.00 h bei der Gepäckausgabe. Da ich unbedingt meinen Zug um 21:14 h erreichen muss, um noch heute zuhause anzukommen, verabschiede ich mich auch schon einmal.

Mein Zug kommt pünktlich und es ist von Vorteil, dass ich einen Platz reserviert habe. Der Zug fährt durch bis Göttingen. So bin ich sehr froh, dass mein Zug um 23.05 h in Göttingen eintrifft. Um ca. 23.30 h bin ich dann zuhause. Kurz, nachdem ich aus dem Taxi aussteige, schießt jemand mehrere Böller ab. Na ja, eine solche Begrüßung wäre gar nicht nötig gewesen …

Fazit

KZ-Gedenkstätten wie Buchenwald, Mittelbau-Dora, Sachsenhausen, Ravensbrück, Bergen-Belsen, Dachau und Moringen hatte ich schon früher besucht. Durch viele Veranstaltungen über Opfer und Täter und persönliche Zeitzeugengespräche begegnete mir immer wieder ein ähnliches Muster der Gräueltaten im Nationalsozialismus. Immer wieder frage ich mich: „Wie konnten die Täter gegenüber den Opfern so abgebrüht werden, aber gleichzeitig liebevolle Männer und Väter sein?“

Allerdings habe ich beim Lesen von Lebensberichten der Überlebenden auch eine gewisse Abstumpfung der Gefühle gegenüber ihren Mitgefangenen festgestellt, je nachdem, in welchen Arbeitsbereichen sie eingesetzt wurden. Es ging teilweise nur noch ums eigene Überleben. Trotzdem gab es auch viele Hilfeleistungen unter den Gefangenen aus den unterschiedlichsten Motiven heraus: ohne Eigennutz, Idealismus oder durch einen gewinnbringenden Tauschhandel im KZ.

Am Ende bleibt immer die Frage: „Was hätte ich eigentlich getan?“

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Weiterführende Webseiten:

http://auschwitz.org/en/

https://de.wikipedia.org/wiki/Staatliches_Museum_Auschwitz-Birkenau

Weiterführende Literatur:

Auschwitz : Nationalsozialistisches Vernichtungslager, Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau (1997)

Rudolf Vrba, Ich kann nicht vergeben: Meine Flucht aus Auschwitz, Schöffling; Auflage: 2 (24. August 2010)

Reiner Engelmann, Der Fotograf von Auschwitz

https://www.randomhouse.de/Buch/Der-Fotograf-von-Auschwitz/Reiner-Engelmann/cbj-Kinderbuecher/e454805.rhd

Reiner Engelmann

Wir haben das KZ überlebt – Zeitzeugen berichten

https://www.randomhouse.de/ebook/Wir-haben-das-KZ-ueberlebt-Zeitzeugen-berichten/Reiner-Engelmann/cbj-Kinderbuecher/e477475.rhd

Rudolf Höß, Martin Broszat (Hrsg.)

Kommandant in Auschwitz – Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß

https://www.dtv.de/buch/rudolf-hoess-martin-broszat-kommandant-in-auschwitz-30127/

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Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus würdigen (20.7.19)

In dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD wird gefordert Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu würdigen

Unter Punkt III heißt es:

  1. ein Projekt der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand zur weiteren Erforschung des Themas „Widerstand von Frauen im Nationalsozialismus“, insbesondere zur Erfassung bisher unbekannten widerständigen Verhaltens von Frauen zu fördern sowie die Umsetzung der Ergebnisse der Forschung in eine Wanderausstellung und in eine digitale Präsentation mit zu unterstützen;
  2. beginnend mit dem Ausgabejahr 2024 zum 80. Jahrestag des 20. Juli 1944 eine Sonderpostwertzeichenserie „Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ aufzulegen;
  3. anzuregen, dass sich der Geschichtswettbewerb für Schüler und Schülerinnen des Bundespräsidenten mit dem Thema „Widerstand von Frauen gegen den Nationalsozialismus“ befasst;
  4. die pädagogische Vermittlungsarbeit der NS-Gedenkstätten, insbesondere an den Orten der einstigen Frauen-Konzentrationslager Moringen, Lichtenburg und Ravensbrück weiter zu stärken.

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Das StadtRadio Göttingen hat sich das Thema Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus bereits seit 20 Jahren auf die Fahne geschrieben.

Texte zu den Radiosendungen kann man hier lesen:

 

Frauen KZ Moringen Teil 1 https://www.radio-uebrigens.de/?p=253

Frauen KZ Moringen Teil 2 https://www.radio-uebrigens.de/?p=250

Frauen gegen Hitler (Interview Martha Schad) https://www.radio-uebrigens.de/?p=182

„Wir standen nicht abseits“ – Frauen im Widerstand gegen Hitler (Interview mit Dr. Frauke Geyken) https://www.radio-uebrigens.de/?p=2209

„Weil ich nicht ‚Heil Hitler‘ sagte“ (Erna Ludolph) https://www.radio-uebrigens.de/?p=329

Hannah Vogt https://www.radio-uebrigens.de/?p=175

Charlotte Tetzner https://www.radio-uebrigens.de/?p=127

Hermine Schmidt https://www.radio-uebrigens.de/?p=66

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Wozu noch Zeitungen?

ZeitungDr. Ulrich Kurzer, Geschäftsführer beim StadtRadio Göttiingen, machte mich auf die Reihe zum Lokaljournalismus in der DLF-Sendung @mediasres aufmerksam:
https://www.deutschlandfunk.de/neues-von-nebenan-lokaljournalismus-mit-zukunft.2907.de.html?dram:article_id=448198. Ebenso  erhielt ich von ihm  einen Hinweis auf eine Sendung von Rainer Link im Deutschlandfunk. Die Sendung wurde als DLF-Kultur das Feature am 7. Mai 2019 um 19:30 Uhr ausgestrahlt. Das Thema der Sendung lautet: „Printmedien und Digitalisierung. Mit Strategie gegen die Zeitungskrise“.

Diese Sendung erinnerte mich an meine erste Rezension, die ich im Frühjahr 2009 über das Buch „Wozu noch Zeitungen? Wie das Internet die Presse revolutioniert“ schrieb. Das Buch wurde von Leif Kramp, Hans-Jürgen Jakobs und Stephan A. Weichert im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht herausgegeben.

Wir haben damals noch leidenschaftlich diskutiert, ob ich als Verlagsmitarbeiterin eines unserer Bücher rezensieren dürfe. Nun ich durfte, aber nur in Kurzform.

Durch die Rezension hatte ich keinerlei persönliche oder finanzielle Vorteile. Mich hat einfach das Thema interessiert. Dadurch fiel die eigentliche Rezension wesentlich ausführlicher aus.

Es ist interessant die Befürchtungen und Überlegungen vor 10 Jahren mit der heutigen Situation zu vergleichen:

Als ich vor einigen Wochen in der Bahn nach Bergisch Gladbach saß, lag eine Ausgabe einer großen deutschen Zeitung besitzerlos und unordentlich zusammengefaltet auf dem Tisch. Ich falte meine eigene Tageszeitung auseinander und muss aufpassen, dass ich meinen Mitreisenden nicht behindere. Der Wunsch nach einer kleinformatigen Zeitung steigt in mir auf.
Oder wäre ein Laptop mit der Online-Zeitung die bessere Lösung?
Auf der Rückfahrt sitzt ein Jugendlicher mit einem Laptop neben mir und ein Herr mit einem ebensolchen mir gegenüber. Auch alles recht sperrig und ein schnelles Zusammenpacken ist sicherlich nicht möglich. Dies kann dann also auch nicht die bahnfreundlichere Form des Zeitungslesens sein. Wäre es denn jetzt nicht viel schöner, die Zeitung auf dem Handy oder dem BlackBerry zu lesen?
Behindern würde ich damit niemanden, aber wenn man so jenseits der 50 (J) ist, dann verlangen die Augen nach einer Lesebrille und Großbuchstaben. Das wiederum erhöht auch nicht gerade den Genuss, die Zeitung elektronisch zu lesen

Werden Zeitungen als Printausgabe überhaupt noch gebraucht?

Kommentare aus Zeitungsartikeln kann man heutzutage doch schon im Radio hören. Klasse wäre jetzt ein iPod mit Radiofunktion. Neidvoll sehe ich auf den jungen Mann auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges. Musik tönt aus seinen Kopfhörern. Bumm, bumm. Das wiederum bringt den ihm gegenüber sitzenden Fahrgast auf den Plan: „Können Sie Ihr Gerät leiser stellen?“.
Ich widme mich nun wieder meinem Nachrichtenmagazin in handlicher DIN A4 Größe.

Als das Buch „Wozu noch Zeitungen?“ von Stephan Weichert u.a. erschien, war mir klar: Das muss ich unbedingt lesen. Auch der Untertitel: „Wie das Internet die Presse revolutioniert„, klingt verheißungsvoll.

Es überrascht mich positiv, dass den 24 Interviewpartnern nicht immer dieselben Fragen gestellt werden. Jeder der hochkarätigen Experten (aus den USA, England und Frankreich) aus der Zeitungswelt wird mit seinem beruflichen Werdegang und einem Foto vorgestellt.
Angenehm ist, dass die Hauptaussagen übersichtlich mit Zwischenüberschriften versehen sind.

Guter Journalismus ist weiterhin nötig

Einig sind sich alle Befragten darüber, dass es guten Journalismus weiterhin geben wird und dieser auch nötig ist. Ob dies allerdings als Printausgabe oder nur als Online-Zeitung sein wird, weiß keiner so recht zu beantworten. Manch einer gibt der gedruckten Zeitung aufgrund der immer mehr zurückgehenden Auflagen nur noch 10-20 Jahre eine Überlebenschance. Wieder andere sind der Meinung, dass uns Qualitäts- und Lokalzeitungen erhalten bleiben werden. Auch der völlige Tod der Printausgabe wird vorausgesagt.

Befürchtet wird, dass die Bürger weniger informiert werden. Der sogenannte Bürgerjournalismus in Form von Blogs liefere zwar jede Menge Informationen, aber die Qualität der Berichterstattung nehme ab. Blogger würden nur reagieren, kopieren und kommentieren. Ein Qualitätsjournalismus sei dies nicht. Weiterhin müsse gut recherchiert, enthüllt und über die Hintergründe informiert werden. Würde der Journalismus geschwächt, ginge dies zu Lasten der Demokratie.
Die technischen Anforderungen an Journalisten würden steigen, da die Online-Zeitungen Fotos, Videos, Podcasts und Links integrieren werden.

Suchmaschinen und Bezahlung von Online-Artikeln

Google News und Yahoo News seien Suchmaschinen, die Nachrichten zusammenstellen, aber nicht selbst produzieren. Die Zeitungsverlage hätten den Zeitpunkt verpasst sich, sich die Produktion der Nachrichten im Internet bezahlen zulassen.

Neue Finanzierungsformen

Auch die Formen der zukünftigen Finanzierung von Zeitungen (Print und Online) seien noch nicht ganz klar. Während einige erwarten Gewinne durch Werbung zu machen, weisen andere darauf hin, dass die Werbung nicht die Kosten für die Nachrichtenbeschaffung und Verbreitung decken könne.
Denkbar wäre auch eine Quersubventionierung durch andere Geschäftsmodelle (z.B. Weiterbildungsangebote). Dies sei aber nur möglich, wenn Zeitungen einen Traditionsverlag im Rücken hätten, der dafür geringe Gewinne im Zeitungsgeschäft in Kauf nähme.
Eine Subventionierung durch den Staat wird eher mit Skepsis betrachtet, obwohl Steuervergünstigungen gern gesehen würden. Befürchtet wird die politische Einflussnahme.
Auch gäbe es die Möglichkeit der Förderung durch Stiftungen und Privatpersonen. Abgelehnt würden auch hier reiche Leute, die Zeitungen kaufen, um die Meinung zu manipulieren.
Kooperationen zwischen Zeitungsverlagen und öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern wären denkbar.

Ich bin auf die künftige Form der Zeitungsverbreitung gespannt. Mir persönlich würde meine Wochenendzeitung sehr fehlen, da dies auch etwas mit sich „wohlfühlen“ und „entspannen“ zu tun hat. Allerdings, ich hätte nichts dagegen, wenn das Zeitungsformat etwas kleiner wäre.

(c) Ingeborg Lüdtke (2009)

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KZ Bergen-Belsen Teil 1

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„Solltest Du jemals nach Belsen kommen, dort umhergehen und die Gedenksteine betrachten, so passierst du unweigerlich Stellen, an denen sich ein paar Meter unter dir gewaltige Ansammlungen menschlicher Gebeine befinden.“ (Arne Moi, ehemaliger norwegischer Häftling)

„… die Gedenkstätte Bergen-Belsen ist im Wesentlichen … ein gigantischer Friedhof, … .“ (Dr. Jen-Christian Wagner, Gedenkstättenleiter Bergen-Belsen)

(Musikakzent)

Dies ist mein erster Besuch in der Gedenkstätte des ehemaligen KZs Bergen-Belsen. Bergen-Belsen liegt nördlich von Hannover in der Nähe der Stadt Celle.

Dem Gedenkstättenleiter Dr. Jens-Christian Wagner und seinem Stellvertreter Dr. Thomas Rahe stelle ich viele Fragen.

Es sind sehr viele Informationen, die ich erhalte.

In Gedanken höre ich Ihre Stimmen, während ich über die riesige Friedhofsanlage des ehemaligen KZs Bergen Belsen gehe.

Es geht mir wie immer, wenn ich auf Friedhöfen bin. Ich sehe nur das, was sich oberhalb befindet. Ich sehe die erhöhten Massengräber und ich lese die Zahlen der Todesopfer auf den Steintafeln:

„… etwa 50.000 KZ-Häftlingen, die hier 1944-1945 gestorben sind und im Gelände in Massengräbern bestattet wurden, die meisten nach der Befreiung durch die Briten.“ (O-Ton Wagner)

Wie kommt man aber auf diese Zahlen? Wurden die Toten tatsächlich gezählt?

„Die Angaben auf den Massengräbern stammen aus der Zeit unmittelbar nach deren Anlegung … von den Briten … zunächst haben die Briten da kleine Holzschilder angebracht, auf denen drauf stand: 2000 Tote, 2500 Tote, 3500 Tote usw. usf. In den späten 40ern – frühen 50ern wurden dann massive Grabumrandungen gebaut, und in Stein gemeißelte Angaben angebracht, die aber den Angaben auf den Holzschildern entsprachen. Das sind Schätzungen gewesen, keiner hat tatsächlich gezählt, wie viele Tote genau in jedem Grab liegen, sondern … wenn da 2500 steht, dann können das 2000 sein, es können aber auch 3000 sein.“ (O-Ton Wagner)

Ich sehe die Plattenwege, die Schneisen auf dem Rasen vor den Bäumen, das Heidekraut, die Wiesenblumen, die Monumente für die Toten, das Holzkreuz.

Am Weg befindet sich das „Haus der Stille“. Hier können Besucher sich zur Besinnung zurückziehen. Das Gebäude selbst ist ein Kunstwerk aus Chromnickelstahl, Glas und Granit. Der Innenraum erinnert an eine Kapelle. Allerdings gibt es keine religiösen Symbole im Raum. Auf dem dreieckigen Tisch liegen viele Steine anstelle von Blumen und Zettel mit kleinen Botschaften.

Während ich weitergehe, sehe ich einzelne Grabsteine.

„Sämtliche Gedenkzeichen, insbesondere die Gedenkzeichen, die aussehen wie Grabsteine auf dem Gedenkstättengelände, sind rein symbolisch, und markieren nicht eine konkrete Grablage. Bei der Anlage der Massengräber ist auf die Kategorie, auf das Geschlecht, auf das Alter oder die Herkunft der Häftlinge keinerlei Rücksicht genommen worden, sondern da liegen alle gemischt.“ (O-Ton Wagner)

Vor mir befindet sich der Grabstein für Anne und Margot Frank. Anne Frank wurde bekannt durch ihr Tagebuch, das sie im niederländischen Versteck vor Ihrer Festnahme schrieb.

Jemand hat Blumen und Kerzen vor ihren Grabstein gelegt.

Die niederländische Tänzerin Lin Jaldati und ihre Schwester trafen Ende 1944 im KZ Bergen-Belsen auf Anne und Margot Frank. Sie konnten ihnen wenige Lebensmittel geben. Auch feierten sie Weihnachten zusammen.

Leider erkrankten Anne und Margot an Typhus und starben.

Lin Jaldati und ihre Schwester fanden die Leichen hinter der Baracke. Sie legten sie in eine Decke und trugen sie zu einem Massengrab.

(Musikakzent)

„Solltest Du jemals nach Belsen kommen, dort umhergehen und die Gedenksteine betrachten, so passierst du unweigerlich Stellen, an denen sich ein paar Meter unter dir gewaltige Ansammlungen menschlicher Gebeine befinden.“(Arne Moi)

Ich mag es mir nicht vorstellen, aber gibt es tatsächlich noch ungekennzeichnete Massengräber auf dem Gelände?

Massengräber glauben wir nicht. Wir haben vor mehreren Jahren mal so eine Probeuntersuchung gehabt, eine nichtinvasive Untersuchung, die keine klaren Hinweise gegeben hat, dass es da noch irgendwelche unentdeckten Massengräber gibt. ..es könnte allenfalls so sein, dass es Massengräber geben müsste, die schon bedeckt worden sind mit Erde, aber auch das wäre ja erkennbar gewesen. … Die überlebenden Häftlinge hätten mit Sicherheit die Briten auch darauf aufmerksam gemacht, dass es hier schon ein geschlossenes Grab gibt. Dass die Engländer aus lauter Nachlässigkeit einfach vergessen haben, ein Grab zu kennzeichnen, das sie vorher selber haben befüllen lassen mit Leichen, kann ich mir auch nicht vorstellen“. (O-Ton Rahe)

Wie sieht es aber mit einzelnen unbekannten Gräbern aus?

„Wir haben vereinzelt Berichte, wo beschrieben wird, dass jemand einen Mithäftling begraben hat, damit die SS nicht mit der Leiche machte, was sie wollte, irgendwo in der Nähe der Baracke, und das heimlich gemacht hat, so dass es niemand mitgekriegt hat. Die haben dann einfach ein Loch gegraben, die da rein gelegt, und alles wieder zugedeckt, und das durfte natürlich nicht markiert werden, und sie haben das auch nicht nachträglich markieren können. D. h. deswegen betrachten wir eben auch das gesamte ehemalige Lagergelände heute als Friedhofsgelände, …“ (O-Ton Rahe)

(Musikakzent)

Die Sonne scheint. Es ist schwer für mich, mir das Chaos, den Schlamm und die vielen Leichen vorzustellen.

Ich stehe nun an der Stelle, wo das Krematorium früher stand; später dort, wo sich die Löschwasserstelle befand oder das jüdische Lager, das Sternenlager.

Es ist schon eigenartig, dass hier fast nichts mehr zu sehen ist, was auf ein KZ-Lager hinweist. Keine einzige Baracke ist übrig geblieben.

„… da im Lager nach der Befreiung und auch vor der Befreiung schon eine Typhusepidemie wütete, haben die Briten unmittelbar nach der Befreiung sämtliche Baracken des ehemaligen Lagers abgebrannt, sodass es bereits 1946 eigentlich kaum noch bauliche Relikte des Lagers gab, ….“ (O-Ton Wagner)

Im Oktober 1945 ließ die britische Militärverwaltung die noch stehengebliebenen Zäune, Wachtürme und Barackenfundamente beseitigen. Auch die Reste des Krematoriums wurden beseitigt.

Anfangs stand noch der Barackenkomplex des Vorlagers, das aus den Unterkunfts- und Funktionsgebäuden der SS bestand. Die Baracken wurden bis Mitte der 1950er Jahre als Flüchtlingslager benutzt und später abgerissen.

Wie kann man rekonstruieren, was auf diesem riesigen Friedhofsgelände tatsächlich geschah?

„Die Rekonstruktion dessen, was hier 1943 – 1945 im Konzentrationslager und in den Jahren vorher ja schon im Kriegsgefangenenlager Bergen-Belsen passiert ist, …, ist im Wesentlichen erschwert dadurch, dass die SS bei Kriegsende die gesamte Lagerregistratur vernichtet hat.“ (O-Ton Wagner)

Normalerweise führte die SS in den Konzentrationslagern genau Buch über die Anzahl der Häftlinge. Es gab Häftlingslisten, Zugangslisten und Sterbelisten.

Als die frontnahen Konzentrationslager aufgelöst wurden, gelangten immer mehr Häftlingstransporte nach Bergen-Belsen. Listen wurden bedingt durch Personalmangel nicht genau geführt. Vorhandene Listen ließ Lagerkommandant Josef Kramer kurz vor der Befreiung vernichten.

Aber es gibt andere Möglichkeiten, um ungefähr festzustellen, welche Häftlingsgruppen sich in Bergen-Belsen befunden haben:

„… man ist auf Ersatzüberlieferungen angewiesen. Ersatzüberlieferungen zum einen der anderen Konzentrationslager, die Häftlingstransporte nach Bergen-Belsen geschickt haben, … Also insofern kann man zum Teil diese Transporte rekonstruieren, und wir sind, ganz wesentlich, auf die Berichte der Überlebenden angewiesen, was allerdings quellenkritisch nicht ganz einfach ist, denn man muss schon fast so sagen, dass der Normalfall in Bergen-Belsen nicht das Überleben, sondern das Sterben gewesen ist“. (O-Ton Wagner)

Die Berichte der Überlebenden geben nicht nur Einblicke über die verschiedenen Häftlingsgruppen. Diese Berichte beschreiben auch die katastrophalen Zustände der letzten Tage der Lager.

Einige dieser bewegenden Berichte der Überlebenden habe ich schon gelesen.

Das Sterben beschreibt der aus Prag stammende ehemalige Häftling Arnost Basch. Er kam erst im April 1945 mit dem Todesmarsch nach Bergen-Belsen. (Quelle Yad Yashem):

„Freitag, den 13.4.1945

Wecken und aus der Baracke jagen, wie jeden Morgen. Und doch war dieser Morgen ein anderer. Zu unserer Überraschung sahen wir nur vereinzelte SS-Männer, und alle trugen am linken Arm eine weiße Binde. … Etwas geschah, doch wir wussten nicht, was. Wir wurden zu der gleichen Arbeit wie am Vortag gezwungen. Mir kam es vor, als wenn mehr Leichen umherlagen als gestern, trotzdem wir bereits tausende weggeschafft haben. …Leider nahm das Sterben in den Augenblicken, wo uns die Sonne der Freiheit nahe stand, katastrophal zu. Es gelang mir gleich am Anfang der Arbeit, mich wieder zu einem Leichenhaufen durchzuschmuggeln, und wenn es auch vielleicht unglaubhaft erscheint, ich schlief vor Hunger, Erschöpfung und Durst auf dem Haufen Leichen liegend ein und schlief bis zum späten Nachmittag. Ich möchte noch bemerken, dass wir bereits den dritten Tag gar nichts zu essen bekamen. Auf der Lagerstraße aber schleppten unzählige Kolonnen die schauerliche Last ohne Unterbrechung bis zum Abend.

Samstag, den 14. April 1945

Wecken wie gewöhnlich. Als wir wieder in Paare gereiht wurden, liefen viele Häftlinge weg, um sich zu verstecken. Die Kapos und übriggebliebenen S-Männer jagten die Armen, und viele wurden noch in diesen letzten Augenblicken schwer misshandelt und zu der Arbeit des Leichenschleppens gejagt. Mir selbst gelang es mit noch 2 Kameraden, hinter der Latrine Schutz zu finden. Diesmal aber endete die Arbeit bereits um Mittag. Es fand ein Appell statt, der letzte und wir erhielten jeder 100 gr. schimmeligen Brotes. Wir aßen nicht, wir würgten den Bissen heißhungrig in den Magen. Und sonderbarer Weise hatten wir ab jetzt Ruhe. Niemand kümmerte sich um uns. Wir hatten alle Hände voll zu tun, um die Läuse loszuwerden, was aber unmöglich war. Wir hatten diese überall, im Gesicht, in den Haaren, in den Ohren, in den Augengruben.

… In der Nacht lauschten wir wiederum starkem Geschützdonner, und es schien uns so, als ob es ganz in der Nähe wäre. Geschlafen wurde wieder keine Minute.“

(Musikakzent)

Ich habe noch kurz die Gelegenheit, mit Ivan Lefkovits zu sprechen. Er kam als 8-Jähriger Anfang 1945 nach Bergen-Belsen. Er war im Frauenlager. An den letzten Tagen litten die Häftlinge an Durst:

„ …das Schlimmste dabei war der Durst und weil die Deutschen haben 11 Tage vorher (das) Wasser gesprengt, Lager elektrisch ausgemacht und wir blieben ohne Wasser, ohne Essen da. In der Nähe waren diese Feuerlöschbecken in der Nähe voll mit Wasser, aber mit, die Leichen schwammen drin mit Exkrementen und das durften wir nicht trinken. … einige Häftlinge kletterten über den Zaun, holen Kartoffeln, aber wir waren zu schwach etwas zu ergattern und (das) einzige was uns blieb, war ein paar Schalen von Kartoffeln, die wir auf die Lippen getan haben, um etwas Feuchtigkeit zu bekommen.“ (O-Ton)

Es gibt auch Filme, die die britischen Soldaten kurz nach der Befreiung des KZs Bergen-Belsen gedreht haben.

(Musik)

Inzwischen bin ich zwei Stunden über das Gelände gelaufen. Meine Füße schmerzen.

Nach einer kurzen Pause begebe ich mich in das Ausstellungsgebäude der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen und suche den Filmturm.

Der Filmvorführungsraum befindet sich hinter einem bodenlangen schwarzen Vorhang. Der Film läuft bereits, als ich eintrete. Ich sehe zum ersten Mal die katastrophalen Zustände und die Leichenberge in beweglichen Bildern.

Dr. Jens-Christian Wagner hatte mich schon vorgewarnt

„ …in der Ausstellung, aber auch in der medialen Präsentation von Bergen-Belsen, kommt man an den erschütternden Fotos und Filmaufnahmen, aber auch Zeichnungen der Alliierten, insbesondere der britischen Befreier, nicht vorbei. Jeder kennt die grauenhaften Fotos von Bulldozern, die völlig ausgemergelte Häftlingsleichen in Massengräber schieben. … Diejenigen, die … in die Massengräber geschoben wurden, waren ja bei weitem nicht nur Juden, sondern das waren Häftlinge aller Kategorien: Politische Häftlinge, sogenannte Asoziale, als Kriminelle Verfolgte, Sinti & Roma und diverse andere, die unterschiedslos hier in Bergen-Belsen zu Tode gebracht wurden, durch organisierte Vernachlässigung. (O-Ton Wagner)

die Zustände in Bergen Belsen waren sicherlich, im Vergleich mit anderen Lagern innerhalb des deutschen KZ-Systems im Frühjahr 1945, die weitaus schlimmsten. Daran besteht, glaube ich, kein Zweifel.“ (O-Ton Wagner)

Es ist schon ein Unterschied, ob man sich Schwarz-weiß-Fotos oder einen Film ansieht.

Es ist keine Filmanimation, keine Fiktion, auch kein Krimi, bei dem man weiß, dass die Leichen nur für die Filmaufnahme geschminkt wurden und bald wieder quick lebendig sind.

Es ist eine grausame Realität.

Ich möchte am liebsten wegsehen, wie ich das bei den Krimi-Leichen tue, aber ich reiße mich zusammen. Ich muss das aushalten.

Ich muss sie aushalten, die Bilder von den Bulldozern, die Leichenhaufen wie losen Müll in Massengräber schieben.

Bilder von SS Wächtern, die Leichen auf Lastwagen werfen und später wieder abladen.

Bilder von SS-Wächtern, die Leichen hinter sich herziehen und dann in ein Massengrab stoßen.

Bilder von Leichen, die über die Schulter geworfen werden. Baumelnde Gliedmaßen.

(Musikakzent)

Einige der Überlebenden treten vor die Kamera der englischen Befreier. Hella Goldstein aus Polen spricht am 24. April 1945 als eine der ersten Überlebenden des KZ Bergen-Belsen. Hella Goldstein steht direkt vor einem offenen Massengrab. Leichen sind erkennbar.

Hella Goldstein [Anm.: verh. Colin] kam über das KZ Auschwitz und ein Bremer Außenlager des KZ Neuengamme 1945 nach Bergen-Belsen. Sie war nicht sehr lange dort. Sie spricht über ihre überfüllte und verdreckte Baracke (O-Ton):

„Ich erzähle, was ich … überleben habe im Lager Bergen-Belsen. Ich bin angekommen hier unter den schrecklichen Bedingungen. Wir waren 1500 in einem Zimmer, sehr schmutzig und sehr gedringt …“

Lebensmittel und Wasser gibt es nicht:

„Und ohne Essen, ohne Wasser. Und überhaupt, das war keine Leben für uns. Wir haben gedacht, dass wir das schon überleben nicht mehr.“

Sie erkrankt kurz vor der Befreiung durch die Engländer an Typhus:

„Und 5 Minuten bevor sie unsere Kameraden, die Engländer hineingekommen in unsere Lager sind, habe die deutschen Verbrecher gewolltet herübernehmen zu die Typhuskranke. Und die haben uns ausgezogen und ganz nackt und alles weggenommen. Und dort wollten sie uns überlassen. Aber Gott war mit uns und der hat uns geholfen. ….“

(Musikakzent)

Auch die polnische Zahnärztin Hadassah Bimko (Anm.: verh. Rosensaft] spricht am 24.April 1945 vor der Kamera. Sie steht vor einer Gruppe weiblicher Häftlinge.

Hadassah Bimko arbeitete bereits im KZ Auschwitz-Birkenau in der Krankenstation. Am 14. November 1944 schickte sie der SS Arzt Josef Mengele für das „medizinische Team“ in das KZ Bergen-Belsen.

Hadassah Bimko war schon einige Monate vor Hella Goldstein in Bergen–Belsen. Die hygienischen Zustände in den Baracken waren ähnlich, aber es gab ein noch ein wenig zu essen und zu trinken. Viele Häftlinge erkrankten an Typhus:

Es ist mir schwer zu beschreiben, dass alles, was wir Häftlinge in dem Lager hier mitgemacht haben.

Als kleine, nur kleine Beweise kann ich erzählen, dass man hat uns Häftlinge in eine schmutzige, verlauste Lager auf der Erde geschmissen.

Tausende auf eine, nur Erde, ohne Decken, ohne Strohsäcke, ohne Betten. Man hat uns als Essen ein 12. Teil vom Brot gegeben, 1 Liter Steckrübensuppe täglich, so das 75 geschwollen vor Hunger waren. Eine schwere Typhusepidemie ist ausgebrochen. Und der Hunger und der Typhus hat uns aufgefressen täglich. 250 Leute, Frauen hatten wir täglich in Toten und in Männer 1000.

Der Hunger war so groß, dass bei den Männern, haben sogar von den Männern, von den Toten, Leber, Herz und andere Teile des Körpers ausgeschnitten und aufgefressen.

Man wollte uns keine Medikamente geben und die SS-Männer hatten das Ganze ja aufgesammelt.“(O-Ton)

Nicht alle Hilfsgüter des Roten Kreuz wurden an die Häftlinge und Kinder ausgeteilt:

„Essen, welches wurde vom Roten Kreuz für uns Häftlinge geschickt und zwei Tage früher, bevor die britische Armee gekommen ist, haben sie das ausgepackt und uns zu verteilen, damit die britische Armee nicht zu erfahre, dass sie das nicht ausgeteilt haben. Zum Beispiel vor zwei Monate ist 150 (kg) Schokolade für Kinder gekommen. Das haben sie nur 10 Kilo ausgeteilt, den Rest hat der Kommandant für sich behalten und als Verkehrsmittel, als Austauschmittel für andere Privatsachen genommen und dafür sich schöne Einrichtungen gemacht“.(O-Ton)

Medizinische Versuche an den Häftlingen gab es auch in Bergen-Belsen:

„Wir können nur eins sagen: Mit uns hat man verschiedene Experimente gemacht. Die Sanitäter und Ärzte haben auf Häftlinge Spritzen gemacht, zum Beispiel 20 Kubikzentimeter Benzin intravenös gespritzt. So das nach paar Minuten ist der Mensch gestorben. Auf solche Weise hat man auf uns experimentiert. Man hat Frauen genommen, junge, 19 jährige schöne Frauen und verschiedene gynäkologische Operationen gemacht und sterile Operationen, so dass diese Frauen, wenn sie noch leben nie Frauen und Mütter sein werden.“ (O-Ton)

(Musikakzent)

Die Worte von Hella Goldstein und Hadassah Bimko über die grausame Behandlung der Häftlinge und die schrecklichen Zustände im Lager speichere ich in meinem Gedächtnis ab.

Ich verlasse den Filmraum und gehe nach draußen an die frische Luft.

Mich beschäftigt die Frage:

Wie sind wohl die Häftlinge damit klargekommen, dass so viele Menschen um sie herum starben und sich die Leichenberge auftürmten?

Ivan Lefkovits erzählt mir später:

„Das war eng. Direkt auf den Pritschen lagen Menschen, die schon gestorben sind und die konnte man nicht heraustragen, hatten wir keine Kraft. Und …, wir schliefen in Mitte(n) von Leichen.“ (O-Ton)

Wie geht man aber damit um, oder ist das Normalität geworden? Also ich stelle mir das schrecklich vor, wenn man zwischen den Leichen liegt oder sogar auf einer Leiche.

„Ja, aber spielt keine Rolle, weil man dachte: Ich sterbe auch jetzt. Ich bin eine von denen, da hat, jetzt hat (das) Leben eine andere Bedeutung, damals waren wir nahe dran.“ (O-Ton Ivan Lefkovits)

Arnost Basch schreibt in seinem Erinnerungsbericht von Samstag, den 14. April 1945:

„Rings um alle Baracken lagen noch immer tausende von Leichen, und immer neue kamen dazu. Es war unvorstellbar. Wir selbst waren so abgestumpft und geistesmüde, dass wir diesem Geschehen keine Beachtung schenkten“. (Sprecher P. Bieringer)

(Musik)

Eine weitere Frage, die ich mir stelle:

Welche Gefühle hatten die Häftlinge bei der Befreiung?

Die meisten Häftlinge waren unterernährt und krank. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass das ganze Lager in einen Freudentaumel verfallen ist.

Die unterschiedlichen Reaktionen der befreiten Häftlinge beschreibt der Tagebucheintrag von Arnost Basch am Sonntag, den 15. April 1945:

„An diesem Morgen schien vollständige Ruhe zu herrschen … kein Wecken, kein Schlagen, jeder Einzelne war sich selbst überlassen…. Es war ein herrlicher Apriltag, die Sonne begann zu wärmen, und so legten wir uns zumeist auf Sandhügel und ruhten. …die meisten völlig erschöpft, hungrig und durstend, da seit einigen Tagen auch kein Wasser zu haben war. Und das Traurigste war, dass noch in den letzten Augenblicken vor der sich nähernden Freiheit für uns noch viele Kameraden an den bisherigen Entbehrungen und Leiden starben.

Aus der Ferne hörten wir Geschützfeuer, welches immer näher kam. Und plötzlich sahen wir auf dem kleinen Abschnitt der Landstraße in rascher Fahrt Panzerwagen und andere Militärfahrzeuge vorbeisausen. … kurz danach sahen wir weitere Fahrzeuge und sahen auf diesen einen weißen Stern. Nun hatten wir die Gewissheit, dass es sich um Angehörige der Alliierten handelt. Selbstverständlich herrschte unbeschreibbare Freude und Begeisterung im ganzen Lager, doch gab es auch viele, welche apathisch, teilnahmslos liegenblieben, was eben die Folgen der vollständigen Erschöpfung waren.

Endlich kam nach der großen Ungewissheit in das Lager ein Militärwagen, welcher ununterbrochen aus einem Lautsprecher uns alle aufforderte, Ruhe zu bewahren, aus dem Lager sich nicht zu entfernen, und es wurde uns auch gleichzeitig versprochen, unmittelbar Essen zu erhalten. Und dies war augenblicklich für uns das Wichtigste.

Auch versagten vielen von uns die Nerven, einige brachen bewusstlos zusammen, andere weinten … Man fiel sich in die Arme, schüttelte die Hände, küsste einander, kurz man konnte das große Glück der Befreiung und das Ende der unmenschlichen Leiden nicht fassen.

Und endlich war es soweit. Vor jeder Baracke wurde von einem Lastwagen eine entsprechende Anzahl von Konservenbüchsen abgeladen und verteilt. Wir erhielten je 1 Fleischkonserve und 1 Blechbüchse, in welcher sich Zigaretten, Kaffee, Kekse u.a. befanden. … Nur Trinkwasser gab es keines. Und so konnten wir bloß ein wenig unseren Hunger stillen und litten weiterhin unter entsetzlichem Durst.

(Musikakzent)

Ivan Lefkovits erzählt mir gerade, in welchem körperlichen Zustand er und seine Mutter bei der Befreiung waren:

 „ … wir waren in so einem schlechten Zustand, mit Fieber und so schwach, dass wir apathisch lagen da und eigentlich wir dachten, wir sterben. Und die Euphorie kamen mit dem, als wir gehört haben, dass die Briten sind da, es ist befreit. Ein paar Tage später war dann Wasser da.“ (O-Ton)

Weitere Reaktionen auf die Befreiung finde ich im Ausstellungskatalog der Gedenkstätte.

Catheryne Morgan war bei der Befreiung nicht euphorisch (Rechte von der Gedenkstätte erhalten):

„Es kam keine Euphorie auf. Wir wussten, dass wir befreit worden waren, aber ich konnte irgendwie nicht begreifen, dass es vorbei war. Ich war wie betäubt, anders kann man das nicht sagen. Ich wusste, was um mich herum passierte, aber ich konnte es nicht begreifen. Ich war lethargisch, ich lachte oder lächelte nicht, ich konnte mich nicht freuen.“ (Sprecherin Gudrun Stockmann)

Isabell Choko fragte sich, was diese Befreiung für sie bedeutet (Rechte von der Gedenkstätte erhalten):

Ich sah nach rechts und links und dachte: „Wir sind frei. Wir sind frei, aber wozu? Um zu sterben?“ Wir sind frei – aber was ist das, frei sein? Wir liegen auf dem Boden, ohne Nahrung, ohne zu trinken, in einem Zustand, den man nicht beschrieben kann. Man kann es nicht beschreiben! Inwiefern sind wir frei? Was ist das, frei sein? Frei wozu? (Sprecherin Gudrun Stockmann)

(Musikakzent)

Da ich mich bei der Gedenkstätte angemeldet habe, habe ich die Möglichkeit in der Bibliothek zu stöbern. Ich erinnere mich an das Buch “Konzentrationslager Bergen-Belsen“. Es erhält auch einige Dokumente der britischen Armee nach der Befreiung.

Ich finde die Texte und überfliege sie kurz:

Oberstleutnant Taylor, Kommandeur des 63. Anti-Tank-Regiment schreibt über die Übernahme des Lagers Bergen-Belsen am 15. 4.45. Der Bericht beginnt mit dem Treffen mit Oberst Karl Harries, dem stellvertretenden Kommandeur des Truppenübungsplatzes (gelesen von P. Bieringer):

„Harries sagte, da die Zuständigkeit alleine bei der SS liege, könne er keine Angaben über Zahlen oder Verzeichnisse der Inhaftierten machen.

Wachen und Hinweisschilder mit der Aufschrift „Typhus-Danger“ seien auf allen Zufahrtsstraßen zum Lager aufgestellt worden.

Bei der Ankunft der ersten britischen Truppen seien hinausgehende Telefonleitungen gekappt worden.“

Befragung des SS-Führer und Lagerkommandanten Josef Kramer:

Alle Unterlagen über die Inhaftierten seien auf Befehl aus Berlin vernichtet worden.

Ca. 40.000 Männer und Frauen seien im Lager. Ein großer Teil sei erst vor Kurzem aus einem anderen Lager gekommen.

Es gebe noch genügend Nahrung, um die Häftlinge 3 Tage zu ernähren.

Seines Wissens sei kein Häftling geflohen.“

(Musikakzent)

Über die Aufteilung des Geländes berichtet Oberstleutnant Taylor:

Die Unterkünfte der SS, Männer wie Frauen, und der Wachen der Wehrmacht sind vom Konzentrationslager durch einen 3 Meter hohen Stacheldrahtzaun scharf getrennt.

Später entdeckte ich, dass das Lager in sechs Bereiche unterteilt war. Diese waren durch Stacheldraht voneinander getrennt. Es gab vier Frauen- und zwei Männerbereiche mit insgesamt fünf Küchen.

Innerhalb der Stacheldrahtverschläge lagen etwa 100 Baracken, einige mit und andere ohne Schlafgelegenheiten. Es war vollkommen unmöglich, dass sich sämtliche Insassen gleichzeitig in der ihnen zugewiesene Baracke aufhalten konnten, weshalb ein großer Teil im Freien bleiben musste.“

(Musikakzent)

Er macht auch Angaben über den körperlichen Zustand der Häftlinge:

„Viele waren kaum mehr als lebende Skelette mit ausgezehrten, gelblichen Gesichtern. Die meisten Männer trugen gestreifte, strafanzugähnliche Kleidung, andere Lumpen, während die Frauen gestreifte Baumwollkleider oder irgendwelche anderen Kleidungsstücke trugen, die sie hatten auftreiben können. Viele hatten keine Schuhe, sondern nur Socken und Strümpfe.

Auf beiden Seiten des Weges lagen massenhaft Männer und Frauen. Andere liefen langsam und ziellos mit einem leeren Ausdruck in ihren ausgehungerten Gesichtern umher.“

(Musikakzent)

Auffindbare Wasservorräte:

„Neben der ersten Küche, die wir besichtigten, lag eine betonierte Grube mit etwas schmutzigem Wasser auf dem Grund – dies war der einzige auffindbare Wasservorrat; viele Menschen standen herum und versuchten, Gläser und Dosen an langen Stöcken zu füllen“.

Nach 21 Uhr gibt Oberstleutnant Taylor noch weitere Anweisungen zur Versorgung der Häftlinge:

„Dann sandte ich einen Verbindungsoffizier zum Hauptquartier des Corps mit der dringlichen Anforderung von Wasser, Lebensmittel und weiterer militärischer Unterstützung.“

16.4.1945

Lager 1

Mein Truppenkommandeur informierte mich, …viele seien offenbar verhungert und lägen entlang der Hauptlagerstraße und am Stacheldraht in ihren Verschlägen.

Kramer … führte uns zum Krematorium. Dieses bestand aus einem einzigen Ofen, der wegen Kohlenmangels seit einigen Wochen nicht mehr betrieben worden war. In der Nähe befand sich ein zugeschüttetes Massengrab.

Im Lager gab es keinerlei sanitäre Einrichtungen, nicht einmal Latrinengruben.

Oberstleutnant Michie berichtete später, er habe Aufstellungen gesehen, nach denen im März nahezu 17.000 Leichen verbrannt worden seien.

(Musikakzent)

Frauenlager:

„Dann fuhren wir durchs Frauenlager und sahen zwei große Haufen entkleideter Leichen und etwas weiter eine große Grube.

In jedem Stacheldrahtverschlag waren massenhaft Tote, und es war offenkundig, dass das gesamt Lager verhungern würde, wenn Nahrung und Wasser nicht bald kämen.“

Besuch des Lagers 2, dass erst eine Woche vorher eingerichtet worden war:

Hier waren die Bedingungen sehr viel besser, die Insassen … in steinernen Kasernen, aber es war auf den ersten Blick ersichtlich, dass die Mehrheit vor der Registrierung der Personalien verhungern würde.“

Antworten des SS-Kommandanten auf Fragen:

„ – Es seien 15.133 Häftlinge im Lager, keine Frauen.

  – Es gäbe Nahrungsmittel für 1 Woche, hauptsächlich Kartoffeln, Rüben, etwas Mehl, kaum Fleisch“

SS-Kommandant Kramer wird in einen Kellerraum unter den Offiziersquartieren gebracht.

17.4.1945

Die männlichen und weiblichen SS-Angehörigen aus Lager 1 werden festgenommen. Sie werden in Zellen direkt neben dem Konzentrationslager eingesperrt.

„Später wurden die Männer eingesetzt, Leichen vom Lager zur großen Grube zu befördern – die Frauen hatten sich dieser Arbeit dann ebenfalls anzuschließen. Ihnen wurden die gleichen (Lebensmittel]-Rationen zugeteilt, wie sie die Häftlinge vor unserem Eintreffen bekamen. In der ersten Nacht beging einer Selbstmord, zwei weiteren SS-Angehörigen misslang der Versuch. Am nächsten Tag versuchten zwei zu fliehen, wurden aber sofort erschossen.“

18.4.1945

„Kramer … wurde am 18. April ins Kriegsgefangenenlager Celle verlegt.

Ein befreiter britischer Gefangener von den Kanalinseln sagte aus, dass er Kannibalismus im Lager gesehen habe, und Major Barnett sah einen Leichnam, dem Fleisch fehlte.“

In der Nacht vom 16. auf den 17. April lag die Zahl der in den Krankenbaracken Gestorbenen annähernd bei 500, und ich denke, man kann die tägliche Todesrate ohne Übertreibung mit 500 bis 1000 angeben.“

(Musikakzent)

Ich finde auch den ärztlichen Bericht über die Situation in Bergen-Belsen vom 15.-19. April 1945 von Brigadier H.L. Glyn Hughes. Über die Wasserversorgung der Häftlinge schreibt er (Sprecher P. Bieringer):

„Es hatte einige Tage keines gegeben, da der elektrische Strom versagte. Es war bemitleidenswert, Männer und Frauen nackend in den Lagern stehen zu sehen, in dem Bemühen, sich mit einer Tasse voll Wasser sauber zu halten. In diesem Lager gab es keine Scham und kein Geschlecht.“

Es wurden vorläufige Maßnahmen vorgenommen, um die Zustände zu verbessern:

„Am Nachmittag des ersten Tages [Anm. 16. April] wurden 27 Wasserwagen vom 8. Korp zu Verfügung gestellt und eine Abendmahlzeit bestehend aus Konserven. Alle anfänglichen Lieferungen mussten natürlich sorgfältig bewacht und ihre Verteilung kontrolliert werden.

Die psychologische Wirkung dieser Fürsorge war erstaunlich und mit jedem Tage hob sich die Stimmung im Lager, die aus vollkommener Niedergeschlagenheit über ein langsames Wiederaufleben des Mutes zum Leben zur wirklichen Freude und Interesse am Leben wechselte. Eine gewaltige medizinische Aufgabe, die in der Beaufsichtigung der besonderen Ernährung und der Ernährung der vom Hungertode bedrohten [bestand], kann gar nicht überschätzt werden.“

(Musik)

Das Lager war befreit und auch geräumt worden. Oberst Bird, der Kommandeur 102. Kontrollabteilung hält am 21. Mai 1945 eine Gedenkrede.

Nach der Gedenkrede wird die letzte Baracke abgebrannt.

(Musikakzent)

Laut Schätzungen waren insgesamt ca. 120 000 Häftlinge im KZ Bergen-Belsen inhaftiert.

Ca. 10 000 Tote lagen unbegraben im Lager, als die britischen Soldaten in Bergen-Belsen eintrafen.

Ungefähr 55 000 [Häftlinge] sind befreit worden, aber von diesen sind nochmal etwa 14 000 [Häftlinge] seit dem 15. April … in den ersten 10-12 Wochen … an den Folgen der Haft gestorben“.

(O-Ton Rahe)

Für die Überlebenden wurden Lazarette und Durchgangslager eingerichtet.

Die Heimreise der Überlebenden wurde vorbereitet. Einige von konnten sehr schnell in ihre Heimat zurückreisen. Andere Überlebende mussten sehr lange warten, bis sie in ihr Herkunftsland zurückkehren konnten.

(Musikakzent)

Ich weiß, dass ich heute nur einen groben Überblick über die schrecklichen Zustände bei der Befreiung des KZ Bergen-Belsen geben konnte.

Das gesamte Ausmaß kann ich nicht erfassen. Wie konnte es so weit kommen?

Hatte die SS bei der Planung des Lagers Bergen-Belsen schon die Massenvernichtung im Sinn, den Tod durch organisierte Vernachlässigung?

Diese Fragen werden im 2. Teil der Radiosendung beantwortet.

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Nachtrag: Prof. Dr. Jens-Christian Wagner ist seit Ende 2020 Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Weimar

Literaturnachweis:

  • Moi, Arne: Das Lager – Ein Norweger in Bergen-Belsen, 2002, Vandenhoeck & Ruprecht
  • Konzentrationslager Bergen-Belsen – Berichte und Dokumente, 2. Auflage 2002, Vandenhoeck & Ruprecht
  • Archiv Yad Vashem

Film:

https://www.youtube.com/watch?v=Ep3QkJTKqrE

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KZ Bergen-Belsen Teil 2

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„Von diesem Schreckenslager wird sicherlich jeder auf seine Art erzählen. Dabei wird es auch Wahrheiten geben. Veränderliche, unterschiedliche, relative Wahrheiten. Alles hängt vom subjektiven Standpunkt ab, von der Lage, in der man seine Beobachtungen anstellt, und vom individuellen Blickwinkel, mit dem man dieses ganze Schauspiel betrachtet …“ (11.10.44 Hanna Levy-Hass – Sprecherin A. Kütemeyer)

(Musikakzent)

Anmoderation:

Im ersten Teil der Sendung ging es um die letzten Tage des KZ Bergen und die Befreiung durch die britische Armee.

Heute geht es um Fragen wie:

Hatte die SS bei der Planung des Lagers Bergen-Belsen schon die Massenvernichtung im Sinn, den Tod durch organisierte Vernachlässigung?

Was hat es mit dem Austauschlager auf sich?

Kam es tatsächlich zu einem Austausch von Häftlingen ins Ausland?

Gibt es auch Aufzeichnungen, die im KZ Bergen-Belsen geschrieben wurden?

Bleiben Sie dran und hören Sie einfach rein:

(Musikakzent)

KZ Gedenkstätte Bergen Belsen

Heute reise ich ein weiteres Mal zur KZ Gedenkstätte Bergen-Belsen. Bergen-Belsen liegt ca. 60 Kilometer von Hannover entfernt und ca. 25 Kilometer nördlich von Celle.

Ich erhoffe mir, dass ich ein wenig mehr darüber erfahren kann, was dort geschehen ist. Mir ist bewusst, dass ich nur einen Bruchteil von den tatsächlichen Zuständen im KZ Bergen-Belsen erfahren kann.

Zwischen meinem ersten Besuch in der KZ Gedenkstätte Bergen-Belsen und heute sind einige Monate vergangen. Diese Monate habe ich genutzt, um Fachbücher, Bücher und Tagebücher von ehemaligen Häftlingen zu lesen.  Auch habe ich über das Internet einige Interviews mit ehemaligen Häftlingen angehört.

Heute möchte ich mir die Ausstellung noch etwas genauer ansehen. Der Gedenkstättenleiter  Dr. Jens-Christian Wagner und sein Stellvertreter Dr. Thomas Rahe haben mir bereits einige Fragen beantwortet.

Als erstes gehe ich im unteren Bereich der Ausstellung bis zur großen Fensterfront.

Rechts an der Wand  hängen sechs topographische Karten. Die Karten zeigen, wie das Lager so nach und nach ausgeweitet wurde. Verschiedene Farben kennzeichnen die unterschiedlichen Lagerbereiche.

Von Jens-Christian Wagner weiß ich, dass es zuerst ein Kriegsgefangenenlager gab:

„… seit 1940 war es schon ein Kriegsgefangenenlager, das von der Wehrmacht verwaltet wurde, in dem insbesondere im Winter 1941/1942 mindestens so entsetzliche Zustände herrschten wie im Frühjahr 1945 im KZ Bergen-Belsen. In diesem Winter 1941/1942 sind hier fast 20.000 sowjetische Kriegsgefangene auf elende Art und Weise auf Grund (von) Hunger, Krankheiten, mangelnder medizinischer Versorgung und vor allen Dingen auch auf Grund mangelnder Lagerhygiene ums Leben gekommen. Die Gefangenen waren in Erdhütten untergebracht – es gab gar keine Baracken. … Sowjetische Kriegsgefangene … stellten … nach den Juden die größte Opfergruppe im Nationalsozialismus. (O-Ton Wagner)

Michail Levin kam aus Moskau und war mit 19 Jahren als sowjetischer Kriegsgefangener in das Stalag Bergen-Belsen XI C (311) gekommen. Er hat diesen harten Winter 1941/42 erlebt:

„Hunderte wurden täglich mit dem Karren weggebracht. Morgens, nach dem Wecken, bevor man zum Appell antrat, lagen schon einige Leichen auf den Pritschen. Man lud sie auf einen Karren und brachte sie zum Friedhof. (…) Am Anfang hatte man einfach Angst diese Leichen auf den Karren zu laden. Wie alt war ich 1941? Ich war 19 und hatte so etwas noch nie gesehen. Man faßte zu zweit oder zu dritt an. Wir waren nicht besonders stark. Wir fassten sie an Händen und Füßen und warfen sie auf diesen Karren Sie waren praktisch nackt. Einige hatten Nummern, andere nicht. Sie wurden dort hingefahren und dann nicht hineingelegt, nein, einfach hineingeworfen.“ (Genehmigung Gedenkstätte Bergen-Belsen – Sprecher Peter Bieringer)

(Musikakzent)

Später bestanden einige Teile der Lager in Bergen-Belsen parallel:

„Als im Frühjahr 1943 das sogenannte Austauschlager für die jüdischen Geiseln eingerichtet wurde, …, gab es das Kriegsgefangenenlager noch, und das Austauschlager und das Kriegsgefangenenlager haben zeitweise parallel am selben Ort existiert. Ein Jahr später (im April 1944) wurde das Männerlager eingerichtet, …. Zu diesem Zeitpunkt gab es das Austauschlager natürlich nach wie vor, das gab es bis zum Ende des Krieges. Auch das Kriegsgefangenenlager existierte zu dem Zeitpunkt noch. Dann kam im Sommer 1944 das Frauenlager dazu. …. Im Sommer 1944 gab es hier 4 Lager an einem Ort. Das änderte sich im Dezember/Januar 1944/1945, als das Kriegsgefangenenlager endgültig von Bergen-Belsen weggezogen wurde. Zu diesem Zeitpunkt gab es dann „nur“ noch 3 Lager hier am Ort, nämlich das Austauschlager für die jüdischen Geiseln, das Männerlager für die nicht mehr arbeitsfähigen Männer und das Frauenlager für Frauen, die in anderen Lagern Zwangsarbeit leisten sollten.“ (O-Ton Wagner)

Das sogenannte Austauschlager wird auch Geisellager genannt. In das Austauschlager kamen ausschließlich jüdische Häftlinge, die gegen im Ausland internierte Deutsche ausgetauscht oder gegen materielle Gegenleistungen freigelassen werden sollten.

Dr. Thomas Rahe erklärt mir die damit verbundenen Konsequenzen für das Austauschlager:

„Diese Grundfunktion, die man Bergen-Belsen damit zugeschrieben hat, die hatte für das Lager zunächst 3 wesentliche Konsequenzen. Das erste war, dass es von Beginn an, und zwar als einziges der KZ-Hauptlager in Nazideutschland, ein Lager war, das zunächst nur für jüdische Häftlinge eingerichtet worden ist, in dem es über mehrere Monate tatsächlich auch nur jüdische Häftlinge gab, abgesehen von einem Baukommando, das temporär hier eingesetzt worden ist. Das zweite war: Die Lebensbedingungen waren zunächst besser als in den anderen Konzentrationslagern. Das hatte nichts mit humanitären Überlegungen zu tun, sondern folgte einfach der Logik: Wenn man Häftlinge austauschen will oder gegen materielle Gegenleistungen freilassen will, müssen die zumindest noch leben, sonst kann man sie für den Zweck nicht verwenden, und man rechnet damit, dass im Lauf der nächsten Monate eben solche Austauschaktionen zustande kommen, d. h. die Häftlinge sollten nicht schon durch ihren körperlichen Zustand dokumentieren, wie es in einem deutschen Lager wirklich zugeht. Zu diesen besseren Lebensbedingungen gehörte auch, dass die Häftlinge Gepäck mitbringen durften ins Lager und dieses Gepäck im Lager auch benutzen durften. D. h., dadurch waren wichtige materielle Voraussetzungen gegeben für ein heimliches kulturelles religiöses Leben im Lager. Und die dritte Konsequenz war, dass von Beginn an Bergen-Belsen ein Familienlager war. D. h., anders als in anderen Konzentrationslagern, wo es ja in der Regel Einzelpersonen waren, gerade wenn es um die politischen Gefangenen geht, war es in Bergen-Belsen so, dass von Beginn an in diesem Austauschlager die Häftlinge überwiegend als Familien hier nach Bergen-Belsen gekommen sind, d. h. von Beginn an gibt es eine große Zahl von Kindern im Lager hier,…“ (O-Ton Rahe)

Celino Bleiweiss war eines der Kinder, das mit einer Familie nach Bergen-Belsen gekommen ist. Hinter dieser dreiköpfigen Familie steckt aber ein im Lager gut behütetes Geheimnis.

„Ich war in einem Sonderlager mit neuen Eltern. Ich komme aus Przemyśl. Przemyśl ist eine Stadt im Osten Polens, jetzt an der ukrainischen Grenze. Und als dann die Deutschen die Stadt besetzten und später dann ein Ghetto einrichteten. Es lebt dann in diesem Ghetto ein Mann namens Bleiweiss. Er hatte sicher gefälschte amerikanische Papiere für sich, seine Frau und sein Tochter Celina. Frau und Tochter wurden bei einer Geiselerschießung umgebracht. … Und später 1943 kam eine Verordnung der Deutschen, dass alle, die besondere Papiere, südamerikanische, Palästina, englische, römisches Mandatsgebiet, südafrikanische, amerikanische, ganze Familien. Sie sollen sich melden, die ganze Familie. Sie würden gegen deutsche Kriegsgefangene ausgetauscht. Und dieser Mann, Richard,  hatte noch die Papiere von Frau und Tochter auch noch. Und zu seinem Bekanntenkreis gehörte meine Familie. Und dann ist meine, eine meiner Cousinen als Ehefrau mitgegangen und meine Eltern haben mich mitgegeben. Und mit einem kleinen Häkchen, der kleinen Fälschung in den Papieren (hustet) wurde aus Celina Celino. So bekam ich den Namen. (Ich) hab(e) schnell lernen müssen Vater und Mutter zu den  beiden zu sagen.“ (O-Ton Bleiweiss)

Die gefälschten Papiere retten ihm und seinen Ersatzeltern das Leben. Kurz vor Ende des Krieges wird die Familie noch auf einen Transport geschickt und in der Nähe von Tröbitz von der russischen Armee befreit.

Allerdings hat diese Fälschung auch heute noch eine Auswirkung auf das Leben von Celino Bleiweiss.

Er kennt inzwischen seinen ursprünglichen Namen, er kann aber seine Identität nicht beweisen. Auch hat er vor einiger Zeit erst sein echtes Geburtsdatum erfahren:

„Und ich bin bei dem Namen geblieben. … Erst im vergangenen Jahr [Anm. ca. 2014] im Archiv der Stadt, in der ich geboren bin, habe ich den richtigen Geburtstag erfahren. Ich bin 2 Jahre älter. Aber ich ändere natürlich an nichts.“ (O-Ton-Bleiweiss)

Seine leiblichen polnisch-jüdischen Eltern wurden vermutlich  im September 1939 beim Massaker ermordet.

Das vollständige Gespräch kann man sich anhören auf MEMORO – Die Bank der Erinnerungen e.V. unter dem Link www.memoro.org/de-de/.

(Musikakzent)

Nicht alle Staatsangehörigkeitsnachweise oder Einreisezertifikate der Häftlinge wurden von der SS anerkannt. Für diese Häftlinge war Bergen-Belsen nur eine Zwischenstation auf dem Weg in ein Vernichtungslager.  Etwa 1800 polnische Juden wurden von Bergen-Belsen nach Auschwitz-Birkenau transportiert und dort direkt nach der Ankunft ermordet.

Den Häftlingen täuschte man vor, dass sie austauscht werden sollten:

„.. um einfach keine Unruhe im Lager entstehen zu lassen, wurde erklärt, man bringe die bei diesem ersten Transport, den es aus den polnischen Sonderlager von Bergen-Belsen nach Auschwitz gab, … in ein … Lager „Bergau“ bei Dresden, das es überhaupt nicht gab. Es gibt auch Tagebücher aus dieser Häftlingsgruppe, und denen kann man eben entnehmen, dass sie diejenigen beglückwünscht haben, die jetzt mit diesem Transport rauskamen, … und bedauerten, dass sie jetzt nicht auf dieser Liste standen und herauskommen aus Bergen-Belsen, und die haben eben tatsächlich erst nach Kriegsende erfahren, dass diejenigen, die mit diesen Transporten rausgebracht wurden, tatsächlich nach Auschwitz deportiert worden sind und dort dann ermordet worden sind.

Wir haben in einem Fall auch noch einen anderen Beleg dafür. Es gab nämlich bei einem dieser Transporte, die dann in Auschwitz-Birkenau an der Rampe angekommen sind, einen Zwischenfall, der in den Akten des Lagerkomplexes in Auschwitz sich niedergeschlagen hat. Eine Frau aus diesem Transport ahnte offensichtlich, was da nun passieren würde, und hat sich auf einen der SS-Leute gestürzt, ihm das Gewehr entrissen, ihn dann erschossen. Dann gibt es sozusagen  … einen Kampf zwischen den jüdischen Häftlingen und dem vor Ort vorhandenen SS-Personal. Natürlich haben die jüdischen Häftlinge aus Bergen-Belsen keine reelle Chance, d. h. es wird dann relativ schnell dieser Miniaufstand sozusagen niedergeschlagen, und sie kommen alle in die Gaskammern, und es ist ausdrücklich nochmal in den Akten beschrieben, was da passiert ist, weil es eben so außergewöhnlich war, dass aus den Häftlingen bei der Selektion oder bei der Ankunft dieses Transportes, der für die Vernichtung vorgesehen war, es einen Angriff auf das SS-Personal gegeben hat. (O-Ton Rahe)

(Musikakzent)

Wurden tatsächlich auch Häftlinge ausgetauscht?

(Musik)

Ursprünglich sollten 30.000 Häftlinge ausgetauscht werden. Aber letztendlich wurden viel weniger ausgetauscht. Warum war das so? Thomas Rahe weiß die Antwort:

„Es gab verschiedene Gründe dafür. Man tendiert dazu zu sagen, es wäre doch eigentlich viel mehr möglich gewesen, über Bergen-Belsen viel mehr Juden zu retten.   …. Das ist auch wahrscheinlich richtig diese These, aber auf der anderen Seite muss man auch die Faktoren in den Blick nehmen, die eine Rolle gespielt haben, und da darf man es sich auch in der historischen Bewertung nicht zu einfach machen. Man kann nicht einfach sagen: Ja, es gab also dann in den staatlichen Einrichtungen und beim Militär sowohl bei den Briten als bei den Amerikanern durchaus auch Antisemitismus. Es mag auch eine gewisse Rolle gespielt haben. Aber man muss sich natürlich vorstellen: Mitten im Kriegszustand holt man Zivilinternierte, Zivilpersonen raus aus dem Gebiet des Gegners und man weiß gar nicht genau: Was sind das für Leute? Sind das vielleicht auch Spione, die Überlegung gab es durchaus z. B. bei den Amerikanern. Das kann auch ein Einfallstor sein für Spione oder Leute, die Attentate verüben wollen, …. Und hinzu [kommt]  z. B.: es wurden dann Personenlisten auf beiden Seiten erstellt, die für den Austausch vorgesehen waren, und manchmal waren z. B. die Personen, die die Briten auf den Austauschlisten hatten, überhaupt nicht mehr am Leben, weil die längst aus Ghettos z. B. in Vernichtungslager deportiert worden waren und dort umgebracht worden waren. Also da gibt es verschiedene Gründe, warum tatsächlich diese Zahl der real Ausgetauschten deutlich geringer war, als zunächst geplant gewesen ist“. (O-Ton Rahe)

Tatsächlich gibt es mehrere Austauschaktionen:

„Die erste findet statt genau Mitte 1944, der sog. Palästina-Austausch. Da kommen tatsächlich 222 Häftlinge aus Bergen-Belsen heraus: Mit einem Zugtransport werden die bis Palästina gebracht bis Haifa, und im Gegenzug werden vor allen Dingen sog. Templer, d. h. also religiös motivierte deutsche Siedler, die im 19. Jahrhundert meistens schon nach Palästina gekommen waren, dann ebenfalls mit dem Zug über den Balkan dann ins Deutsche Reich gebracht. Und auch in der Folgezeit gibt es immer wieder …  in größerem und kleinerem Umfang, solche Austausch- bzw. Freilassungsaktionen,  …“. (O-Ton Rahe)

Die größte Freilassungsaktion gab es im Zusammenhang mit ungarischen Juden. Ladislaus Löb (LL)war einer der Freigelassenen. Er war damals 11 Jahre alt.

Ich erinnere mich an sein  Interview mit einem Mitarbeiter der Bundeszentrale für politische Bildung. Mit ihm sprach er über die Hintergründe der Freilassung:

Sie haben ein Buch verfasst „Geschäfte mit dem Teufel“. Worin ging es in dem Buch? Was waren das für Geschäfte?

LL: Das geht um die Rettung von mindestens 1700 … Juden im Holocaust durch einen anderen …  Juden mit Namen Rezső Kasztner, der mit der SS, also mit Eichmann ein Geschäft machte und diese … 1700 Juden freikaufte mit der Absicht noch weitere Juden freizukaufen, was ihm dann nicht mehr gelungen ist. Einerseits ist das eine sehr triumphale Geschichte, dass man so viele Juden retten kann aus einem deutschen Konzentrationslager noch mitten im Krieg. Andererseits ist es tragisch, weil so viele umgekommen sind und weil Kasztner selbst später  in Israel umgebracht worden ist. Weil er angeblich – was ich nicht glaube – mit Eichmann kollaboriert hätte.

Sie verdanken selbst Ihr Leben Rezső Kasztner. Was sind genau die Hintergründe dieses Handels?

LL: Die Hintergründe sind eine Idee, wahrscheinlich – man weiß ja, soviel ist ja vernichtet worden im Krieg, Dokumente – aber wahrscheinlich war es ein Versuch von Himmler, die Alliierten im letzten Kriegsjahr zu spalten, indem er ihnen eine Million jüdischer Leben angeboten hat für 10 000 Lastwagen und andere kriegswichtige Güter, die an der Ostfront eingesetzt worden wären. Was natürlich sofort die Russen gegen die Briten, gegen die Amerikaner gewendet hätten. Und das war wahrscheinlich die Idee von Himmler. Andererseits, da war eine kleine jüdische Gruppe von, sagen wir, von selbst ernannten Rettern und Helfern, die es auf sich genommen haben, die ungarischen Juden zu retten, was ihnen leider nicht gelungen ist. Aber die haben die Idee gehabt, es war alles auf Bluff aufgebaut. Die haben die Idee gehabt: Wenn sie die westlichen Alliierten überreden könnten diesen Handel, oder diesen angeblichen Handel mit Himmler einzugehen, dann, oder so tun, als ob sie dran interessiert wären. Dann hätte Kasznter und seine kleine Gruppe, die ich genannt habe, zurückgehen können zu den Nazis und sagen können: „Hört zu, die Briten und Amerikaner nehmen Euch ernst, aber jetzt müsst ihr mal wieder guten Willen zeigen, in dem ihr im letzten Moment noch, die noch lebenden Juden am Leben erhaltet. Und das, auf beiden Seiten wäre das Bluff gewesen und es ist leider nichts draus geworden.  Immerhin geworden ist daraus die Rettung von 1700 und wahrscheinlich 15.000 anderen, die statt Auschwitz in ein Arbeitslager gekommen sind.

Zeigt sich da, dass doch mehr Handlungsspielraum auch möglich war, als man gemeinhin annimmt?

LL: Sicher im letzten Kriegsjahr. Ob das früher so gewesen wäre, weiß ich nicht. Aber im, das war 1944. Da haben die Deutschen schon gewusst, dass sie den Krieg verloren haben. Und Himmler hat eben versucht, da sich einen Ausweg zu schaffen.

Also Kasztner ist ja eigentlich eine Heldenfigur, weil er ja Menschenleben gerettet hat, weil es auch viel Mut erfordert hat, mit Eichmann persönlich zu verhandeln und seinen Komplizen. Warum ist er in Israel eine so ambivalente Figur und warum ist er sogar einem Attentat zum Opfer gefallen?

LL: Dazu muss man etwas von der israelischen Politik wissen, und zwar zwei Sachen mindestens. Die Israelis [1] mussten natürlich hilflos und untätig zuschauen, wie die europäischen Juden abgeschlachtet worden sind … (undeutlich: Israelis fast nach Palästina unter den Briten). Und dazu, darauf reagiert man natürlich ganz schön zwiespältig. Einerseits hat man natürlich Mitleid mit den Brüdern und Schwestern, die da abgeschlachtet werden. Andererseits hat man Ungeduld mit denen. Man meinte: „Wehrt euch doch, greift zu Waffen. Macht etwas.“ Was sie natürlich nicht machen konnten. Aber trotzdem, die Juden in Israel waren damals sehr militant, ja auch heute. … (undeutlich) waren aggressiv. Und das war die eine Seite der Sache. Sie haben es also den europäischen, den Juden übel genommen, dass sie sich abschlachten ließen. Sie haben die europäischen Juden verachtet, dafür, dass sie sich durch Verhandlungen, durch Ducken, durch Einschmeicheln usw. retten wollten. Und manchmal konnten und manchmal nicht konnten. Und die andere Seite war, dass in Israel fast Bürgerkrieg herrschte am Anfang, in der Zeit der Anfänge des Staates Israel. Da war die Mitte, die mit den Engländern verhandeln und sie auf diese Art loswerden wollte und die war dann jahrzehntelang die Regierung in Israel. Auf der anderen Seite waren die Revisionisten, die waren extrem rechts. Und die wollten die Engländer mit Gewalt vertreiben. Die hatten terroristische Gruppen dabei gehabt. Und diese beiden Gruppen haben fast einen Bürgerkrieg veranstaltet in Israel. Und beide Gruppen, Kasztner ist so ins Kreuzfeuer geraten, zwischen diesen beiden Gruppen. Und er ist angeklagt worden eben mit Kasztner kollaboriert zu haben, sorry mit Eichmann kollaboriert zu haben.

Herr Löb vielen Dank für das Gespräch. (O-Ton/CC-Lizenz)

In der Bibliothek der KZ Gedenkstätte Bergen-Belsen finde ich sein Buch Geschäfte mit dem Teufel“ und lese über das Leben im :

„Der Kaffee, der früh am Morgen zum Frühstück und am Spätnachmittag zum Abendessen verteilt wurde, bestand aus irgendeiner Ersatzsubstanz. Ich höre noch immer einen unsere Mitgefangenen, …, zweimal am Tag brüllen: „Zum Kaffee antrettten!“ Wir traten zwar an, aber was wir bekamen, hatte mit Kaffee höchstens die Farbe gemeinsam.

Die tägliche Suppe brachte man aus der Lagerküche in Behältern von 25 oder 50 Litern. Sie enthielt Steckrüben, Mangold und andere Wurzelgemüse, die wir bisher als Viehfutter gesehen hatten. … An Glückstagen fanden wir Kartoffelschalen und sogar Kartoffeln im grauen Brei. Wenn wir noch mehr Glück hatten, waren auch ein paar Fleischstücke dabei.

An den ersten Tagen fanden wir diese Suppe ganz ungenießbar. Wir ließen sie in den Behältern oder versuchten sie an unsere Nachbarn im nächsten Lagerteil weiterzugeben. Aber mit der Zeit waren wir froh darum.

Wie alle anderen hatte auch ich dauernd Hunger, aber einige Gemüsesorten – hauptsächlich eine Art Möhre und Bete – brachte ich einfach nicht herunter. Mein Vater gab mir dafür einen großen Teil seiner übrigens Rationen.

Die Feinheiten blieben mir damals verborgen, aber ich sah mehr als einmal Schlägereien wegen des Essens ausbrechen und ich erinnere mich heute noch an die Mischung von Faszination und Schock, die ich empfand, als ich beim ersten Mal nach einem solchen Krach auf dem Gesicht eines angesehenen Juristen Blut sah.

Eines Tages wurden fünfzehn Fässer abgestandene Muscheln vor unseren Füßen ausgeschüttet. Die Leute … griffen mit beiden Händen in den schlüpfrigen schwarzen Haufen und stopften sich ihre Taschen voll. Dann zogen sie sich kurz aus dem Kampf zurück, um die Mollusken aus ihrer Schale zu saugen, bevor sie sich wieder in das Getümmel stürzten, um mehr zu ergattern. … Ich wäre gern mit von der Partie gewesen. Leider hatte es mir mein Vater aus Angst vor einer Magenvergiftung verboten.

Ich lese weiter. Es gab auch kulturelle Aktivitäten und Schulunterricht:

„Ein herausragendes Beispiel … war eine Folge Sketche, … Das war „Radio Ojweh“, eine Parodie des raffinierten politisch-literarischen mitteleuropäischen Kabaretts als Rundfunksendung aufgezogen. Das Programm bestand aus Pseudonachrichten, satirischen Szenen, komischen Liedern, die sich über die bunteren Mitglieder, die deutschen Soldaten, das Essen, die Latrinen, das Wetter, die Streitigkeiten der politischen Parteien und viele aktuelle Themen lustig machten.

Wie schon gesagt, befanden sich ungefähr 320 Kindern und 30 Lehrer in der Gruppe und bald nach unserer Ankunft wurde zum Leidwesen der Kinder der Beschluss gefasst, Unterricht zu organisieren. … Theoretisch war Schulbesuch von einer oder zwei Stunden am Tag obligatorisch, aber die Schüler kamen unregelmäßig und Lehrmaterial fehlte, sodass der Unterricht weniger wirksam ausfiel, als die Organisatoren gehofft. Bei gutem Wetter fanden die Stunden im Freien statt, wo der Mangel an Papier zum Teil dadurch kompensiert wurde, dass wir mit unseren Fingern oder kleinen Holzstückchen in den Sand und Staub schreiben konnten. Als der Herbst kam, wurden wir in die überfüllten Baracken kommandiert, und die Stunden liefen sich allmählich tot.

Gut besucht waren die Sprachkurse, sowohl für Erwachsene wie Kinder. In Folge der Dominanz der Zionisten war Hebräisch die gefragteste Fremdsprache, aber Englisch, Französisch und sogar Deutschkurse hatten großen Zulauf.

Alle diese kulturellen Aktivitäten konnten uns das Elend des Lagers erleichtern. Sie konnten es nur für Augenblicke, aber diese Augenblicke waren kostbar“. (Sprecher Peter Bieringer)

(Musik)

Die meisten Häftlinge im Austauschlager wurden nicht ausgetauscht. Ich suche in der Bibliothek nach veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen.  Jens-Christian Wagner erzählt mir, dass die überlieferten Tagebücher im Wesentlichen aus dem Austauschlager stammen:

Das hat aber tatsächlich nur im Austauschlager stattgefunden, in dem etwas bessere Bedingungen herrschten, in dem den Häftlingen auch gestattet war, oder es zumindest geduldet wurde, dass sie private Habseligkeiten hatten, deswegen konnte da auch Tagebuch geschrieben werden, während das im Frauen- und im Männerlager nicht der Fall war.“

Ich finde einen Bericht von Sophie Götzel-Leviatan in dem Buch „Konzentrationslager Bergen-Belsen“. Ihr Bericht befindet sich auch in der Gedenkstätte Yad Vashem . Sophie Götzel-Leviatan kam im Juli 1943 von Warschau nach Bergen-Belsen:

„Dann sahen wir uns im Lager um. Neben unserer sind andere Baracken, auch gegenüber von uns und hinter uns. Jede Baracke hat eine Nummer. … Einige Baracken sind von anderen Baracken durch ein hohes eisernes Tor getrennt. Wir erfahren, dass vor dem Tor die Frauen- und hinter dem Tor die Männerbaracken liegen. Um 9 Uhr abends wird das Tor geschlossen. Es darf sich dann bei Strafe kein Mann auf der Frauenseite, keine Frau auf der Männerseite befinden. Das ganze Lager ist von einem hohen engmaschigen Drahtgitter umgeben. Im Lager ist ein großer freier Platz. Längs des Drahtgitters, im rechten Winkel zu den Baracken, sind barackenähnliche Bauten ohne Fenster. Es sind die Latrinen des Lagers. … Hinter dem das Lager umgebenden Stacheldraht sind in je 150 Meter Entfernung voneinander Wohntürme … In jedem der Wohntürme sitzt ein Soldat. Er hat große Reflektoren, mit denen er abends das Lager ableuchtet. Vor dem Lager sind rechts und links Schilder, auf die Totenköpfe gemalt sind. Darunter steht die Aufschrift:  ‚Achtung! Neutrale Zone. Es wird ohne Anruf scharf geschossen‘.

Es sind zweistöckige Holzbetten. Auf aneinandergelegte Holzbretter wird ein Strohsack gelegt. Darauf kommen die Militärdecken. Wer ein kleines Kopfkissen hat, liegt darauf. Wer eine Decke oder ein Leintuch besitzt, ist ein König …

Der Tagesablauf …:

Wir bekommen gegen 6 Uhr Morgenkaffee, stehen gegen 8 Uhr auf, waschen uns, machen Betten. Um 12 Uhr ist Mittag, … Nachmittags ist Brotverteilung. Es gibt täglich 300 Gramm pro Kopf. Auch etwas Margarine, später Butter, Marmelade oder etwas Weichkäse. Sontags gibt es ein Stück Blutwurst. … Die Kinder bis zu 6 Jahren haben es besonders gut. Sie bekommen einen Liter Grieß oder Nudeln auf Milch und mehr Butter.

… Wir haben jeden Tag Appell. Wir müssen um 3 Uhr nachmittags alle vor unseren Baracken stehen.

… wir entdecken die Waschgelegenheit. Es sind im Freien vor den Baracken lange Waschbecken aufgerichtet, mit vielen Wasserhähnen.

… Wir sind auch schon baden gegangen. … Wir gehen vorbei an Baracken, über ein Bahngleis. … Vor  dem Bad mussten wir lange stehen. Dann hat ein SS uns die Türe geöffnet und uns hereingeführt. In dem großen Vorraum stehen Bänke und Bretter mit Nägeln. Wir müssen uns schnell ausziehen. Auf einen Pfiff fängt das Wasser an zu laufen. Erst kalt, dann wärmer, dann heiß. Nach 7 Minuten wird auf einen Pfiff das Wasser abgestellt. Wir müssen bis dahin uns und unsere Haare gewaschen haben.“ (Sprecherin A. Kütemeyer)

Im Sommer 1944 erfolgt ein Umzug in dunkle Steinbauten:

Das Essen hat sich … bedeutend verschlechtert. Wir bekommen jetzt mittags eine Suppe aus Kohl oder Spinat, die aber ohne Fett ist, als Brotaufschnitt Margarine statt Butter, anstelle der guten Marmelade säuerliches Kompott. Abendsuppe bekommen wir einen Monat lang nicht. Wir fühlen uns alle schlecht, sind alle dauernd hungrig und gereizt. … Wenn wir die Brotration für einige Tage bekommen, machen wir uns mit dem Messer Zeichen an das Brot, wie viel wir pro Tag essen dürfen. Wer sich nicht beherrschen kann, isst in den ersten Tagen seine ganze Ration auf und muss die letzten Tage ohne Brot auskommen. Da legt man sich einfach ins Bett. Im Liegen ist der Hunger besser zu ertragen.“ (Sprecherin A. Kütemeyer)

(Musikakzent)

Nun halte ich das Buch von Hanna Lévy-Hass „Tagebuch aus dem KZ Bergen-Belsen  1944-1945“ aus dem Beck Verlag in den Händen. Hanna Lévy-Hass wurde in Sarajewo im ehemaligen Jugoslawien geboren.  Sie führte ihr Tagebuch von August 1944 – April 1945. Durch diese Aufzeichnung erhalte ich einen kleinen Einblick in das Lagerleben.

„22.8.44

Der starke Platzmangel und die Schwierigkeiten, die Sauberkeit aufrechtzuerhalten, all das wird einem zu viel. Die Regentage verwandeln den ganzen Boden in Schlamm, was den allgegenwärtigen Schmutz und das Ungeziefer noch mehrt. Und das alles ist begleitet von unaufhörlichen Schikanen, die vom gemeinsamen Feind, dem Nazi, systematisch gefördert werden.

28.8.44

Ich habe die Aufgabe übernommen, mich um die Kinder zu kümmern. In unserer Baracke sind 110 Kinder verschiedenen Alters, von dreijährigen Kleinkindern bis zu vierzehn- und fünfzehnjährigen Jungen und Mädchen. Ohne irgendein Buch zu arbeiten, ist nicht leicht. Ich bin gezwungen, mit der Hand kleine Fetzen Papier …mit verschiedenen Themen zu beschreiben, für die ganz Kleinen, die kaum lesen und schreiben können, und für die am weitesten Fortgeschrittenen. Papier und Bleistift verschaffen sich die Kinder, wie und wo sie können…

29.8.44

Eine Art allgemeines Misstrauen herrscht in diesem Lager und auch in unserer Baracke. Vollkommene Interesselosigkeit für das Schicksal der anderen, Mangel an Solidarität und Herzlichkeit.

30.8.44

Draußen bei der Arbeit, werden Männer bestialisch gequält. Die deutschen Bestien halten an ihrer bevorzugten Methode fest: furchtbare Schläge und große, hysterische Beschimpfungen. Sie zwingen die Arbeiter in die erniedrigendsten Situationen, veranlassen sie auf Knien zu rutschen und im Laufschritt Wagen zu ziehen. Dabei werden sie furchtbar gehetzt wie Diebe.

Dieser regelmäßige Appell dauert täglich wenigstens zwei bis drei Stunden, und sehr oft … wird er unter irgendeinem Vorwand oder wegen irgendeines „Zufalls“ auf fünf bis sechs Stunden oder sogar den ganzen Tag ausgedehnt, egal, was für Wetter herrscht.

25.9.44

Eine unbekannte Epidemie erfasst das Lager, insbesondere die Frauen und Kinder. Sie äußert sich durch zwei bis drei Wochen andauerndes hohes Fieber, Ohnmachten, absolute Erschöpfung und totale Appetitlosigkeit. … Und dann die Abszesse und die offenen Wunden, die von Ungeziefer oder Unterernährung herrühren; Geschwüre, die ständig nässen, Furunkeln … anormale Schwellungen (Ödeme), Krämpfe, alle Arten von Infektionen … Medikamente sind selten oder fehlen überhaupt… z u all dem sind die Wasserleitungen drei Viertel der Zeit ohne Wasser, ohne triftigen Grund.

(Musikakzent)

Ich wechsele noch einmal zurück zu dem Buch „Konzentrationslager Bergen-Belsen“. Hier finde ich einen Tagebucheintrag vom 9. Oktober 1944 von Lilly Zielenziger. Sie ist in Berlin geboren. Sie war zur gleichen Zeit wie Hanna Lévy-Hass im Aufenthaltslager:

„9. Oktober 1944

… Da oft abends jetzt schon sehr früh das Licht wegen Luftalarm ausgedreht wird, ziehe ich mich schon um 7 Uhr gleich nach dem Essen aus, um bequemer ins Bett zu kommen.

So auch gestern, nachdem ich mit Pfifferlings (Ehepaar Pfifferling) gegessen hatte. Wir hatten voller Heroismus drei Kartoffeln aufgehoben, um sie abends zu braten, und mit ihrem Esbit und meiner Butter war es ein Festessen, danach noch Fischpastete, Harzer Käse… und als Dessert eine Scheibe Weißbrot mit Jam.

So unterhielt ich mich gerade im Morgenrock noch nach dem Essen mit einer Bettnachbarin über Musik, als deren Mann uns aufforderte, in die Griechenbaracke 21 zu einem Konzert zu kommen, was wir sofort gern taten.

Und es war ein Erlebnis. …

Eine ungarische Geigerin spielte Sarasate und später Wiener Lieder, eine Holländerin sang Hallelujah und Bohème, ein Sänger ebenfalls Bohème.

Dies alles in einer schmutzigen Baracke mit der Elite des Lagers, die einst bei Mengelberg oder Furtwängler Zuhörer in dem entsprechenden Dress war. Verhungerte, geschlagene Vertriebene, die dankbar diese Stunde zu genießen imstande sind, und andererseits Menschen, die auf ihre Deportation ihre Geige mitnehmen.

Interessanterweise schreibt Hanna Lévy-Hass einen Tag später:

11.10.44

„Von diesem Schreckenslager wird sicherlich jeder auf seine Art erzählen. Dabei wird es auch ‚Wahrheiten‘ geben. Veränderliche, unterschiedliche, relative Wahrheiten. Alles hängt vom subjektiven Standpunkt ab, von der Lage, in der man seine Beobachtungen anstellt, und vom individuellen Blickwinkel, mit dem man dieses ganze Schauspiel betrachtet …“

Wenn ich beide Tagebucheintragungen vergleiche, empfinde ich das auch so. Es kommt darauf an, in welcher Baracke oder welchem Lagerteil sich man sich befindet.

Hanna Lévy-Hass schreibt am 11.10.1944 weiter:

„Täglich werden die Baracken einer strengen Kontrolle unterzogen. Es ist ein junges Mädchen von der SS …, die in ihrer tadellos sitzenden Uniform elegant und kokett aussieht, hübsch glänzende Stiefel bis zum Knie. Hochmütig, geräuschvoll dringt sie in Begleitung eines Soldaten und des jüdischen Lagerleiters (des Judenältesten) in die Baracke ein …macht übertriebene, provozierende Gesten, wirft den Körper scharf herum und stößt vor einem schlecht gewaschenen Geschirr oder einem nicht sorgfältig gebauten Bett theatralisch berechnete Schreckensschreie aus. Sie glänzt darin, einem schallende, impulsive, schnelle Ohrfeigen zu verabreichen ohne den Handschuh auszuziehen. Mindestens sieben oder acht Häftlinge in jeder Baracke werden von ihr täglich wegen eines Nichts mit Entzug von Brot und Essen bestraft.

Lilly Zielenziger berichtet am 6. November 1944:

„Das Essen ist viel dünner geworden, da wir Zuwachs von 3000 Frauen im angrenzenden Lager aus Auschwitz erhalten haben.“

Hanna Lévy-Hass beschreibt die hygienischen Zustände und die Auswirkungen, die die vielen neuen Transporte mit sich bringen:

20.11.44

Dieses gemeinsame Waschen übersteigt alles, was die normale Vorstellungskraft fassen kann: Alle stehen nackt in einem Raum, der statt Fenster und Türen nur gähnende Löcher aufweist und wo von allen Seiten der Luftzug durchpeitscht. Man wäscht sich, man reibt sich mit kaltem Wasser ab … inmitten von Schmutz, Exkrementen und Abfällen. Und man gewöhnt sich daran.

Dezember 44

Endlose Transporte strömen unablässig herein. Reihen sonderbarer Kreaturen bewegen sich unaufhörlich zwischen den Blocks und Stacheldrähten dahin, erbärmlich, sie sehen schrecklich aus, nicht wie menschliche Wesen … Wir machen auf sie zweifellos denselben Eindruck. Es ist nicht genug für alle da. Täglich ziehen wir um, und es wird immer enger. Schließlich kam der Befehl, daß zwei Personen in einem Bett schlafen sollen, so daß die dreistöckigen Betten …sechs Personen aufnehmen müssen.

Der Schlamm, der Regen und die Feuchtigkeit machen sich jetzt auch innerhalb der Baracken bemerkbar, denn sie sind schlecht gebaut, stark abgenutzt und meist durchlöchert. … Man schwimmt in einem Meer von Mikroben, Läusen und Flöhen, Schimmel und Gestank.

Januar 45

..die Ruhr nimmt unerhörte Ausmaße an. … Alles ist verpestet, verdreckt, unrein. Auch die Bodenbretter, die Betten, die Waschanlagen, der Hof, die Latrinen (Gemeinschaftsklos) – eine Überschwemmung.

Allgemeine Unterernährung … Niemand ist imstande, normal aufrecht zu gehen. Alle Leute wanken, schleppen die Beine nach. Ganze Familien sterben in wenigen Tagen.

Februar 45

Die Kranken liegen, und sie sterben langsam, das heißt, sie verfaulen bei lebendigem Leibe.

März 45

Wir alle sind von typhusartigem Fieber befallen, und wir bleiben im Bett. Unsere Baracke wurde mit einem Drahtverhau umzäunt. Eine Quarantäne wurde eingerichtet.

Die Leichen …sind noch immer hier bei uns, in unsren Betten. Es ist niemand da, der sie wegbringt, und auch kein Platz, wo man sie hintun könnte, alles ist überfüllt. Auch in den Höfen werden die Leichen übereinander gehäuft, Haufen von Leichen, sie werden mit jedem Tag höher. Das Krematorium ist nicht imstande, alle zu verbrennen.“ (Sprecherin G. Kütemeyer)

(Musik)

Alle diese Berichte stammen aus dem Aufenthaltslager. Bei den vielen Lagerbezeichnungen, die ich heute gehört und gelesen habe, muss ich jetzt erstmal etwas sortieren:

Das Aufenthaltslager war also der Sammelbegriff. Die SS hatte für die verschiedenen Häftlingsgruppen voneinander abgegrenzte Teillager eingerichtet. Es gab das „Sternlager“ mit dem großen Anteil niederländischer Juden, das „Ungarnlager“, das „Sonderlager“ für polnische Juden sowie das „Neutralenlager“ für Häftlinge aus neutralen Staaten.

Und aus diesem Neutralenlager finde ich auch in dem Buch „Konzentrationslager Bergen-Belsen“ einen Bericht. Rudolf Levy war seit Juni 1944 Häftling im „Neutralenlager“. Sein Bericht stammt vom 23. Juli 1945. Mir springen besonders folgende Beschreibungen über das Zusammenleben ins Auge:

„Innerhalb des Lagers hatte der Lagerälteste die oberste Disziplinargewalt.

Im Rahmen des Lagers war die Familie die bestimmende Gemeinschaft. Abgesehen von der nächtlichen Trennung lebte die Familie tagsüber gemeinsam. Die Mahlzeiten wurden gemeinsam eingenommen. In der Familie war auch am besten ein Ausgleich der verschiedenartigen Bedürfnisse möglich, vor allem zwischen Eltern und Kindern. … So lag die Hauptlast der Familienarbeit auf der Frau. Die Männer konnten – je nach ihrer Eignung für praktische Arbeit – nur Hilfsarbeit leisten: Bereitung der Mahlzeiten, Waschen, Ausbessern der Wäsche, sowie Krankenpflege. Einzelne verschafften sich zusätzliche Nahrungsmittel durch Arbeit. So gab es drei Schuhmacher, eine Elektrotechniker und Mechaniker. Frauen strickten, nähten oder wuschen. Man bezahlte in Zigaretten, Brot, Mittagssuppe oder sonstigen Lebensmitteln.

So bildete sich aus den Bedürfnissen der Lagergemeinschaft ein Markt heraus, der ursprünglich auf der primitivsten Wirtschaft, dem Tauschverkehr, beruhte.

Man tauschte Suppe gegen Brot, Marmelade gegen Butter. Bald jedoch fand sich ein allgemein anerkannter Wertmesser in Gestalt der Zigarette, der sich zugleich gut als Zahlungsmittel eignete.

Eine Mittagssuppe wurde je nach Qualität mit 4-8 Zigaretten, ein Kilogramm Brot mit 40 Zigaretten gehandelt.

Der Geist des Zusammenlebens war bestimmt vom Hunger und von der Hoffnung auf Freiheit. Die Lagerbewohner fürchteten sich in zunehmendem Maße vor dem Verhungern. Und träumten vom künftigen freien Leben.

Die Konzentration ihres Denkens und Wollens auf das Essen steigerte sich in dem Maße, in dem sich die verteilten Rationen vom Existenzminimum entfernten und in dem sich der Gesundheitszustand der einzelnen verschlechterte. Die Familienmitglieder waren damit beschäftigt, in der Reihe zu stehen, um die zugeteilten Lebensmittel in Empfang zu nehmen, zu überlegen und zu besprechen, wie man mit dem Empfangenen so rationell wie möglich verfahren und auf welchem Weg man die Quantität erhöhen konnte. Das Essen bildete in jeder Hinsicht den überwiegenden Gegenstand der allgemeinen Unterhaltungen und Streitigkeiten. …In diesem kleinen sozialen Gebilde der Zwangsgemeinschaft des Lagers enthüllten sich die Beziehungen zwischen Trieb und Charakter in ihrer sozialen Bedeutung. Zahlreiche Menschen, die im normalen Leben durchaus nützliche Mitglieder der Gesellschaft waren, verloren hier mehr und mehr die Willenshemmungen des Charakters und wurden zu durchaus asozialen Elementen. Hierzu sind jene an der Lebensmittelverteilung Beteiligten zu rechnen, die sich und ihrem Clan zum Nachteil der Allgemeinheit Vorteile zukommen ließen …

Die Ritterlichkeit gegenüber dem Alter und der Frau war einer weitverbreiten Rücksichtslosigkeit gewichen …“ (Sprecher Peter Bieringer)

(Musikakzent)

Die vielen Berichte der Häftlinge öffneten mir nur ein winziges Fenster mit Blick auf die katastrophalen Zustände des KZ Bergen-Belsens.

Von insgesamt ca. 120 000 Häftlingen aus fast allen Ländern Europas starben hier mehr als 52 000 Männer, Frauen und Kinder.

Jeder Überlebende hat seine eigenen Erlebnisse. Hanna Levy-Hass hat dies auch erkannt:

„Von diesem Schreckenslager wird sicherlich jeder auf seine Art erzählen. Dabei wird es auch ‚Wahrheiten‘ geben. Veränderliche, unterschiedliche, relative Wahrheiten. Alles hängt vom subjektiven Standpunkt ab, von der Lage, in der man seine Beobachtungen anstellt, und vom individuellen Blickwinkel, mit dem man dieses ganze Schauspiel betrachtet …“ (Sprecherin A. Kütemeyer)

(Musikakzent)

Im 3. Teil der Sendung geht es um das  Männer- und Frauen-KZ und um die Frage:

Was wusste die Bevölkerung in der Umgebung von Bergen-Belsen?

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Nachtrag: Prof. Dr. Jens-Christian Wagner ist seit Ende 2020 Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Weimar

[1] Die „Israelis gab es noch nicht. Der Staat Israel wurde im Mai 1948 gegründet. Wohl gab es in Palästina (britisches Mandat) lebende vorwiegend russische Juden.

Literaturnachweis:

  • Konzentrationslager Bergen-Belsen – Berichte und Dokumente, 2. Auflage 2002, Vandenhoeck & Ruprecht
  • Lévy-Hass, Hanna: Tagebuch aus Bergen-Belsen 1944-1945, 2009, C.H. Beck
  • Löb, Ladilaus: Geschäfte mit dem Teufel , 2010, Böhlau Verlag

Link:

Ladilaus Löb (dieser Text und Medieninhalt sind unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/)

http://www.bpb.de/mediathek/192739/ich-bin-natuerlich-voreingenommen-er-hat-ja-mein-leben-gerettet

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KZ Bergen-Belsen Teil 3

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„Nun ja, ich kam nach Bergen-Belsen und es war ein Todeslager. …, wir schliefen auf dem Zementboden. Kopf in die eine Richtung, Füße in die andere, wie Sardinen in der Dose.“ (O-Ton Anna G.)

(Musikakzent)

Im zweiten Teil der Sendung ging es um die Berichte von Überlebenden im Aufenthaltslager.

Heute gibt es Berichte von Überlebenden aus dem Männer- und Frauenlager im KZ Bergen-Belsen. Die Berichte lassen einen winzigen Blick auf die hygienischen Zustände, die Grausamkeiten der SS und den Tagesablauf im Männerlager- und Frauenlager zu.

Auch geht um die Frage: Was wusste die Bevölkerung in der Umgebung von Bergen-Belsen?

Bleiben Sie dran und hören Sie einfach rein:

(Musikakzent)

Bei einem früheren Besuch der KZ Gedenkstätte Bergen-Belsen hatte ich mich zuerst mit der Funktion als Aufenthaltslager beschäftigt.

Das KZ Bergen-Belsen erhielt im Frühjahr 1944 aber neue Aufgaben und Funktionen. Der Leiter der KZ Gedenkstätte, Dr. Jens-Christian Wagner, erklärt mir dazu:

„Der zweite Teil des KZ Bergen-Belsen bestand aus dem sogenannten Männerlager, das eine völlig andere Funktion hatte. Hier waren Häftlinge aller Kategorien untergebracht, bei Weitem nicht nur Juden. Jüdische Häftlinge waren sogar tatsächlich hier deutlich weniger untergebracht als politische Häftlinge. Das Männerlager hatte im Wesentlichen die Funktion, … die letzte Station zu sein, für die Häftlinge, die aus anderen Lagern stammten und dort Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie hatten leisten müssen. … immer dann, wenn sie nicht mehr arbeitsfähig waren, und damit ihren Wert verloren hatten für die SS, aber auch für die von der Zwangsarbeit profitierenden Betriebe, dann wurden sie nach Bergen-Belsen geschickt, als Endstation, eigentlich mit der Bestimmung, hier zu sterben, und genau das passierte auch“. (O-Ton Wagner)

Dr. Thomas Rahe, der stellvertretende Gedenkstättenleiter, ergänzt:

„… kranke nicht mehr arbeitsfähige Häftlinge, oft tuberkulosekrank, völlig geschwächt, werden hier nach Bergen-Belsen abgeschoben, angeblich um sie dann hier soweit wiederherzustellen, dass sie dann wieder zurückgebracht werden können an ihre früheren Arbeitsorte in anderen Lagern. Es passiert hier aber praktisch nichts, es gibt praktisch keine medizinische Versorgung dieser Häftlinge, d. h. wir haben enorme Todesraten in diesem Lagerteil zu verzeichnen, und das geht in den folgenden Monaten bis Frühjahr 1945 so weiter“. (O-Ton Rahe)

Da ich mich bei der Gedenkstätte angemeldet habe, habe ich die Möglichkeit in der Bibliothek zu stöbern. Ich erinnere mich an das Buch „Konzentrationslager Bergen-Belsen“.

Hier finde ich den Bericht des Luxemburger Widerstandskämpfers Pierre Petit. Er kam Ende Juni 1944 ins Männerlager.

Laut seinem Bericht bestand das Lager aus drei großen Baracken, einem Appellplatz und einem kleinen Schuppen. In den Schuppen wurden die Toten gebracht, die später im Krematorium verbrannt wurden. Die Baracken wurden in sechs Blöcke untergeteilt. Je zwei Blöcke hatten einen gemeinsamen Waschraum. Die Blöcke hatten jeweils einen Tages- und Schlafraum. Es gab dreistöckige Betten.

Die Ärzte hatten die Häftlinge nach ihrem Gesundheitszustand auf die Blöcke verteilt: In der ersten Baracke waren z.B. in Block 1+2 die weniger Kranken. Sie verrichten Lagerarbeiten oder Erdarbeiten. In Block 4 waren die chirurgischen Fälle und Häftlinge mit Durchfallerkrankungen. In der dritten Baracke lagen die sterbenden Häftlinge.

Pierre Petit beschreibt detailliert einen Morgenappell an einem kalten, regnerischen und stürmischen Novembertag 1944. Die Häftlinge werden um 5 Uhr aus den Betten gejagt. Das Waschen und Anziehen erfolgt im Eiltempo. Sie werden geschlagen und angeschrien. Sie erhalten ein heißes kaffeeähnliches Gebräu. In dünner geflickter Sommerkleidung stehen sie auf dem Appellplatz in Fünferreihen. Sie warten 1-2 Stunden. Dann erscheint die SS. Der Blockführer meldet die Häftlingszahl. Sind die Füße der Häftlinge in den Fünferreihen nicht schnurgrade ausgerichtet, wird wieder geprügelt. Inzwischen sind die Häftlinge durchgefroren, die Füße steif und klamm. Dann wird wieder lange gewartet. Austreten darf niemand. Der Körper fordert sein Recht. Urin, Fäkalien und Regen vermischten sich unter den Füßen. Manchmal erfolgt der Befehl „Hinlegen“. Dann müssen sie sich in ihrem eigenen Dreck und Kot wälzen. Der Rapportführer erscheint. Die letzte Phase des Appells ist vorbei. Die Häftlinge gehen hungrig in die Baracke. Einige Tote bleiben zurück.

(Musikakzent)

Die SS machte sich auch einen Spaß daraus, kranke Häftlinge besonders zu quälen:

„ … die kranken Häftlinge … werden auch noch schwer misshandelt. Und eine dieser Formen der Misshandlung besteht eben darin, dass man sie Sport auf dem Lagergelände machen lässt. Wir reden da von Häftlingen, die entweder hohes Fieber haben, die mit Tuberkulose infiziert sind, und die müssen … schwere sozusagen körperliche Übungen auf dem Lagergelände durchführen, auch das wieder bei jedem Wetter, was natürlich auch nur mit beiträgt zu dieser enormen Todesrate in diesem Männerlager“. (O-Rahe)

Pierre Petit berichtet, dass die Häftlinge sich für diesen „Frühsport“ bei Wind und Wetter nackt ausziehen müssen. Zuerst werden richtige Turmübungen ausgeführt. Dann folgt der Dauerlauf. Er ist von Fußtritten begleitet. Die Turnübungen werden erweitert um Kriechen und Rollen über den Boden, durch Pfützen und Dreck, Robben auf den Ellenbogen. Das schlimmste ist das Hüpfen in der Kniebeuge mit im Genick verschränkten Armen. Die Häftlinge müssen zum Teil 1 -10 Mal um den Appellplatz hüpfen. Die Häftlinge hüpfen um ihr nacktes Leben. Wer umfällt, wird von der SS zusammengetreten.

(Musikakzent)

Die Häftlinge im Männerlager starben nicht nur durch Krankheit, Hunger und Misshandlungen.

Der Häftlingspfleger Karl Rothe tötete ca. 300 Häftlinge durch giftige Phenolspritzen [1]. Karl Rothe wurde durch Häftlinge ermordet:

„Es war auch ein Kapo-Häftling, der, gedeckt durch seine SS-Vorgesetzten, eine große Zahl von Häftlingen durch Benzol-Spritzen [1] ermordet hat. … Und als der SS-Mann, der ihn offenbar protegierte, mal nicht im Lager war, raffen die Häftlinge sich auf, nehmen ihn sozusagen fest, und bringen ihn um, um sozusagen dieser Mordserie dann ein Ende zu machen, auch das ist mehrfach in den Erinnerungsberichten beschrieben. (O-Ton Rahe)

(Musik)

Durch die Auflösung von frontnahen KZs kamen weitere Transporte nach Bergen-Belsen. Auch Witali Kostanda ist unter ihnen. Er wurde in der Ukraine geboren und kam als Zwangsarbeiter nach Deutschland. Später wurde er ins KZ Sachsenhausen eingeliefert. Er kam Anfang 1945 ins Männerlager Bergen-Belsen:

„Als die Fronten näher kamen, wurden die ganzen Außenkommandos aufgelöst und wir kamen wieder nach Sachsenhausen. Wir waren da ein paar Tage und kamen dann mit einem Transport nach Bergen Belsen [Anm. Anfang 1945]. Das war wirklich ein schlimmes Lager, [das] war wirklich schlimm. Die Häftlinge starben wie die Fliegen, wie man so sagt. Den ganzen Tag fuhr ein Pferdekarren die Leichen hinaus. Morgens wurden wir herausgetrieben, die Lebenden. Die Toten wurden ausgezogen und zwischen den Baracken aneinander gereiht, damit beim Appell die Zahl stimmte.

Und die Baracken, die dort waren, die waren undicht. Und es regnete und die ganzen Fußböden waren schmutzige Pfützen und die Betten waren schmutzig. Und die Baracken waren vollgestopft mit Häftlingen, die auf dem Boden schlafen mussten in diesen Pfützen. Das war für mich schlimm. Ich hab’ in dem Augenblick gedacht, das ist wahrscheinlich die letzte Stunde, die man überleben könnte. Viele Häftlinge, die schwach waren in Bergen Belsen, die fielen dann hin, irgendwo, waren noch am Leben. Und während sie noch lebten, wurden sie schon von anderen Häftlingen ausgezogen, weil sie bessere Kleidung und bessere Schuhe gehabt haben. Ich musste zusehen, wie ein Franzose, der mehrere Stunden in so einem Zustand war, wie ihn andere Häftlinge ausgezogen haben. Das hat mich damals sehr empört und sehr traurig und noch trostloser gemacht.“

Ein Deutscher, ein Zeuge Jehovas, und er schlossen sich heimlich einem Transport an:

„Er sagte zu mir: ‚Wenn wir hier länger bleiben, dann sind auch bald Leichen. Wir müssen hier weg‘. Und da wurde ein Transport von Häftlingen zusammengestellt, die woanders arbeiten sollten. Und der SS-Mann hat die Häftlinge abgetastet, die noch etwas Muskeln hatten und die hatte er extra gestellt. Und da hat er (Anm. der Bibelforscher [2]) gesagt: ‚Weißt Du was, wenn der sich umguckt und andere abtastet, stellen wir uns zu denen hin, die schon ausgesucht worden sind.‘  Das haben wir gemacht. Der hat es nicht gemerkt und so kamen auf [einen] Transport nach Farge bei Bremen.“

(O-Ton Witali Kostanda –[Transkript von der Eröffnungsveranstaltung der Ausstellung „Cap Arcona – Mythos und Wirklichkeit“ in Grevesmühlen am 03. Mai 2001)

Witali Kostanda erlebte noch Schlimmeres. Er überlebte den britischen Luftangriff auf das Schiff „Cap Arcona“ in der Lübecker Bucht.

(Musikakzent)

Bei meiner Suche nach Originalaussagen von Zeitzeugen stieß ich auf das Projekt „Zwangsarbeit 1939-1945“. Auf der Webseite der Freien Universität Berlin berichten Überlebende unterschiedlicher Konzentrationslager über ihre Leidensgeschichte. Einige Überlebende waren auch für kurze Zeit in Bergen-Belsen.

Unter ArchivID za566 findet man das Interview mit Charles G. Er kam vom KZ Groß Rosen über Celle in einem Güterwaggon ins Männerlager Bergen-Belsen. Er berichtet, von der Bombardierung des Celler Bahnhofs am 8. April 1945. Er erhielt die selbstlose Hilfe eines sterbenden Mithäftlings. Die Bewacher trieben die Häftlinge aus dem Waggon. Sein Mithäftling blieb im Waggon und schenkte ihm seine Brotration. Diese Brotration hat ihm das Leben gerettet:

„Alle raus. Alle raus. …, alle, alle „Raus, raus, raus, raus!“ … Im Wagen war, neben mir war … jemand aus Krakau, und … er sagt, … „Ich, ich kann nicht gehen. … ich bin schwach. Ich kann nicht hinausgehen. Ich kann nicht hinauslaufen. Ich habe hier einen Laib Brot, “ sagte er. „Und Sie nehmen Sie ihn, Sie sind jung. Sie nehmen meinen Laib Brot. Ich bin nicht, sowieso, nicht gut. … Ich werde nicht leben. …“ Ich sagte: „Nein, ich kann von Ihnen das Brot nicht nehmen. “ Er sagt: „Nehmen Sie das Brot,“ und er drückte es in, in mich. Ich … musste es verstecken, sonst würden sie mich dafür umbringen. Und ich steckte es, … unter mein Hemd, … Es war ein kleines Stück. Es war nicht groß.

… vielleicht fünfundvierzig Minuten später wurden wir alle auf einem Feld dort zusammengetrieben, … die Wachen standen um uns herum, damit niemand weglaufen sollte. Jetzt, nachdem, nachdem die Flugzeuge fort waren, holen sie, … uns heraus: „Geht zurück, zurück zu den Waggons! Zurück zu den Waggons! “ … Ich ging zum Waggon und ich habe den alten Mann nicht gesehen. Ich habe dort Blut gesehen, aber den alten Mann habe ich nicht mehr gesehen. Und an diesem Punkt war ich so bestürzt. Und das, aber später dachte ich, dass Gott mir vielleicht einen, einen Engel geschickt und mir dieses Stück Brot gegeben hatte, um mich die nächsten sieben Tage in Bergen-Belsen zu halten, und das ist, das ist, was dieses, dieses Stück Brot … Und ich, ich behielt es. Ich wollte es nicht essen, denn wenn mich jemand essen sieht, dann wird er es mir wegnehmen. … Als wir nach Bergen-Belsen kamen, …sie schickten uns in die Baracken, aber die waren voller toter Menschen, in den Baracken und voller, das können Sie, Sie sich nicht vorstellen. Und wir, ich und ein paar meiner Freunde, sagten: „Wir können hier nicht bleiben, denn wir, … würden noch in derselben Nacht sterben. “ … wir gingen nach draußen und schliefen draußen, auch wenn es noch kalt war, … Und nachts, [als mich] niemand sah, aß ich das ganze Brot. Sonst würden sie, … mich umbringen, wenn sie sehen, also aß ich das ganze Brot, und das hielt mich sieben Tage lang [am Leben]. Das ist, das ist ein Wunder der Wunder.“ (O-Ton)

Über die Befreiung des Lagers berichtet er:

„Aber einer von ihnen, …hob einfach seinen Kopf, und er sagt: ‚Ich sehe ein paar Panzer dort, aber sie sehen nicht wie deutsche, deutsche Panzer aus.‘ …

Und etwa vielleicht zehn, fünfzehn Minuten später, kam ein Panzer rein, …, durch das Tor.

Wir krochen dorthin, … um zu sehen, was dort vor sich ging. … der Hauptmann des Panzers stand auf, und er sagt auf … Englisch und auf Deutsch „Ihr seid frei“, … „Ihr seid, … befreit! “ Sie können sich das nicht vorstellen, was dort los war. Wissen Sie, die halbtoten Leute. Man konnte sehen, dass sie lächelten, auch wenn sie auf dem Boden lagen. Als sie das hörten, lächelten sie.

Wahrscheinlich starben sie eine oder zwei Stunden später“. (O-Ton Charles G)

(Musikakzent)

Es gab noch ein weiteres Lager im KZ Bergen-Belsen.

(Musik)

Das dritte Lager in Bergen-Belsen war das Frauenlager, das auch nochmal unterteilt war in diverse Unterlager. Das Frauenlager hatte seit dem Sommer 1944 die Funktion, von hier aus weibliche Häftlinge in Außenlager in der Rüstungsindustrie zu bringen, damit dort Zwangsarbeit geleistet wird.“

(O-Ton Wagner)

Jens-Christian Wagner macht aber auch auf einen weiteren Aspekt aufmerksam:

„ … zu diesem Zeitpunkt befand sich die deutsche Rüstungsindustrie bereits im starken Niedergang, bedingt durch Luftangriffe. Und deshalb hatte man zwar hier in Bergen-Belsen die Frauen, die eigentlich Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie leisten sollten, nur die Rüstungsindustrie gab es nicht mehr, und deswegen sind nur ganz wenige Frauen tatsächlich dann, der eigentlichen Zweckbestimmung dieses Lagers folgend, in Außenlager verschubt worden, um dort Zwangsarbeit zu leisten, und die meisten sind hier geblieben. Zu ihnen gehörte z. B. auch Anne Frank und ihre Schwester Margot Frank, die aus Auschwitz hierher nach Bergen-Belsen kamen, eigentlich mit dem Ziel, sie nur ganz kurz hier zu belassen, um sie dann zur Zwangsarbeit in irgendein Außenlager zu bringen, und das erfolgte dann eben nicht mehr, und die beiden Schwestern blieben hier, und wurden dann am Ende Opfer der Typhusepidemie.“

Das Kriegsgefangenenlager wird geräumt und ab Januar 1945 als „Großes Frauenlager“ genutzt.

Ich suche in der Bibliothek nach Berichten aus dem großen und kleinen Frauenlager.

Auch hier finde ich in dem Buch „Konzentrationslager Bergen-Belsen“ einen Bericht von Ada Levy. Sie wurde in Bonn geboren. Ada Levy (geb. Moses) kam von Theresienstadt Ende Oktober 1944 nach Auschwitz und kurze Zeit später nach Bergen-Belsen, später kam sie nach Salzwedel und wurde dort am 14.4.45 befreit.

Über ihre Ankunft in Bergen-Belsen und die Unterbringung in Zelten lese ich:

„Stundenlang wieder dasselbe Jagen, Stehen und Warten in der Kälte. Empfang eines Essnapfes und einer Decke. Unterkunft in Zelten auf der mit wenig Stroh bedeckten Erde. Wir verbrachten fast 14 Tage in unseren Zelten … Winterstürme, Regenschauer, die das Liegen in unseren Zelten unmöglich machten, so dass wir, um nicht völlig der Nässe ausgesetzt zu sein, die Nächte sitzend verbringen mussten.

Aber eines Nachts hatte der Himmel in Einsehen mit uns, und unter furchtbaren Krachen durch den Sturm fielen die elenden Zelte zusammen. Zwar gab es auch Verletzte, aber uns brachte man nun in Baracken unter, die zwar eisig kalt waren, aber die Nässe nicht durchließen. Auch hatten wir hier Dreistockbetten mit ein wenig Stroh, je zwei mussten eines dieser schmalen Betten teilen … Die Stunden, die man zitternd vor Hunger, …, Kälte, eng aneinander liegend auf den verwanzten Strohlagern verbrachte, wurden eine Ewigkeit. Mit Heißhunger erwartete man die Wassersuppe. Es gab mittags eine dünne Suppe, abends ein Kleckschen Marmelade oder ein viertel Mainerkäse. Nachmittags wurde die kleine Brotration ausgeteilt und gleich verschlungen …“ (Sprecherin Gudrun Stockmann)

Auch sie musste Appell stehen:

„Hier auch wieder das stundenlange Stehen vor den Baracken, der sogenannte „Appell“ – erschöpftes Strammstehen in Fünferreihen, nicht rühren, bewacht und ständig den Knüppeln ausgesetzt von der SS und Frauenwache.“ (Sprecherin Gudrun Stockmann)

Die hygienischen Zustände waren katastrophal:

„… so liefen die fetten Ratten … Tag und Nacht über unsere Betten. Dazu die Wanzen- und Läuseplage“. (Sprecherin Gudrun Stockmann)

Bei unzureichender Kleidung musste sie schwer arbeiten:

„Und dann kam die Arbeit, der man auch in gesunden Tagen nicht gewachsen gewesen wäre, geschweige denn in unserem erschöpften, unterernährten Zustand.

In Kälte, mit mangelhaftester Kleidung, zerfetztem Schuhzeug, stand ich bei dem Auswerfen von tiefen Straßengräben auf den Strümpfen in tiefen Schnee. Nichts zum Wechseln, Tag und Nacht nasse Strümpfe an den wunden Füßen.“

(Musikakzent)

Kurze Zeit nach Ada Levy kam auch die Polin Ella B. ins Frauenlager. Ihr Interview hörte ich auf der Webseite der Freien Universität Berlin Projekt „Zwangsarbeit 1939-1945“ unter der Nummer ArchivID za416:

„Als ich nach Bergen- Belsen kam und die Haufen von, von Leichen sah, die sich draußen auftürmten, alle, jeder Block und sogar drinnen, der Gestank war unerträglich, denn die Leute starben wie die Fliegen. Das weckte meinen Überlebenswillen, und ich sagte mir, dass ich weiter machen musste. Ich muss gehen und ich darf nicht auf dem Haufen von diesem … Auf diesem Leichenhaufen hier enden. Ich muss weitermachen. Und es kamen Transporte rein, von verschiedenen Lagern. Das war schon im, im, äh, ich denke, Oktober 1944. Transporte kamen aus … Sogar von Auschwitz und anderen Lagern kamen sie nach Bergen-Belsen. Sie eröffneten dann eine neue Küche und ich stand dort in der Schlange. Jeden Tag, kämpfen, stoßen. Die Mädchen, alle versuchten, die Leute versuchten, eine neue Arbeit zu bekommen. Am fünften Tag kam ich zurück … Am vierten Tag kam ich zu Roma zurück, am vierten Tag abends, erschöpft, müde, hungrig, verzweifelt. Ich sagte: „Ich werde nie in die Küche kommen. “ Sie sagt: „Mach weiter. Versuch es.“ Am fünften Tag wurde ich genommen, doch ich ging nicht in die Küche. Ich saß draußen unter freiem Himmel, schälte tage- und wochenlang Kartoffeln. Schälte nicht, nicht einmal Kartoffeln, sondern irgendwelches Gemüse in Körbe mit Wasser. Es war kalt, eiskalt! Meine Hände gefroren und das Wasser gefror in den Eimern. Erst viel später … riefen sie mich hinein. Ich bekam drinnen eine Arbeit und dann rettete ich viele Leute, denn ich, ich war, nicht immer, aber immer, wenn ich konnte, brachte ich ein Stück, nicht Kürbis, sondern dieses äh … Etwas Grünes, etwas, ein Stück Kartoffel. Und eines Tages saß der Obersturm[bann]führer in der Ecke im Büro, in einem Glasbüro, und beaufsichtigte die ganze Küche, also musste er bemerkt haben, als ich etwas in meine Unterwäsche steckte. Und es gab dort einen russischen Mann, der mit mir in der Küche arbeitete. Kein Jude. … Und er schob einen, einen Wagen mit Asche. Er machte die Woche sauber, äh … Und er sagte: „Er hat dich gesehen. “ Und er sagte, ich solle es in, in die Asche werfen, was immer ich dort hatte. Und sie durchsuchten mich, konnten nichts … finden. Ich wäre erschossen worden! „ ( O-Ton Ella B.)

Auch die Ungarin Zahava S. berichtet unter ArchivID za587 von einer lebensbedrohenden Situation. Sie war von Oktober – Dezember 1944 im Frauenlager:

„Und dann hat jemand dort in Bergen Belsen Sabotage verübt. Und sie wollten die ganze Gruppe bestrafen, … Ich denke, ein paar Blocks waren davon betroffen. Und … wir standen den ganzen Tag. Ich meine, fast einen ganzen Tag. Und sie sagten, dass jeder Zehnte getötet werden wird. Und sie haben über die Lautsprecher geschrien „Kommt her, wer das getan hat“, irgendjemand hat das … Material zerrissen und etwas aus dem Material gemacht, … Und das war eine Sabotage. Und dann standen wir …Ich stand da und zu jeder Zeit sagten sie wieder und wieder, wenn einer nicht nach vorne kommen würde, wird jeder Zehnte getötet. Und die Deutschen taten das (auch) irgendwo an einem Platz. Dies – es war kein unmögliches Ding. Und mir, mir war es egal, die Zehnte zu sein, aber ich wollte nicht, dass meine Schwester eine Zehnte sein sollte- weil (-) So, das war schrecklich und gegen Abend, … nichts (passierte), sie … machten ihre Drohung im Lager nicht wahr. …

Aber wir hatten noch Glück in …Bergen Belsen, weil es dem Ende zuging. Es war tatsächlich Dezember 1944, …. [Es gab nicht mehr] so viele Arbeitskräfte, so konnten sie auch nicht mehr so stark selektieren. So hatten wir Glück, im Dezember … brachten sie uns … von Bergen Belsen zu diesem … Arbeitslager Markkleeberg.

(Musikakzent)

Die Polin Anna G. kam im Januar 1945 aus Auschwitz ins Frauenlager. Der Typhus hatte auch das Frauenlager erreicht. Anna G´s Bericht ist dokumentiert als ArchivID za576:

„Nun ja, ich kam nach Bergen-Belsen und es war ein Todeslager. …, wir schliefen auf dem Zementboden. Kopf in die eine Richtung, Füße in die andere, wie Sardinen in der Dose. Und das Erste, was ich tat, war, mich zur Arbeit zu melden, um dort ganz schnell wieder rauszukommen. Der Typhus wütete im ganzen Lager. Und wie ich schon sagte, zu dieser Zeit breitete sich der Typhus im Lager aus, und als ich mich zum Arbeiten eintrug, waren da noch … andere Mädchen, die sich zusammen mit mir meldeten. Und wir landeten schließlich in … Gelenau.“ (O-Ton Anna S.)

Ende Februar 1945 kam Anita S. nach Bergen-Belsen. Die Lebensumstände hatten sich noch drastischer verschlechtert. Unter ArchivID za585 berichtet Anita S. sogar von Kannibalismus.

„Wir waren zerstört, als wir sahen, dass sie uns wieder hinter Stacheldraht drängen wollten und wir sahen die wandernden Toten da. Und zu dem Zeitpunkt war es total desorganisiert. Da gab es keine Betten mehr, keine Essensrationen mehr. … Jeder war krank: Typhus, Ruhr, tote Menschen haufenweise überall. Man, man nahm das eigene Leben in die eigene Hand, um zu gehen, wenn sie, … etwas Suppe da hatten. Wenn sie einen nicht zu Tode gequetscht haben, dann bekam man vielleicht ein bisschen. Wir schliefen auf der Erde, wo immer man einen Platz drinnen fand. Und der … einzige Weg, um ein bisschen mehr Platz zu bekommen, … ist, wenn neben einem irgendjemand starb. Und sie haben ihn dann raus(- ) rausgezogen. Es, … hat nicht menschlich ausgesehen. Bergen-Belsen sah nicht menschlich aus. Da waren Menschen so hungrig, dass sie das Fleisch der Toten gegessen haben.

… Und mir wurde es [Anm. auch] angeboten.“ (O-Ton)

(Musikakzent)

Obwohl Ella B., Anita S., Anna G. und Zahava S. nur kurze Zeit im Frauenlager waren, konnten sie sich gut an Einzelheiten erinnern. Anders ist dies bei der Zeugin Jehovas Charlotte Tetzner. Sie war bereits in den KZs Ravensbrück und Auschwitz. Sie kam im März 1945 nach Bergen-Belsen. Sie konnte sich an nichts erinnern.

In ihrem Buch „Frierende“ schreibt sie:

Unser nächster Halt: Bergen-Belsen.

Keine Erinnerung.

Ich weiß nicht, wie lange wir dort waren.

Ich weiß nicht, was in dem Lager geschah.

Ich weiß nicht, wo ich schlief.

Ich weiß nicht, warum. Nur an eines kann ich mich erinnern: Wir standen. Einige wurden aufgefordert, vorzutreten. Sollte ich von den anderen getrennt werden?

„Nimm doch auch ein paar Junge mit!“, hörte ich einen SS-Offizier sagen.

Ich war dabei. Ich gehörte wieder zu meinen Glaubensschwestern. War die 26te.

Aber wohin sollte es wieder gehen?

Wieder zum Bahnhof. Wieder in den Zug.“ (O-Ton Tetzner aus Lesung in Göttingen)

Jens-Christian Wagner hat für ihre Erinnerungslücke folgende Erklärung:

„Ja, weil das so schnell ging. [S]ie ist ins Frauenlager gekommen, und sie gehört zu den wenigen, die tatsächlich aus dem Frauenlager zur Zwangsarbeit in andere Lager weiter verschubt wurden, wie die SS das nannte.“ (O-Ton Wagner)

(Musikakzent)

In den letzten Tagen vor der Befreiung kam noch ein weiteres Lager dazu:

„… von den Häftlingen, die hier befreit werden, kommen mehr als 15000, noch in …, in den letzten 5, 6 Tagen vor der Befreiung, hier in Bergen-Belsen an. Männliche Häftlinge aus dem Lagerkomplex Mittelbau-Dora. Das Lager ist schon so überfüllt, das ist einfach physisch gar nicht mehr möglich, die hier noch unterzubringen, und deswegen gibt es dann eine Abmachung zwischen der SS und der Wehrmacht, in dem angrenzenden Truppenübungsplatz Bergen-Hohne, mit der Folge, dass etwa 30 Gebäude da ausgegrenzt werden. Die müssen von den deutschen Soldaten verlassen werden, und die werden sozusagen als KZ Bergen-Belsen Nr. 2 genutzt, wir sprechen aber vom „Kasernenlager“ in dem Zusammenhang. (O-Ton Rahe)

(Musik)

Heute habe ich in der KZ Gedenkstätte sehr viel über das Männer- und Frauenlager erfahren. Das, was ich schon wusste, konnte ich mit neuen Informationen verknüpfen. Es sind sehr viele Informationen. Ich muss das alles einmal sacken lassen. Es gäbe bestimmt noch vieles zu erfahren, z.B. über die Kinder, die hier allein oder mit den Eltern inhaftiert waren. Oder über das „Displaced Persons Camp“ nach der Befreiung. Oder: Was geschah mit den Tätern?

Aber für heute ist meine Aufnahmefähigkeit so gut wie erschöpft.

Abschließend habe ich doch noch drei Fragen an Jens-Christian Wagner. Fragen, die mich schon lange beschäftigen:

Inwieweit war die Bevölkerung in diese Grausamkeiten mit einbezogen?

„Also, nun liegt zwar Bergen-Belsen mitten im Wald, und entspricht damit der Klischeevorstellung aus der Nachkriegszeit, dass die Lager irgendwo hinter Wäldern oder Bergen versteckt lagen, und weitab der deutschen Bevölkerung. So stimmt das aber nicht. Zum einen gibt es auch hier im Wald Dörfer und Menschen, man denke an die Stadt Bergen, die dem Lager ja auch ihren Namen gegeben hat. Die Rampe (die Bahnhofsrampe), an der die Transporte sowohl der Kriegsgefangenen als auch der KZ-Häftlinge ankamen, die dann zu Fuß die letzte Etappe in das Lager laufen mussten. Diese Rampe befindet sich am Ortsrand, und jeder Bergener konnte das sehen. Es gibt hier eine Reihe von Dörfern rundherum um die Gedenkstätte, durch die am Ende des Krieges die Todesmärsche liefen, z. B. aus Mittelbau-Dora bei der Räumung dieses KZs im Harz. Es gab viele Handwerker und Zulieferbetriebe aus den Ortschaften rundherum, die das Lager versorgt haben. Das bisschen an Nahrung, was es hier gab, musste ja auch irgendwo gekocht und hergebracht werden, und das wurde in den Ortschaften rundherum natürlich gekauft. Es gab Sichtkontakte, gerade aus dem Kriegsgefangenenlager wissen wir vom Winter 1941/1942, dass es ein beliebtes Ausflugsziel für die Bevölkerung im Umfeld der Lager war, am Sonntag, (also am arbeitsfreien Tag), hierher zu gehen, und am Lagerzaun zu stehen und sich die sterbenden Russen anzugucken. Davon gibt es auch ganze Fotoserien, wie die Gaffer gewissermaßen am Zaun stehen.“ (O-Ton Wagner)

Wie gehen die heutigen Anwohner mit der Geschichte und der Gedenkstätte um?

Na ja, also im Grunde ist der Umgang der Bevölkerung mit der Geschichte hier im Umfeld von Bergen-Belsen nicht anders, als an allen anderen ehemaligen KZ-Standorten in Deutschland. Bis in die 1990er Jahre hinein hat man sich extrem schwer getan mit diesem Erbe, und hat versucht, jegliche Verantwortung und Kenntnis der Verbrechen von sich zu weisen. Generationell bedingt, aber auch bedingt durch ein generelles Umschwenken in der deutschen Erinnerungskultur, hat sich da doch in den letzten 20 Jahren (ei)ne ganze Menge getan, und ein gutes Beispiel ist die Stadt Bergen. Bergen hat lange sich institutionell von der Gedenkstätte Bergen-Belsen ferngehalten. Und seit einigen Jahren haben wir außerordentlich enge Beziehungen zur Stadt Bergen, und haben im Augenblick mehrere gemeinsame Projekte, mit dem Ziel, die Auseinandersetzung mit den Verbrechen in Bergen-Belsen, aber auch in und um Bergen, zu intensivieren, und da zieht die Kommune im Augenblick genauso mit, wie wir das hier in der Gedenkstätte tun, also da hat sich dort einiges geändert. (O-Ton Wagner)

Wie reagieren die Zeitzeugen, die hierher kommen?

„Na ja, zunächst mal trauern die um ihre verstorbenen Freunde und Angehörigen, das ist der Hauptzweck, um hierher zu kommen. Das sind die Gräber, an denen man trauert. Sie sind, glaube ich, sehr zufrieden, dass die Gedenkstätte Bergen-Belsen in den letzten 20 Jahren deutlich ausgebaut wurde, bis in die 1990er Jahre, bis in die frühen 2000er Jahre gab es hier nur eine relativ kleine Ausstellung, und seit 2007 gibt es eine sehr umfassende Ausstellung, mit einer Gedenkstätte, die eine große Bildungsabteilung hat, die eine große Forschungs- und Dokumentationsabteilung hat. Das alles gab es in den 1990er Jahren noch nicht, von den 1980ern mal ganz zu schweigen. Bis 1987 gab es in Bergen-Belsen einen einzigen Mitarbeiter, und das war der Friedhofsgärtner, und sonst nichts. Es gab ja keine wissenschaftliche, keine Bildungsarbeit, gar nichts. Und das ist nochmal ein großer Unterschied zu einigen anderen Gedenkstätten, insbesondere in der früheren DDR, die natürlich ideologisch eine bestimmte Funktion hatten. Aber wenn man das mal mit Buchenwald vergleicht: 1987, als Bergen-Belsen einen Mitarbeiter hatte, nämlich den Friedhofsgärtner, hatte die Gedenkstätte Buchenwald an die 200 Personen, die dort arbeiteten“. (O-Ton Wagner)

(Musik)

Als ich 1998 begann, Radiosendungen zur Aufarbeitung der NS-Geschichte zu produzieren, hatte ich die stille Hoffnung, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.

Heute bin ich davon nicht mehr so überzeugt. Die Situation hat sich geändert. Die Schüler überhäuft man im Geschichtsunterricht längst nicht mehr mit der NS-Geschichte. Es stehen wieder andere Themen im Vordergrund.

Viele Zeitzeugen sind verstorben. Sie können kein direktes Zeugnis von den Gräueln mehr ablegen.

Es gibt wieder Fremdenhass in Deutschland. Religionsfreiheit steht zwar im Grundgesetz, aber Religionsfreiheit gibt es nicht in allen Köpfen.

Es ist weiterhin wichtig an die Schreckensherrschaft und ihre Auswirkungen zu erinnern, um zu mahnen.

Der Zeitzeuge Horst Schmidt sagte in der Geschwister-Scholl-Gesamtschule in Göttingen 1998:

„Aber wir spüren in uns die Verpflichtung, diese Dinge, die wir erlebt haben, weiterzugeben, damit sie sich nicht noch einmal irgendwie ereignen!“ (O-Ton)

(Lied von Konstantin Wecker „Sag nein“)

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Nachtrag: Prof. Dr. Jens-Christian Wagner ist seit Ende 2020 Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Weimar

[1] Im Sinne einer radikalischen Substitution kann Benzol in der Fenton-Reaktion zu Phenol umgesetzt werden (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Phenol)

[2] Die Zeugen Jehovas wurden damals Bibelforscher genannt.

Literaturhinweis:

  • Konzentrationslager Bergen-Belsen – Berichte und Dokumente, 2. Auflage 2002, Vandenhoeck & Ruprecht
  • Tetzner, Charlotte: Frierende, 2004, Klartext Verlag

Quelle:

Projekt „Zwangsarbeit 1939-1945“ der Freien Universität Berlin

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Noah Klieger verstarb am 13.12.2018 im Alter von 92 Jahren in Tel Aviv/Israel.

Noah Klieger überlebte die Konzentrationslager Auschwitz, Mittelbau-Dora und Ravensbrück. Er verstarb am 13.12.2018 im Alter von 92 Jahren in Tel Aviv/Israel.

Weitere Infos finden Sie auf der Webseite unter: Noah Klieger kehrt zurück nach Mittelbau-Dora https://www.radio-uebrigens.de/?p=785

 

Noah Klieger – Gesprächssplitter

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Urheber-Wissenschaftsgesellschafts-Gesetz: Interview mit Prof. Dr. jur. Eric W. Steinhauer (Bibliothek)

Interview mit Prof. Dr. jur. Eric W. Steinhauer, stellvertretender Direktor der Universitätsbibliothek Hagen am 12.10.2018

IL: Das neue „Urheber-Wissenschaftsgesellschafts-Gesetz“ trat am 1.März 2018 in Kraft. Warum war aus Sicht der Bibliotheken eine Änderung des Urhebergesetzes nötig?

S: Seit dem Aufkommen der digitalen Nutzungen und der digitalen Dienstleistungen sind Bibliotheken immer wieder mit urheberrechtlichen und technischen Fragen konfrontiert. Es geht z. B. darum Kopien aus Büchern per Mail zu verschicken oder etwas zu digitalisieren und in elektronischen Semesterapparaten bereitzustellen.

Es gab verschiedene Gesetzgebungen in dem Bereich, auch Musterprozesse, die bestimmte Sachen dann noch geklärt haben. Für den juristischen Laien war dies nicht mehr durchschaubar. Bei unseren Nutzern und Nutzerinnen in der Wissenschaft und bei den Studierenden  war es ein wichtiges Anliegen, dass wir ein Urheberrechtgesetz oder eine Rechtsgrundlage erhalten, deren Text verständlich ist. Dieses Gesetzes hat dies ist auch weitgehend gut umgesetzt.

IL: Ja, das wäre auch meine nächste Frage gewesen, weil ja auch der Zweck der  Änderung des Gesetzestextes die Übersichtlichkeit und Verständlichkeit sein sollte. 

 

S: Also ich habe gesagt weitgehend gut umgesetzt. Das muss man immer vielleicht ein bisschen differenzieren. Die größte Diskussion hatten wir bei dem alten §52  a UrhG. Da ging es um die elektronischen Semesterapparate. Das Gesetz sollte auch, von Lehrbeauftragten und, Professoren angewendet werden. Die Auslegung der vielen unbestimmten Rechtebegriffe, kleinen Teile und Gebotenheit, die enthalten waren, war schwierig. Die Anwendbarkeit ist einfach sehr kompliziert gewesen. Das hat sich eindeutig verbessert, weil jetzt ganz klar Prozentsätze im Gesetz drinstehen,  ist das  sehr hilfreich geworden. Bei den Dienstleistungen der Bibliotheken war das nicht so problematisch, weil das Fachpersonal mit diesen Dingen befasst ist  und mit solchen Regeln auch relativ gut umgehen kann. Der § 60 e fasst im Prinzip den alten Rechtstand mit einigen Veränderungen zusammen, ist aber wenn man genau hinguckt nicht völlig vollständig. Es gibt noch einige Nutzungsvorgänge, die in Bibliotheken vorkommen, die nach wie vor außerhalb der neuen Vorschriften zu finden sind. Will eine Bibliothek ein seit mehreren Jahren vergriffenes Werk in den Bestand übernehmen, aber das Werk ist weder beim Verlag noch im Antiquariat erhältlich, dann darf die Bibliothek das Werk reproduzieren oder reproduzieren lassen, und dann als Kopie in Ihren Bestand einstellen. Das ist nach wie vor im § 53 geregelt. Eine Sache, die eigentlich nur die Bibliotheken betrifft, die ist in § 60 e nicht enthalten. Also da ist noch eine kleine Unschärfe.

IL: Wie wird das neue „Urheber-Wissenschaftsgesellschafts-Gesetz“ in den Bibliotheken umgesetzt?

 

S: Das beschränkt sich im Wesentlichen eigentlich auf eine Information. Die Regelungen als solche sind ja, was jetzt die Bibliotheken anbelangt, nicht so schrecklich viel geändert worden. Die Hausnummern haben sich oft geändert.

Was hinzugekommen oder neu ist, dass wir leichter Vervielfältigungen machen zur Langzeitsicherung digitaler Ressourcen können. Das ist jetzt klargestellt.

Ein Problem war immer die Frage bei der Dokumentlieferung oder Kopienlieferung, Lieferung im Rahmen der Fernleihe, ob man das per E-Mail ausliefern darf oder nicht. Das ist jedenfalls für die nichtkommerzielle Nutzung weitgehend freigestellt im § 60 e Absatz 5.

IL: Jetzt haben wir ja über die positiven Seiten gesprochen, aber es gibt bestimmt auch Nachteile, die das neue „Urheber-Wissenschaftsgesellschafts-Gesetz“ für die Bibliotheken mit sich bringt.

S: Der Hauptnachteil dieses Gesetzes liegt eigentlich in einem versteckten Paragrafen, nämlich in der Regelung, dass die neuen Bestimmungen  nur für fünf Jahre befristet sind. Wir haben ja im Grunde genommen das alte Recht, in das neue Recht überführt. Das ist klarer geworden.

Wenn sich jetzt in fünf Jahren der Bundestag aus irgendwelchen Gründen nicht bereitfindet, die Bestimmungen zu verlängern, dann laufen sie sämtlich aus. Wir wären dann in der Situation, dass wir überhaupt keine Regelungen mehr haben, die Bildung und Wissenschaft betreffen, die auf digitale Besonderheiten eingehen.        Mit einem Schlag wären wir quasi in die 1980er Jahre zurück katapultiert. Das natürlich eine dramatische Aussicht. Da bin einmal gespannt, wie sich die Diskussion entwickelt, wenn es zum Auslaufen dieser Regelung kommt. Zurzeit ist also keine Befriedigung dieser Diskussion endgültig erfolgt. Im Vorfeld dieser Verlängerung werden natürlich sämtliche Streitigkeiten, die wir jetzt in diesem Gesetzgebungsverfahren hatten, wieder aufgerufen werden. Es werden dann wieder Änderungen erfolgen usw. Es ist also eine gewisse Pause in die Debatte eingetreten, (ich) finde auch auf einem guten Stand für die Bibliotheken. Aber die Debatte ist nicht durch und nicht entschieden und wird in den nächsten Jahren auch unvermindert weitergehen.

IL: Die VG Wort hatte ja eine werkbezogene Abrechnung für die Nutzung eines  Titels durch die Bibliothek angestrebt. Daraufhin gab es Proteste von Seiten der Bibliotheken. Der Gesetzgeber sieht in der Änderung des Urheberrechtes nun eine Pauschalabrechnung vor. 

Glauben Sie persönlich, dass die Urheber durch die neue gesetzliche Regelung gerecht entlohnt werden?

S: Da spielen jetzt eine Menge Fragen rein. Nehmen wir jetzt mal generell die Frage der Entlohnung von Urhebern: Sobald ich eigenschöpferisch kreativ irgendetwas mache, auch wenn es nur ein Blogeintrag ist oder ein sehr intelligent gemachter Tweet, habe ich ja schon ein urheberrechtlich geschütztes Werk geschaffen. Kein Mensch käme auf d ie Idee das zu vergüten. Also die Frage, ob man sobald man ein urheberrechtlich geschütztes Werk schafft, sofort einen Anspruch auf eine Vergütung hat, finde ich ein bisschen schwierig gestellt. Eigentlich ist  jeder Mensch kreativ und im heutigen Online-Kontext auch als Urheber unterwegs. Das nur so vorausgeschickt. Wenn wir jetzt über die angemessene Verfügung von Urhebern und Urheberinnen im Kontext von Bibliotheken reden,   möchte ich das auch noch ein bisschen auf den Bereich der wissenschaftlichen Publikationen und der Fachpublikationen engführen.  Was jetzt Literatur, künstlerisches Schaffen anbelangt, das ist noch etwas ganz anderes. Um diese Werke ging es ja auch in den Diskussionen gar nicht. Es ging vor allem um wissenschaftliche Literatur. Da sagen Sie, es gab einen Streit mit den Bibliotheken. Auch das ist eigentlich ungenau. Den Streit gab es in den elektronischen Semestern. Da sind die Bibliotheken eigentlich gar nicht beteiligt, weil das ja die Lehrenden selbst befüllen. Bibliotheken geben vielleicht gewisse Dienstleistungen und Hilfestellungen dabei, indem sie z.B. einen Scanservice anbieten. Aber die Schrankennutzung findet bei den Lehrenden selber statt. Die wären auch diejenigen gewesen, die Abrechnungen am Ende hätten machen müssen, ggf. hätten die Bibliotheken dies für sie übernehmen können. Aber eigentlich ist es eine Frage der Lehrenden gewesen. Da die Bibliotheken sich am längsten mit dem Urheberrecht beschäftigen und in den Hochschulen eine der wichtigen Stellen sind, haben sie sich dieses Anliegens angenommen. Sie warnten vor einem sehr großen bürokratischen Aufwand.  Im Ergebnis würde es dazu führen, dass Nutzungen in den elektronischen Semesterapparaten zurückgingen. Die  Konsequenz wäre, dass im Vergleich zur Pauschaleinnahmesituation, die Einnahmen für die Urheber und Urheberinnen unterm Strich sogar sinken würden. Also man kann nicht einfach meinen, die Einzelabrechnung bringe mehr Einnahmen. Man unterstellt dabei, dass die gleiche Nutzungsintensität bei Einzelabrechnung vorhanden ist. Dass dies nicht so ist, haben Untersuchungen gezeigt. Die Untersuchung an der  Universität Osnabrück ergab, dass  die Nutzung signifikant sinkt. Die finanzielle Situation für die Urheberinnen und Urheber verbessert sich in keiner Weise.

IL: Welche Geschäftsmodelle könnten Sie sich vorstellen?

S: Neue Geschäftsmodelle diskutiert man vor allen Dingen im Bereich der wissenschaftlichen Zeitschriftenveröffentlichungen: Man möchte dazu kommen, dass die Veröffentlichungen für jeder Mann im Internet freizugänglich sind. Die Bibliotheken würden dann im Wesentlichen nur Nachweisdienstleistungen an der Stelle erbringen, dass die Dinge gut auffindbar sind. Aber das muss natürlich irgendwie bezahlt werden, denn auch wenn Dinge freizugänglich sind, entsteht ein Aufwand im Redaktionsprozess, im Publikationsprozess. Irgendwer muss die Kosten tragen. Traditionell werden die Kosten ja im Zeitschriftenbereich durch die ABO-Gebühren abgedeckt. Diese würden ja dann wegfallen, wenn nichts abonniert wird. Wäre alles freizugänglich, gäbe es keine Gebühren. Also müsste man dann offenbar das Publizieren selber bezahlen. Das sind jetzt Überlegungen, wie man dort vernünftige Geschäftsmodelle hinbekommt, wobei die Breite der Meinungen, die es dazu gibt, ziemlich groß ist. Überwiegend möchte man mit den traditionellen Verlagen, die auch eingeführte Titel haben, diesen Weg beschreiten. Es gibt auch radikalere Ansätze, die sagen, dass das ganze System mit dazwischen geschalteten Verlagen, so wie es jetzt existiert, nicht mehr zeitgemäß ist. Man müsse dies völlig umbauen. Da sind die Dinge noch vollkommen offen. Was am Ende, nach meiner Einschätzung aber in jedem Fall sein wird: Es wird spezielle Dienstleister geben, die diese Publikationsprozesse, auch Begutachtungsprozesse und dergleichen organisieren müssen. Sie müssen natürlich auch ein faires Auskommen haben. Es  muss sich wirtschaftlich lohnen, sonst gibt es hier keine Dienstleister. Die Herausforderung besteht  darin ein gutes Geschäftsmodel zu entwickeln. Es muss wirtschaftlich sinnvoll erscheinen, solche Dienstleistungen anzubieten. Die Nachteile des jetzigen Systems durch die  sehr überzogenen Preisvorstellungen einiger Verlage dürfen sich  in dem neuen System dann auch nicht wiederfinden. Sonst haben wir nichts gewonnen, sondern nur die Geldströme umgeleitet, aber eigentlich strukturell nichts verbessert.

© Ingeborg Lüdtke

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