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70. Frankfurter Buchmesse (2018)

Anreise und Ankunft

Nun ist es wieder soweit. Die 70. Frankfurter Buchmesse hat geöffnet. Es ist meine 40. Reise zur Frankfurter Buchmesse: Vierzig Mal stand ich schon vor der Frage „Welche Schuhe ziehe ich an?“ Diesmal fällt mir die Entscheidung besonders schwer, denn um kurz vor 7 Uhr zeigt das Thermometer 7 ° an, aber es soll ein warmer sommerlicher Herbsttag in Frankfurt werden. Ich entscheide mich für den Ballerina und Kniestümpfe und  ziehe diese über die Strumpfhose.

Der Zug ist pünktlich. Laut Durchsage im Zug kommen wir sogar 2 Minuten früher als geplant in Frankfurt an. Während ich mich Richtung Ausstieg begebe, sehe ich links in dem Abteil meine Vorgesetzte und eine Kollegin. Wir sprechen noch kurz miteinander. Dann trennen sich unsere Wege.

Im Messe-Torhaus angekommen, treffe ich kurze Zeit später auf der Treppe unsere Geschäftsführerin, die zu einem Termin eilt. So eilig habe ich es nicht, da mein erster Termin erst um 10 Uhr beginnt. Aber wo bitteschön ist in der Halle 3.1 der Raum „Resonanz“? Ausgeschildert ist er nicht und auf dem Buchmesseplan gibt es keinen Hinweis. Nach mehrmaligem Fragen werde ich fündig. Anderen Kollegen*innen und einem Referenten geht es ähnlich, sie treffen so nach und nach während der Veranstaltung ein.

Marrakesch-Vertrag

Das Thema der Veranstaltung lautet „Anpassung des deutschen Urheberechtsgesetzes – Chancen und Herausforderung des Marrakesch-Vertrages“. Wieso eigentlich Marrakesch-Vertrag? Das klingt ein wenig nach 1001 Nacht, aber damit hat er wenig zu tun. Der völkerrechtliche Vertrag zum Urheberrecht über die Erleichterung des Zugangs zu veröffentlichten Werken für blinde, sehbehinderte oder sonst lesebehinderte Menschen wurde am 27. Juni 2013 in Marrakesch abgeschlossen. Er soll in den nächsten Tagen auch in der EU (Oktober 2018) ratifiziert werden.

Elke Dittmer, Geschäftsführerin der Stiftung Centralbibliothek für Blinde sowie der Norddeutschen Blindenhörbücherei e.V. (NBH) und Vorsitzende der Mediengemeinschaft für blinde, seh- und lesebehinderte Menschen (MEDIBUS e.V.) moderiert die Veranstaltung.

Jürgen Dusel ist der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Er ist selbst sehbehindert. Sein Motto lautet „Demokratie braucht Inklusion“. Eine Gesellschaft, die nicht inklusiv sei, könne von Demokratie nicht sprechen. Auch für  Blinde und Sehbehinderte gelten die Grundrechte: Selbstbestimmung, freie Meinungsbildung und das Recht auf Bildung und Selbstbestimmung. Die Aufgabe des Staates sei es, dafür zu sorgen, dass diese Rechte alle nutzen können. Jeder müsse den gleichen Zugang zur Kultur erhalten.  Bisher ständen Blinden und Sehbehinderte nur 5 % aller veröffentlichten Werke in einem barrierefrei zugänglichen Format zur Verfügung, besonders bei Fachbüchern bestände ein Mangel. Verlage seien nicht verpflichtet, Bücher im zugänglichen Format vorzubereiten. Laut § 14 Absatz 2 des Grundgesetzes verpflichte Eigentum aber. Sein Gebrauch solle zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

Susanne Barwick ist die stellvertretende Justiziarin der Rechtsabteilung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Sie teilte mit, dass sich die Überschrift des § 45 a des Urheberrechtsgesetzes in „Behinderte Menschen“ geändert habe. Auch weist sie auf die Verpflichtung des Eigentums hin, dies könne bedeuten, dass der Urheber durch eine gesetzliche Schranke ohne Bezahlung bei der nichtkommerziellen Nutzung bliebe. [Anm.: Tatsächlich erhält der Urheber trotzdem eine Vergütung. Um ein barrierefreie Werk herzustellen, wird in der Regel das originale Buch von Blindenbibliotheken und sonstige Stellen, die in barrierefreie Formate zu übertragenen Werke umwandeln, selbst gekauft. Hinzu kommen die Vergütungen über die Geräteabgaben für die Produktion und den Empfang der barrierefreien Fassungen.]

Nach der Ratifizierung des Vertrages von Marrakesch in Deutschland dürften staatliche Einrichtungen und gemeinnützige Organisationen, die Dienstleistungen in Bezug auf Bildung, pädagogische Schulung, adaptives Lesen oder Zugang zu Informationen zugunsten von blinden, sehbehinderten oder anderweitig lesebehinderten Personen anbieten, veröffentlichte Werke ohne die Erlaubnis des Inhabers des Urheberrechts in einem zugänglichen Format vervielfältigen oder verbreiten. Es gäbe keinen Vorrang von Lizenzen. Derjenige, der das barrierefreie Produkt herstelle, müsse nicht mehr prüfen, ob es bereits ein entsprechendes Produkt gäbe. Es solle aber eine verwertungspflichtige Schranke mit Abrechnung über die VG Wort geben.

Prof. Dr. Thomas Kahlisch ist Direktor der Deutschen Zentralbücherei für Blinde und Vertreter der Mediengemeinschaft für blinde, seh- und lesebehinderte Menschen (MEDIBUS e.V.). Es stellte fest, Produkte wie Hörbücher, Braille-Bücher etc. seien im großen Stil nicht umsetzbar, weil die Aufbereitung zu zeitintensiv seien. Neue Angebote nach der Ratifizierung des Marrakesch-Vertrages könnten sein: Großdruckausgaben, barrierefreie E-Books (z.B. durch Einstellung der Farbe oder Anpassung der Kontraste auf dem Tablet) oder ein internationaler Austausch durch Verleihen von barrierefreien Inhalten.

Dr. Victor Wang ist Leiter der Abteilung „neue Produkte print & digital“ im Böhlau Verlag sowie als Leiter der Peergroup Produktion in der IG Digital. Er wies auf die Checkliste für E-Pub 3 hin. Die Peergroup Produktion in der IG Digital hat diese Handreichung  unter Mitwirkung der Deutschen Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig (DZB) erstellt. Das übliche Format für E-Book ist das PDF-Format.  Würde man eine barrierefreie PDF für Blinde, seh- und lesebehinderte Menschen erstellen, benötige man einen Druckkostenzuschuss. Eine Förderung durch den Gesetzgeber wäre wünschenswert. Die Publikationsform „Open Access“ sollte auch barrierefrei sein. Open Access sei zwar für die Leser frei, aber das Publizieren sei nicht kostenlos.

Dr. Ilas Körner-Wellershaus ist Mitglied der Geschäftsleitung des Ernst Klett Verlags und Vorstandsvorsitzender des Verbandes Bildungsmedien. Er weist auf die heutigen didaktischen Konzepte in den Schulbüchern und die damit verbundenen Probleme hin. Oft seien die Bilder ohne dazugehörigen Text. Bilder müsste man für Blinde und Sehbehinderte als Text beschreiben. Allerdings würden die Bilder heute als Gesprächsansatz dienen und könnten deshalb nicht in Textform erläutert werden.

Sarah Bohnert ist Mitarbeiterin der Deutschen Zentralbücherei für Blinde im Projekt „BACC“. Sie stellt kurz das aktuelle Projekt „BACC – Born Accessible Content Checker“ vor.  Es sei ein Prüfwerkzeug mit dem Verlage feststellen könnten, ob ihre Dateien den Anforderungen entsprächen.

Lob und Angebot

Nach der Veranstaltung spreche mit dem neben mir sitzenden Rechtsanwalt und Verleger und seiner Kollegin. Ich habe schon zwei Seminare bei ihm besucht. Er lobt meine Aktivitäten im Lizenznetz und meine Radiotexte über das Urheberrecht. Für eine Nicht-Juristin habe ich ein gutes Wissen. Er bietet mir an, einmal gemeinsam mit ihm ein Seminar zu gestalten. Das Lob und das Angebot freuen mich sehr, aber ich lehne ab. Es ist doch etwas anderes, wenn man fünf Praktikanten, Volontäre oder neue Mitarbeiter schult, als wenn man vor einem größeren Auditorium etwas vortragen muss.

Fragestunde rund um Bildrechte

Ich verlasse die Halle 3 und gehe in Halle 4 C zum Raum „Consens“. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass man früher viel schneller von Halle 5 in Halle 6 gekommen ist, als nun von Halle 3 in Halle 4.

Der  Rechtsanwalt Dr. Adil-Dominik Al-Jubouri vom Börsenverein beginnt gleich mit einer schlechten Nachricht. Bildnisse von Personen seien als personenbezogene Daten anzusehen und daher seien auch die Regelungen der neuen EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) hier einschlägig. Bisher habe in erster Linie das Kunsturhebergesetz (KUG)  in den Paragrafen 22 und 23 das Veröffentlichen von Fotos geregelt. Die Abgebildete Person müsse demgemäß ihre Einwilligung zur Veröffentlichung geben. Nur wenige Ausnahmen machen es möglich ohne Einwilligung der Person das Bild zu veröffentlichen. Die Einwilligung konnte man z.B. durch Abschluss eines Modell-Release-Vertrages erhalten. Früher konnte diese einmal gegebene Einwilligung laut KUG nur widerrufen werden, wenn sich die Umstände der betroffenen Person derartig geändert haben, dass das Veröffentlichen das Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt würden oder aus geänderter Überzeugung. Laut dem aktuellen Datenschutzgesetz sei eine Einwilligung jederzeit widerruflich. Dies würde bei einer Webseite keine nennenswerten Probleme verursachen, weil das Foto jederzeit von der Website genommen werden kann, aber bei einem bereits erschienenen Buch ist die Sachlage anders.

Es entstände die Frage, wie man dann damit umgehen solle:

Die Buchbestände einstampfen oder das Bild schwärzen oder erst bei der nächsten Auflage herausnehmen?

Was sei, wenn Fotos vor dem 25.Mai 2018 erstellt wurden, aber das Buch noch nicht veröffentlicht worden sei? Wenn von den jeweils auf den Fotos abgebildeten Personen seinerzeit die Einwilligung rechtmäßig eingeholt worden ist, könne man davon ausgehen, dass diese Einwilligung auch unter der DSGVO ihre Geltung behält. Ratsam wäre es jedoch, wenn man die Pflichtinformationen zum Datenschutz nach der DSGVO den abgebildeten Personen noch zur Verfügung stellte.

Mittlerweile habe das OLG Köln bestätigt, dass das KUG neben der DSGVO jedenfalls im journalistischen Bereich weiterhin anwendbar ist (https://www.justiz.nrw.de/nrwe/olgs/koeln/j2018/15_W_27_18_Beschluss_20180618.html).

Wichtig sei es, im Rahmen des Erhalts der Einwilligung der abzubildenden Person auch die Datenschutzinformation zukommen lassen. Sie müsse u.a. darüber informiert werden, was man mit dem Foto machen möchte, und falls möglich, auch wie lange es genutzt werden soll. Außerdem müsse der Betroffene über seine Rechte informiert werden. Auch ein Hinweis auf die Datenschutzbehörde, bei der man sich beschweren könne, müsse enthalten sein.

Der Börsenverein habe vorerst nicht vor, ein Muster für eine Datenschutzerklärung für die Mitglieder des Börsenvereins des dt. Buchhandels zur Verfügung zu stellen. Grund dafür wäre die Tatsache, dass eine Datenschutzerklärung immer individuell angepasst werden müsste. Ein Muster für Datenschutzinformationen auf einer Website, das man anpassen könne, sei von Prof. Dr. Thomas Hoeren von der Universität Münster herunterladbar unter  https://www.uni-muenster.de/Jura.itm/hoeren/lehre/materialien/musterdatenschutzerklaerung. Für den Bereich der Nutzung von Fotos sei dieses aber kaum fruchtbar zu machen, weil es eben für die Datenschutzinformationen beim Aufruf einer Website gelte.

Es werden noch viele Fragen gestellt, auf die noch keine abschließenden Antworten gegeben werden können, weil sich dazu bisher weder die Datenschutzbehörden erhellend geäußert haben, noch die Gerichte schon Gelegenheiten hatten, klärende Entscheidungen zu treffen.

Blick auf Autoren im Vorbeigehen

Während ich meinem persönlichen Veranstaltungsplan zu folgen versuche, komme ich an verschiedenen Podien vorbei. Ich sehe Tanjev Schultz (NSU Der Terror von rechts und das Versagen des Staates), Dunya Hayali (Haymatland bei Deutschlandfunk Kultur) und  Karl-Heinz Ott (Und jeden Morgen das Meer).

Forum Verlagsherstellung

Die Veranstaltung „Brauchen Verlage die Herstellung wirklich?“  ist bereits im vollen Gange, als ich dort eintreffe. Alle Stühle sind besetzt. Am Rand stehen viele Kollegen*innen. Langes Stehen macht mir Mühe. Für solche Fälle müsste man immer einen Sitzstock bei sich führen. Der Geräuschpegel ist durch angrenzende Veranstaltungen sehr laut. Ich stehe vorne rechts am Rand und habe sehr große Mühe etwas zu verstehen.

Es geht um die Frage, welches Know-how zukünftig in Verlagen wichtig ist und welche Bedeutung die Herstellung hat.

Es wird angeregt durch die geänderten Aufgaben einer Herstellungsabteilung auch den Begriff „Herstellung“ zu ersetzen.

Auch ist man der Meinung, dass man keine Generalisten brauche, denn keiner müsse alles können. Für bestimmte Aufgaben brauche man aber auch keine Spezialisten.

Mir stellt sich die persönliche Frage: Bin ich in meinem Beruf eine Generalistin oder Spezialistin? Ich würde mich als Generalistin mit speziellem Wissen bezeichnen.

Halle 3

Um wieder in die Halle 3 zu gelangen, überquere ich den Vorplatz zwischen den Hallen 3 und 4. Die Sonne meint es sehr gut mit uns Besuchern. Ich bin froh, dass ich mich für den bequemen Ballerina entschieden habe.

In Halle 3 befindet sich auch das ARD Forum, durch das ich gehen muss, um in die nächste Etage zu gelangen. Das Interview mit Christopher Schacht (Mit 50 Euro um die Welt) ist gerade beendet.

Auf dem Weg zum Stand der deutschen Bibelgesellschaft sehe ich auf den Podien Dörte Hansen (Mittagsstunde), Martin Amis (Im Vulkan), Reiner Engelmann (Der Buchhalter von Auschwitz – Oskar Gröning) und den Schauspieler und Regisseur Burghart Klaußner (Vor dem Anfang). Ich höre ihm ein wenig zu.

Mir fällt auch ein witziges Plakat mit einem Kater auf. Er trägt eine gelbe Wollmütze, ein weißes kurzärmeliges T-Shirt, eine blaue Jeans und schwarze Hosenträger. Der Plakattext lautet „LESEN statt LIKEN. <<Gegen den Strom – Bücher brauchen keine Steckdose>>. Wie wahr.

Am Stand der Bibelgesellschaft treffe ich die Kollegin leider nicht an. Eigentlich hatte ich gehofft, sie schon bei der Bildrechte-Fragestunde zu treffen.

Autorenlesung und Autorentreffen

Da ich jetzt noch etwas Zeit bis zum Autorentreffen habe, setzte ich mich auf einen freigewordenen Stuhl der Lesung von Reiner Engelmann (Der Buchhalter von Auschwitz – Oskar Gröning). Gerade beginnt die Diskussion mit den Zuhörern. Einige Punkte möchte ich gerne kurz persönlich mit ihm besprechen und warte nach der Lesung noch geduldig. Da auch ein Lehrer dieselbe Idee und der Autor sich eigentlich mit einer anderen Autorin verabredet hat, sitzen wir dann plötzlich alle am Stand der Bundeszentrale der politischen Bildung. Ich erfahre, dass Reiner Engelmann auch Studienfahrten nach Auschwitz anbietet. Eine solche Reise interessiert mich schon länger. Vielleicht gibt es ja nächstes Jahr die Gelegenheit, daran teilzunehmen.

So langsam wird es Zeit zum Autorentreffen von der Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht zu gehen. Obwohl ich zeitig dort ankomme, ist der Stand schon voller Autor*innen, Mitarbeiter*innen und Kollegen*innen anderer Verlage.

Rechtzeitig verlasse ich die Messe, um trotz eventueller Verspätungen von U-Bahnen zum Bahnhof zu kommen. Die erste U-Bahn ist aber leider brechendvoll. Ich fahre mit der nächsten Bahn. Meine Freude sehr pünktlich am Hauptbahnhof angekommen zu sein, wird durch die Verspätung meines Zuges getrübt. Aus den angekündigten 35 Minuten Verspätung  werden ungefähr 50 Minuten. Als Grund für die Verspätung wird ein technischer Defekt angegeben. Lieber eine lange Verspätung, als ein brennender ICE-Waggon.

© Ingeborg Lüdtke

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Gutenberg-Bibel

In diesem Jahr (2018) jährt sich der Todestag von Johannes Gutenberg zum 550. Mal.

Mit Dr. Helmut Rohlfing, der lange Jahre an der Niedersächsischen Staats-u-Universitätsbibliothek Göttingen in der Abtl. Handschriften und Seltene Drucke tätig war, sprach (2003) ich über die Göttinger Gutenbergbibel. Meine erste Frage an ihn war:

Ingeborg Lüdtke:

Wann und wo wurde die Göttinger Gutenbergbibel gedruckt?

Dr. Helmut Rohlfing:

Wir wissen nicht genau, an welchem Datum sie gedruckt wurde, aber wir sind ziemlich sicher, dass sie um das Jahr 1455 in Mainz gedruckt worden ist, der Vaterstadt von Johannes Gutenberg.

Ingeborg Lüdtke:

Was ist das Besondere an dieser Gutenbergbibel?

Dr. Helmut Rohlfing:

Das Besondere an dieser Bibel ist, dass sie das erste große gedruckte Werk in der Geschichte des Frühdrucks ist. Das Besondere an diesem Exemplar ist die Tatsache, dass es auf Pergament gedruckt ist und dass Pergamentexemplare der Gutenbergbibel wesentlich seltener sind als die Papierexemplare.

Ingeborg Lüdtke:

Wie hoch war die Auflage der Gutenbergbibel?

Dr. Helmut Rohlfing:

Man weiß auch das nicht ganz genau; denn es haben sich keine Notizen von Johannes Gutenberg gefunden, auf denen die Auflage vermerkt wurde. Man rechnet heute damit, dass es eine Auflage von insgesamt 180 Exemplaren war und dass von diesen 180 Exemplaren wahrscheinlich 30 bis 40 auf Pergament gedruckt waren.

Ingeborg Lüdtke:

Wie viele Exemplare gibt es heute noch?

Dr. Helmut Rohlfing:

Es gibt insgesamt noch 49 vollständige und unvollständige Exemplare der Gutenbergbibel, und von diesen 49 Exemplaren sind 12

Pergamentexemplare erhalten, von denen nur vier im Text vollständig überliefert wurden. Bei diesen vier Bibeln fehlt kein einziges Blatt, und das auch bei der Göttinger Bibel ist der Fall. Sie ist also das einzige Exemplar in einer deutschen Bibliothek, das im Text vollständig ist.

Ingeborg Lüdtke:

Wie kam die Gutenbergbibel nach Göttingen?

Dr. Helmut Rohlfing:

Da ist eine etwas verworrene Geschichte. Die Bibel hat fast zwei Jahrhunderte zugebracht im Besitz der Universitätsbibliothek Helmstedt. Die Universität Helmstedt wurde von König Jerome, dem König von Westphalen, im Jahre 1809 aufgelöst, und der gesamte Bücherbestand aus Helmstedt ist nach Göttingen gekommen und wurde hier von den Bibliothekaren auch katalogisiert, das heißt in die Kataloge eingetragen. Nach Ende der französischen Besatzung 1815 mussten aber leider alle Helmstedter Bücher wieder abgegeben werden. Dabei ist dann die Gutenbergbibel nicht zurückgegeben worden. Das führt natürlich zu gewissen kritischen Bemerkungen von Seiten der Wolfenbütteler Kollegen, die den Großteil der alten Helmstedter Bibliothek übernommen haben.

Ingeborg Lüdtke:

Kann man sich die Bibel auch ansehen?

Dr. Helmut Rohlfing:

Die Bibel kann man tatsächlich anschauen; denn uns ist bewusst, dass ein großes Interesse in der Öffentlichkeit daran besteht. Wir haben sie im Jahr 2000 in einer großen

Blatt der Gutenbergbibel

Gutenberg-Ausstellung längere Zeit gezeigt und haben uns dann aber überlegt, dass wir doch versuchen wollen, mehrere Monate im Jahr den ersten oder den zweiten Band der Bibel hier in der Paulinerkirche im Schatzhaus zu präsentieren. (Das ist im Jahr 2002 auch geschehen.) Man kann aber darüber hinaus natürlich virtuell in der Bibel blättern, wenn man ins Internet geht. Die Göttinger Bibliothek war weltweit die erste, die die komplette Gutenbergbibel eingescannt und der Öffentlichkeit unentgeltlich im Internet zur Verfügung gestellt hat.

Ingeborg Lüdtke:

Wenn man heute die Gutenbergbibel kaufen wollte, was müsste man jetzt für diese Bibel bezahlen?

Dr. Helmut Rohlfing:

Das kann man nicht immer einfach beantworten. Der Wert eines Buches lässt sich nur beurteilen, wenn man als Anhaltspunkt Auktionen oder Verkäufe in der jüngeren Vergangenheit heranziehen kann. Es ist schon eine gewisse Zeit her, dass in den 1980er Jahren ein Papierexemplar einer Gutenbergbibel versteigert wurde, von diesem Exemplar aus kann man den heutigen Wert schätzen. Aber ich kann vielleicht einmal sagen, wie der Wert der Bibel zu Zeiten Gutenbergs geschätzt wurde. Man kann sagen, dass ein mehrstöckiges und relativ geräumiges Bürgerhaus in einer mittelalterlichen Stadt in Deutschland dem Gegenwert eines Pergamentexemplars entspricht. Wenn man sich also vielleicht in der heutigen Zeit eine große, gut ausgebaute Stadtvilla vorstellt, dann weiß man genau, dass das der Mindestwert ist, den dieses Stück heute erzielen würde.

Ingeborg Lüdtke:

Johannes Gutenberg hat zwar seine Spuren hinterlassen, aber über ihn weiß man recht wenig.

Dr. Helmut Rohlfing:

Druckerpresse

Auf jeden Fall ist es wohl als gesichert anzusehen, dass er aufgrund seiner Vorbildung und seiner Ausbildung (er hat ja das Goldschmiedehandwerk gelernt) in der Lage war, dieses Bündel von Erfindungen zu schaffen, das es ihm möglich gemacht hat, Bücher zu drucken. Dazu gehörte es nicht nur, die Druckerpresse zu bauen, sondern vor allen Dingen, ein kleines Instrument zu erfinden mit dem die Typen gegossen werden. Das ist eigentlich der Kern dieser Erfindung, das Handgießinstrument, mit dem die Typen hergestellt werden. Gutenberg musste im Grunde die Schriftzeichen, die in einem mittelalterlichen Manuskript zu sehen sind, reproduzieren. Er ist dann auf die Idee kommen, dass die Zeichen mechanisch so hergestellt werden konnten, dass er ein ganzes Reservoir an solchen Typen erzeugte, die er dann in immer neuen Zusammensetzungen zusammenfügen konnte, um unterschiedliche Texte zu drucken. Aber er hat ein sehr interessantes Leben geführt mit Höhen und Tiefen und allen Unsicherheiten, die es damals in der Zeit gegeben hat. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Auswirkungen der Erfindung des Buchdrucks gewaltig gewesen sind.

Ingeborg Lüdtke:

Aber das mit den beweglichen Lettern, das war ja schon…

Dr. Helmut Rohlfing:

Um die Erfindung gab es auch Legenden, und um Einzelheiten hat es auch Streit gegeben. Vieles lässt sich einfach nicht beweisen. Das ist im Grunde genommen auch letztlich nicht entscheidend. Natürlich hat man in China und in Korea auch schon vor Gutenberg mit beweglichen Typen gedruckt wird. Entscheidend ist jedoch, dass der Siegeszug dieser neuen Technologie stattgefunden hat, nicht in China, nicht in Korea, sondern in Europa. Und dass es nur zwanzig bis dreißig Jahre gedauert hat, bis sich diese Technologie über den gesamten europäischen Raum verbreitet hat. Und das ist es, was dem Buchdruck eine enorme kulturhistorische Bedeutung verliehen hat.


Ingeborg Lüdtke:

Wie konnte Johannes Gutenberg seine Erfindung finanzieren?

Dr. Helmut Rohlfing:

Um seine Erfindung machen zu können, hat er sich Geld leihen müssen von dem Mainzer Geschäftsmann Johannes Fust. Gutenberg konnte den Kredit nicht zurückzahlen, und dann hat es darum eine prozessuale Auseinandersetzung gegeben, die von dem Notar Helmasperger geschlichtet und entschieden worden ist. In einer Urkunde, die hier in Göttingen vorhanden ist, im sogenannten Helmaspergerschen Notariatsinstrument, wurde festgelegt, dass Gutenberg seine Druckerpressen und das Werkstattinventar an Fust und Peter Schöffer abgeben musste. Danach hat er sich eigentlich nur noch von kleineren Aufträgen ernähren können, deswegen ging es ihm dann in der Zeit anschließend eigentlich solange schlecht, bis er von seinem Landesherrn ein Stipendium, würde man heute sagen, bekommen hat. Aber interessant an der Geschichte ist, dass diese Übernahme der Gerätschaft durch Fust und Schöffer dazu geführt hat, dass diese eben dann das große Geschäft gemacht haben. Sie haben eine florierende Gemeinschaftsdruckerei gegründet, und sie waren auch die ersten, die in ihren Büchern das Druckdatum, ihre beiden Namen und sogar das Signet ihrer Druckerei, also das Impressum vermerkt haben. Es gibt keinen einzigen Druck von Johannes Gutenberg, in dem sein Name oder das Datum auftaucht. Dadurch dass Schöffer und Fust ihre Drucke kennzeichneten, ist dann in späteren Jahrhundertender Eindruck entstanden, dass Peter Schöffer der eigentliche Erfinder des Buchdruckes gewesen sei. Mehr als zwei Jahrhunderte danach tauchte in Göttingen das Helmaspergersche Notariatsinstrument wieder auf. Ein Göttinger Professor [Anm.: der Historiker Johann David Köhler] schenkte schon im 18. Jahrhundert [Anm: 1741] der Bibliothek diese Urkunde und edierte sie. Dadurch kam es dann zu einem Neubeginn der Erforschung des Frühdrucks und zu einer Rückbesinnung auf Gutenberg. Aus dem Grunde ist es so wichtig, dass natürlich die Gutenbergbibel und weitere Stücke aus der Zeit der Erfindung des Buchdrucks hier in Göttingen in einer Stelle vereint bleiben.

Ingeborg Lüdtke:

Die Gutenbergbibel kann man sich ja nun im Internet ansehen.

Dr. Helmut Rohlfing:

Die Tatsache, dass die Bibel digitalisiert worden ist und ins Internet gestellt worden ist, hat wesentlichen Anteil daran gehabt, dass sie ins Weltkulturerbe aufgenommen worden ist. Es gibt ein Unesco-Programm mit der Bezeichnung „Memory of the World“, in dem herausragende Dokumente der Menschheits- geschichte vorgestellt werden sollen. In dieses Programm ist eben die Göttinger Gutenbergbibel mit dem Musterbuch und dem Notariatsinstrument aufgenommen worden, und dabei hat eben auch eine Rolle gespielt, dass die Bibliothek sich bemüht hat, das Wissen um die Bibel doch auch einer größeren Menge von Menschen in aller Welt zur Verfügung zu stellen.

© Ingeborg Lüdtke

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Weiterführende Links:

http://www.gutenberg.de/bibel/exemplare_heute.php#SP-grouplist-1-1:3

http://www.gutenberg.de/zeit/index.php

http://www.gutenbergdigital.de/gudi/dframes/texte/frameset/indexnot.htm

http://www.chemie.de/lexikon/Johannes_Gutenberg.html

Johannes Gutenberg: Mann des Jahrtausends

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Das Urheberrechts-Wissensgesellschafts-Gesetz

Seit dem 1. März 2018 gibt es ein neues Urheberrechtsgesetz für die Wissenschaft, auch „Urheberrechts-Wissensgesellschafts-Gesetz“ genannt.

Ich habe den Rechtsanwalt Professor Christian Russ gefragt, was es mit dem „Urheberrechts-Wissensgesellschafts-Gesetz“ auf sich hat und wie es sich auf das Recht der Urheber auswirkt.

Christian Russ ist nicht nur Rechtsanwalt und Notar, sondern auch Lehrbeauftragter für Urheberrecht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Rhein-Main-Universität Wiesbaden. Er bietet auch Seminare und Fortbildungen für Anwälte und Verleger zum Thema  „Urheber- und Presserecht“ an.

Meine erste Frage an ihn war:

In den Medien liest man immer wieder, dass am 1. März 2018 das „neue“ Urheberrechtsgesetz in Kraft getreten ist. Gibt es tatsächlich ein neues Urheberrechtsgesetz oder ist es eher ein Zusatzgesetz?

Christian Russ:

Grundsätzlich gibt es kein neues Urheberrechtsgesetz, aber es ist natürlich so, dass unser Urheberrechtsgesetz, das  aus dem Jahre 1966 stammt, immer einmal wieder geändert  und auch an die technischen Entwicklungen angepasst werden muss. Die technische Entwicklung ist sozusagen das Schwungrad des  Urheberrechtsgesetzes. Wenn die Software Bedeutung erlangt, dann fragt man sich irgendwann: „Muss man vielleicht die Software urheberrechtlich schützen?“

Wenn  die Digitalisierung unser ganzes Leben bestimmt, aber im Urheberrechtsgesetz von 1966 noch nichts darüber enthalten ist, dann wird man auch das Gesetz entsprechend ändern müssen.  Dies ist  geschehen und nachträglich ins Urheberrechtgesetz eingebaut worden. Das  Urheberrechtsgesetz ist ein „Work in Progress“. Man passt es immer den Entwicklungen und auch natürlich den gesellschaftlichen Entwicklungen und den Bedürfnissen an. Das Urheberrechtsgesetz ist immer ein Schnittpunkt zwischen den Interessen der Urheber und den Interessen der Allgemeinheit. Die Urheber möchten, dass ihre Werke nur so verwertet werden, wie sie das auch selber wollen, während  und die Allgemeinheit gern auch Zugriff auf urheberrechtliche Werke nehmen möchte.  Diese Interessen müssen gegeneinander abgewogen werden. Dies passiert immer wieder neu. Die jetzt am 1. März 2018 in Kraft getretene Änderung des Urheberechtsgesetz ist eine Novelle, also eine Veränderung des Urheberrechtsgesetzes.  Es ist nur ein Teilbereich, den der Gesetzgeber neu geregelt hat. Vieles in dem Urheberrechtsgesetz  hat sich nicht verändert und ist nach wie vor gültig.

Woher kommt jetzt der Name Urheberrechts-Wissenschafts-Gesetz?

Christian Russ:

Der Name Urheberrechts-Wissenschafts-Gesetz wird verwendet, weil es im Wesentlichen die Urheber von wissenschaftlicher Literatur, also Juristen, Mediziner, Physiker, Mathematiker betrifft. Das Gesetz betrifft aber nicht nur den wissenschaftlichen Bereich, sondern auch die Gemeinliteratur, wenn sie in Schulbüchern abgedruckt wird. Hier sieht das Gesetz  Änderungen vor. Auch die Bibliotheken, Archive, Museen etc., sowie Schulen und andere Bildungseinrichtungen sind betroffen. Das heißt also, der Begriff Wissenschaftsgesetz ist etwas verkürzt, aber man verkürzt immer mal, um etwas plakativer zu machen. In Wahrheit ist es ein Gesetz, das den Bereich der Ausnahmen vom Urheberrecht, der gesetzlichen Möglichkeiten urheberrechtliche Werke zu schützen für alle möglichen Bildungseirichtungen und Verlage regelt.

Das Urheberrechts-Wissenschafts-Gesetz ist umstritten. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels bezeichnete es als „großen Fehler mit erheblichen Konsequenzen für Bildung und Wissenschaft in Deutschland“. Wieso kann man das so sagen?

Christian Russ:

Dazu muss man einen  Schritt zurückgehen  und fragen: „Was regelt das Urheberrecht eigentlich?“ Das Urheberrecht regelt das Recht der Urheber selbst darüber zu entscheiden, wie ihre Werke verwertet werden sollen. Dazu gehören auch Entscheidungen zu welchen Bedingungen, Konditionen und gegen welches Honorar ihre Werke verwertet werden sollen. Grundsätzlich hat der Urheber eines  Werkes –  sagen wir mal eines juristischen Kommentars – die Möglichkeit, allein zu entscheiden, ob das  Buch als E-Book oder in einer Datenbank veröffentlicht werden darf oder eben nicht. Das neue  Gesetz greift aber ganz erheblich in die Rechte der Urheber ein, wenn es nun erlaubt  im bestimmten Umfange – ohne dass der Urheber das verhindern kann – das Werk auf wissenschaftlichen Websites zugänglich zu machen, damit im erheblichen Umfang darauf zugegriffen werden kann. Auch können nun  Printversionen von Teilen der Werke des Urhebers erstellt werden, ohne dass er darüber bestimmen kann, ob das geschehen  und zu welchen Konditionen das geschehen soll.

Der  Börsenverein vertritt die Interessen der Verlage und des Buchhandels. Wenn ein juristisches Institut  ein eigenes Buch machen möchte-  sagen wir mal einen Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch – so ist es ja jetzt erlaubt.  Ein Institut kann jeweils aus einem anderen Buch 15% entnehmen: Zum Beispiel 15 Prozent  des Allgemeinen Teils des BGB,  15% des Schuldrechts, 15 % des Sachenrechtes, 15 % des  Familienrechtes und 15 % des Erbrechtes. Das Institut hätte ein neues Werk erstellt; es könnte es  drucken und nicht kommerziell öffentlich zugänglich machen.  Die Verlage und natürlich auch der Buchhandel  gingen vollkommen leer aus. Dass dies  das dem  Börsenverein des Dt. Buchhandels, der die Verlage und Buchhandlungen vertritt, nicht gefällt,  ist klar. Das gefällt mir übrigens als Urheber auch nicht…

Sie haben vorhin schon die Bibliotheken angesprochen. Paragraf 60 e des „Urheberrechts-Wissenschafts-Gesetzes“ betrifft die Bibliotheken. Bisher durfte die Bibliothek Nutzern nur die Anzahl von digitalen Exemplaren zur Verfügung stellen, die sie tatsächlich auch als gedrucktes Buch im Bestand hatte. Ein Nutzer durfte sich auch nur 10 % des Werkes herunterladen und ausdrucken.

Welche Gefahr besteht dadurch in Bezug auf die Nutzerkopien?

Christian Russ:

Erstmal  ist es so, dass die Nutzer von Bibliotheken dort in beliebiger Anzahl Ihre Vervielfältigungen an Terminals machen können. Früher war es so, es durfte ein Buch, das im Bestand der Bibliothek war, gleichzeitig nur an einem Terminal zugänglich gemacht werden. Jetzt ist es so: Die Bibliothek erwirbt ein Buch und kann es dann an 100 Terminals gleichzeitig 100 verschiedenen Leuten zugänglich machen. Früher war es so: Es durfte ein bestimmter Teilbereich dieses Werkes auf einen Stick kopiert werden, den man am Computerterminal nutzen kann. Jetzt ist das Kopieren eines Werkes auf 10 % begrenzt, aber man kann das Kopieren auf verschiedene Sitzungen  verteilen. Das heißt, wenn ich ein komplettes Werk  – sagen wir mal einen Urheberkommentar von Schricke [Anm.: Schricker / Loewenheim, Urheberrecht], das sind etwa 3000 Seiten – mir auf einen Stick ziehen möchte, dann muss ich mich zehn Mal anmelden,  jeweils 300 Seiten kopieren und dann habe ich diesen ganzen Kommentar auf meinem Stick. Der Kommentar kostet 239,- €. Dieser Betrag entgeht natürlich dem Verlag und der Anteil auch  dem Urheber, wenn es derart z.B. für Studenten leicht gemacht wird, sich hochwertige umfassende Literatur auf diese Weise kostenlos zu besorgen.

Welche Auswirkung hat das auf die Rechte des Autors? Ich kenne zum Beispiel einen Fall, in dem der Autor in dem Verlagsvertrag ausdrücklich alle digitalen Versionen seines Werkes ausschließt. Der Verlag kann ihm zwar zusichern, dass er selbst nur eine gedruckte Ausgabe herausbringen wird, aber er kann nicht die digitalen Kopien innerhalb von Bibliotheken verhindern.

Christian Russ:

Genauso ist das auch. Einer der Hauptkritikpunkte an der Gesetzesänderung ist,  dass die Berechtigung  der öffentlichen Hand viel weitergeht, als die Berechtigung des Verlages und des Urhebers. Vor in Krafttreten der Novellierung  konnte ein  Autor zur Digitalisierungen sagen: „Das ist mir viel  zu kopieranfällig. Da gibt es viel zu viel Piraterie und Raubkopien. Das will ich nicht. Ich dulde generell keine Digitalisierung meines Werkes“. Da das Urheberrecht ein Eigentumsrecht ist, ist diese Entscheidung des Autors ein Teil des selbstverständlichen Eigentumsrechtes des Urhebers an seinem Werk. Dies  wird jetzt völlig ausgehebelt. Wir kommen hier in die groteske Situation, dass der eigentliche Vertragspartner des Urhebers nämlich der Verlag … diese Digitalisierung verlagsrechtlich aufgrund des Vertrages nicht vornehmen kann, dass aber die öffentliche Hand dies durchaus kann. Sie kann also eine kostenlose Verwertung gegen den Willen des Urhebers durchführen. Wir kommen dann auch zur  Frage: „Warum gibt überhaupt dieses Gesetz? Warum hat der Gesetzgeber das so gemacht?“ Da gibt es sozusagen zwei Erklärungen. Das eine ist die offizielle Erklärung des Gesetzgebers und das andere ist die mehr oder weniger  umstrittene inoffizielle Erklärung. Die offizielle Erklärung ist, man wollte das Urhebergesetz gerade im Bereich der Wissenschaft und Forschung vereinfachen und die Ausnahmen der Rechte des Urhebers zusammenfassen. Dazu muss man sagen“ Klammer auf“, man hat also einige wenige Regelungen  durch eine  vielfache Zahl von Ausnahmeregelungen ersetzt. Also überhaupt nicht vereinfacht „Klammer zu“. Die inoffizielle Erklärung ist, dass die öffentliche Hand gern Geld sparen möchte. Sie möchte nämlich Werke,  für die sie sonst Geld bezahlen  müsste, nun einfach ganz gern öffentlich verbreiten und zwar kostenlos. Es  geht vor allem darum, die öffentlichen Haushalte zu schonen und das geht komplett zu Lasten der Urheber und ihrer Verwerter

Auch beim Kopieren aus Schulbüchern für den Unterricht hat sich etwas geändert. Lehrer dürfen für ihre Schulklasse bis zu 15 Prozent aus einem Werk kopieren. Es stellt sich die Frage, ob man als Schulbuchverlag überhaupt noch so weitermachen kann wie bisher.

Christian Russ:

Für die Schulbuchverlage ist es also eher eine Vereinfachung geworden. Das ist auch vielleicht eine Regelung mit der der Börsenverein und die Verlage auch ganz gut leben können. Die Hersteller von Unterrichts- und Lehrmedien mussten früher ein komplexeres Verfahren bestreiten, wenn sie Ausschnitte aus Werken oder Gedichte etc. in Schulbüchern verwenden wollten. Dies muss jetzt nicht mehr so sein. Nun ist es so, dass sie einfach bis zu 10 % vom Werk oder kleinere Werke in diese Schulbuchsammlung einbinden können. Die Abrechnung erfolgt dann später über die VG Wort. Das ist eigentlich eine Vereinfachung, ohne dass sich an den Möglichkeiten der Urheber damit Geld zu verdienen etwas geändert hätte.

Die VG Wort verlangt aber inzwischen mehr Recherche von den Verlagen. Zum Beispiel wird verlangt, dass bei Texten auf Webseiten ohne Autorenangabe nachgefragt werden muss, wer der Autor ist. Bis der Verlag dann den eigentlichen Autor ermittelt hat, vergeht viel Zeit.

Die eigentliche Vereinfachung besteht darin, dass die Urheber nicht mehr über die VG Wort angeschrieben werden müssen. Die Einspruchsfrist der Autoren innerhalb einer Frist von vier Wochen entfällt dadurch.

Es gibt  noch das Problem mit den 10 % (lt. VG Wort) aus Zeitungsartikeln. Früher konnte man die Nutzungsrechte von einem kompletten Zeitungsartikel (hier sind nicht Artikel aus Fachzeitschriften gemeint) über die VG Wort (Madonna) abrechnen. Heute muss man bei Benutzung von mehr als 10 % des Artikels die Zeitungsverlage direkt wegen der Nutzungsrechte anfragen und natürlich auch erheblich mehr Geld bezahlen.

Christian Russ:

Sehen Sie mir das bitte nach. Ich kenne nicht die praktische Abwicklung. Dazu ist das Gesetz noch ein bisschen neu, da es erst am 1. März in Kraft  getreten ist. Nach dem Wortlaut des Gesetzes müsste es eigentlich einfacher sein als vorher.

Das Urheberrechts-Wissenschafts-Gesetz berührt auch „Text und Data Mining“. Was versteht man unter Data Mining und welche Regelung wird hier angewendet?

Christian Russ:

Das ist ein Gebiet, das dem bisherigen Urheberrecht noch vollkommen fremd ist, bei dem auch noch nicht so wirkliche Erfahrungen auch auf rechtlicher Art bestehen. Das Gebiet ist auch noch kein europarechtliches Vorbild, vielleicht wird es europarechtlich wieder verboten werden, sodass der Paragraf wieder aus dem Urheberrechtsgesetz gestrichen werden müsste. Gemeint ist, dass man … große Datenmengen … digital aufbereitet, dass sie mittels Computerprogrammen durchsucht werden können. Würde man eine linguistische Untersuchung zum Thema: „Wie haben Mediziner im Jahre 2000 ihre Terminologie verwendet?“ machen wollen,  würde man gerne sämtliche medizinische Werke des Jahres 2000 mittels Computerprogrammen durchsuchen lassen und eine entsprechende Auswertung vornehmen. Dann müssten diese ganzen Bücher zunächst entsprechend digitalisiert werden, damit sie maschinenlesbar wären. Dies erlaubt eben dieses Data Mining. Ich kann momentan noch nicht sagen, welche Auswirkungen das hat, weil einfach noch niemand wirklich Erfahrung damit gemacht hat. Es ist halt eine weitere Einschränkung der Rechte der Urheber, die eben nicht unterbinden können, dass ihre Werke in einem solchen Zwecke genutzt werden.

Sie haben eben schon die Erfahrung angesprochen. Gibt es denn schon erste Erfahrungen jetzt insgesamt mit dem Urheberrechts-Wissenschafts-Gesetz?

Christian Russ:

Ich bin ja Anwalt und habe bisher noch keinen Fall. Ich kenne auch noch kein Urteil. Ich kann auch nicht beurteilen, wie intensiv bereits die neuen Möglichkeiten an den Hochschulen und an den Bildungseinrichtungen genutzt werden. Ich bekomme ja immer nur die Streitigkeiten oder die Urteile mit, die ergehen. Ich bin da momentan im Grunde der falsche Ansprechpartner. Man müsste die Hochschule, die Bildungseinrichtungen, die Bibliotheken fragen: „Was hat sich bei Euch geändert? In welchem Umfang nutzt Ihr das?“ Und man müsste die VG Wort fragen: „Welche Auswirkung hat das auf die Bezahlung der Urheber?“ Das ist ja ein wesentlicher Unterschied zum vergangenen Recht. Früher war es ja immer so, dass auch Nutzungen, die über die VG Wort vergütet wurden, werkbezogen abgerechnet wurden. Jetzt ist es so, dass man alle Wissenschafts-Urheber quasi in einem Topf wirft und die Vergütungen von den Bibliotheken und Bildungseinrichtungen, die in die VG Wort gezahlt werden, auf sämtliche Wissenschaften- und Fach-und Sachbuchurheber verteilt. Es kann passieren, dass ein Autor dessen Werke in sehr, sehr großem Umfang genutzt werden von den Universitäten,  genau das Gleiche bekommt  wie ein Autor, dessen Werke an keiner eigenen Universität, an keiner eigenen Bildungseinrichtung in irgendeiner Weise genutzt wird . Dieses Gießkannenprinzip wird sicherlich zu einer völligen Egalisierung der Abrechnungen zu Lasten der Urheber führen. Das ist sicher nur eine Frage, wie dramatisch hier der Ausfall der Einnahmen auf Urheberseite sein wird.

© Ingeborg Lüdtke

Text- und Data-Mining: Ich behalte mir eine Nutzung aller Inhalte dieser Webseite für kommerzielles Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

(Das Interview mit Prof. Dr. Christian Russ vom 4.6.18 wurde im StadtRadio Göttingen am 12.7.2018 um 15 h ausgestrahlt.)

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Portners Presseshow – Paläontologie und Evolution

Portners Presseshow – Paläontologie und Evolution
von Hans R. Portner
Der Wissenschaftler Dr. Lönnig ist Experte für Paläontologie und Evolution. Hans R. Portner befragte ihn am Samstag, den 24.6.2018 um 21:06 Uhr zu seinen Erkenntnissen und Forschungsarbeiten.

Nun auch in der Mediathek Hessen zum Anhören:

 

https://www.mediathek-hessen.de/medienview_18233_Hans-R.-Portner-OK-Kassel-Portners-Presseshow–Paläontologie-und-Evolution.html

 

 

Weiterführende Links:

http://www.we-loennig.de/

http://www.weloennig.de/internetlibrary.html

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Kassel: Bombardierung, Wiederaufbau und denkwürdiger Kongress 1948 in der Karlsaue

Orangerie Kassel

Anfang Mai 2018 fand man in Kassel in der Karlsaue eine 250 Kilogramm schwere Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg.

Wussten Sie eigentlich, dass Kassel insgesamt 40 Mal während des 2. Weltkrieges bombardiert wurde?

Haben Sie sich schon ein gefragt, warum  Kassel im Gegensatz zu Göttingen so stark bombardiert wurde?

Wussten Sie, dass Hitler in Kassel im Juni 1939 vor Hundertausenden eine kriegstreiberischer Rede in der Karlsaue hielt?

Eine Antwort auf diese Fragen gibt  es in der folgenden Sendung.

Es geht in der Sendung aber auch um den Wiederaufbau der Stadt Kassel und welche Überlegungen dabei eine Rolle spielten.

Zum 70. Mal. jährt sich eine große Aufräumaktion Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in der Karlsaue.

Für ihren Kongress mussten sie bei Dauerregen 50 Bombentrichter mit Steinen und Schutt füllen.

Bleiben Sie dran und hören Sie in die Interviews mit Dr. Alexander Link und Wilfried Siegner rein.

Als erstes sprach ich mit Dr. Alexander Link. Er ist der ehemalige stellvertretende Leiter des Stadtmuseums in Kassel. An dem Tag unseres Telefonats fegte ein stürmischer Wind über Kassel und Göttingen hinweg. Ein passendes Wetter für unser Thema.

Ich habe Dr. Alexander Link gefragt:

Wenn man nach Kassel kommt, vermisst man einen einheitlichen historischen Stadtkern, wie es ihn in Göttingen gibt. Warum ist das so?

Dr. Alexander Link:

Ja, es gibt im Grunde genommen zwei maßgebliche Ursachen für diese Entwicklung. Das eine ist selbstverständlich die immense Kriegszerstörung. Kassel war 1945 zu 75 % zerstört. Dazu müsste ich ein wenig ausholen, weil der Charakter der Stadteile ja durchaus unterschiedlich ist. Es gab in Kassel eine mittelalterliche Altstadt mit Fachwerkbauten, zum Teil repräsentative Häuser, vergleichbar mit Hann. Münden, aber wesentlich ausgedehnter. Dann gab es einen Stadtteil, der im Zusammenhang mit der Zuwanderung von französischen Glaubensflüchtlingen, den Hugenotten, entstanden ist. Dort standen Steinhäuser, die nach den großen Angriffen ausgebrannte Ruinen waren. Dann gab es die gründerzeitlichen Stadteile des 19. Jahrhunderts, der heutige sogenannte Vordere Westen, der noch vergleichsweise authentisch daher kommt. Hingegen die Altstadt, dieser mittelalterliche Fachwerkinnenstadtsteil ist restlos bei einem der großen Angriffe abgebrannt. Da hätte man nichts aufbauen können. Hingegen in dem Hugenottenstadtteil wäre es möglich gewesen. Da hat bereits während des Krieges die Nazistadtplanung dagegen opponiert. Man wollte die Gauhauptstadt nach dem Endsieg, wie das immer hieß, nach dem Geschmack der Nazis aufbauen, war also durchaus geneigt, möglichst viel Freifläche zu haben. Und nach dem Krieg setzte sich das fort. Zum Teil gab es Kontinuitäten in dieser Stadtplanung, nicht mehr ganz nach Nazigeschmack, aber jetzt setzte sich das Ideal der autogerechten Stadt durch. Das war eigentlich die Basis des Kassler Wiederaufbaus. Die autogerechte Stadt und das bedeutete schlichtweg: Möglichst viel Altes musste weg.

Nun sind wir schon beim Aufbau. Ich wollte aber noch wissen:  Warum wurde Kassel im Gegensatz zu Göttingen so stark bombardiert?

Dr. Alexander Link:

Ja, das ist eine ganz wichtige Frage, denke ich. Im Grunde genommen kann man sagen: Kassel war eine Industriestadt geworden und deren Industrie war fast zu 100 % kriegswichtig. Da gab es Rüstungsbetriebe unterschiedlicher Art. Es gab die Fieseler Flugzeugwerke. Es gab andere Betriebe, die Flugzeuge und Flugzeugzubehör bauten. Das Traditionsunternehmen Henschel, ursprünglich eine Lokomotivfabrik, baute während des Kriegs Panzer. Und man könnte die Reihe fortsetzen. Das heißt Kassel war ein durchaus kriegswichtiges Ziel für die alliierten Bomberverbände.

Gab es viele Todesopfer durch den Bombenangriff?

Dr. Alexander Link:

Das war ganz beträchtlich. Also, ich muss dazusagen, Kassel wurde insgesamt 40 Mal während des Krieges bombardiert. Die ersten Angriffe waren noch vergleichsweise harmlos, aber 1943 massierte sich das. Mittlerweile war die britische Luftwaffe in der Lage, von England aus mit großen Bomberverbänden bis ins Zentrum Deutschlands zu fliegen. Man dachte anfangs, dort sei man luftkriegssicher. Das war dann aber nicht mehr der Fall, und der schlimmste Angriff am 22.10.1943 galt der Altstadt, wo man mit fast 450 großen viermotorigen Flugzeugen anflog.

Hauptsächlich wurden Brandbomben geworfen, aber auch gewaltige Sprengbomben. In dieser Nacht ist die komplette Altstadt abgebrannt. Auch in den Randbezirken gab es viele Schäden. Rund 10 000 Menschen starben. Es war in der chaotischen Situation danach nicht möglich, alle Todesopfer zu identifizieren. Es hat Massengräber gegeben. Insgesamt starben bei den 40 Luftangriffen auf Kassel ungefähr 12 000 Menschen.

Es gab auch viele Überlebende. Wie wurde die Bevölkerung nach dem Bombenangriff mit Lebensmittel versorgt? Viele Kasselaner wurden obdachlos. Wo wurden sie untergebracht?

Dr. Alexander Link:

Das ist zunächst chaotisch gelaufen. Es brach ja im Grunde genommen die gesamte Infrastruktur zusammen. Die Geschäfte funktionierten nicht mehr. Es gab keinen Strom usw.. 100 000 Menschen sind obdachlos geworden. Man hat sie an den Stadträndern und in der weiteren Umgebung untergebracht, teilweise 50-60 km entfernt, dort wo noch intakte Wohnhäuser waren. Dennoch funktionierte die Lebensmittelversorgung im Großen und Ganzen noch relativ gut. Allerdings muss man sagen, das war eine Rationierungswirtschaft, das heißt nur auf Lebensmittelkarten konnte man Lebensmittel beziehen. Das mehr schlecht als recht, aber das funktionierte noch einigermaßen. Dazu muss man aber sagen: Möglich war das während des Krieges nur deshalb, weil Deutschland seine besetzten Gebiete gnadenlos ausbeutete.

Gab es auch Hilfsmaßnahmen von anderen Städten im Umkreis von 50-100km?

Dr. Alexander Link:

Ja, auf jeden Fall … Löscharbeiten, … selbst die beste Feuerwehr der Welt hätte nicht dagegen ankommen können gegen diesen Feuersturm, der ja tatsächlich entstand durch diesen Angriff, durch die Brandbomben. Aber es war wichtig nachher aufzuräumen. Die Stadt war voller Trümmer. Teilweise waren die Straßen nicht mehr passierbar, weil die Häuser zusammengestürzt waren. Und da kamen Hilfsmannschaften, Feuerwehren und andere aus weiter Umgebung, aus Marburg und ich vermute auch aus Göttingen sind welche gekommen, die da geholfen haben, um einigermaßen die Sache wieder in den Griff zu bekommen.

Wann wurde mit dem Wiederaufbau der Stadt begonnen und wer war maßgeblich an den Aufbauarbeiten beteiligt?

Dr. Alexander Link:

Also man kann sagen die Innenstadt hat relativ lange gewartet auf einen Wiederaufbau. Das war eben dieses Viertel mit den abgebrannten Fachwerkhäusern. Die Hugenottenstadt war schon bis Kriegsende weitgehend gesprengt worden von den Nazis. Das war auch Tabula rasa. Auch da wartete man. Man hat zunächst in den Randbezirken aufgebaut, also Häuser repariert, Schulen repariert und und … Bis 1949 ging das, und dann wurden erst Anfang  der 1950er Jahre die richtigen Wiederaufbaupläne ratifiziert. Der eigentliche Aufbau der Innenstadt kann man sagen, startete 1951/52 erst. Es galt damals als Vorteil, weil man in andern kriegszerstörten Städten mehr oder weniger planlos losgelegt hat und da und dort etwas repariert und hier etwas hingebaut hat. Kassel hat also sein Aufbaukonzept länger überdacht und galt bis weit in die 1970er Jahre hinein als Musterbeispiel einer modernen, einer autogerechten Wiederaufbaustadt.

Wie lange hat der Wiederaufbau insgesamt gedauert?

Dr. Alexander Link:

Ja, das ist schwer zu beantworten. Ein Beispiel ist der mittelalterliche Fachwerkstadtteil „Unterneustadt“. Da hätten die Nazis gerne einen großen Aufmarschplatz, Appellplatz hingebaut, d.h. man hat erstmal nichts gemacht. Und dann war jahrzehntelang dieser Stadtteil nichts anderes als ein Parkplatz und ein Messeplatz. Erst in den 1990er Jahren haben Architekten diesen Stadtteil wieder aufgebaut mit Bezug auf den alten Stadtgrundriss, aber mit modernen Häusern, durchaus interessant. Aber das war 50 Jahre nach Kriegsende, und es gab so genannte Baulückenprogramme, um kriegsbedingte Baulücken zu schließen. Die liefen noch bis zur Jahrtausendwende. Das heißt im Grunde ist eigentlich ein Wiederaufbau nicht wirklich zu Ende gekommen.

Ich wollte auch noch einmal darauf Bezug nehmen, wie man im Allgemeinen mit diesen historischen Ruinen umgegangen ist. Ich hatte gelesen, dass man durchaus ältere Gebäude hätte retten können und dass man es nicht immer getan hat.

Dr. Alexander Link:

Ja, ich habe das ja schon angedeutet. Also dieses Beispiel des Hugenottenstadtteils mit den ausgebrannten Ruinen. Da gab es die Möglichkeit diese Häuser wieder aufzubauen. Es gab viele Hauseigentümer, die das auch gerne gesehen hätten, die das wollten. Einem einzigen ist es gelungen das Haus wieder aufzubauen. Das Haus ist heute ein Prachtexemplar an der Schönen Aussicht. Ansonsten haben schon die Nazis das zu verhindern gesucht, haben umgehend die Ruinen gesprengt. Das heißt, man hätte manches wiederaufbauen können. Das wollten weder die Naziplaner noch die Protagonisten der Moderne. Erstere wollten ihre pompöse repräsentative Gauhauptstadt irgendwann bauen, und die Nachkriegsplaner taten sich schwer mit älteren Bauten, vor allem mit den Bauten des 19. Jahrhunderts. Das klassische Beispiel ist das alte Staatstheater von 1909, ein sehr repräsentativer Bau aus der Kaiserzeit. Viele Kasseler hätten gerne den Wiederaufbau gesehen. Das Theater war zwar nur teilzerstört, aber die Planer wollten es nicht. Historismus war nicht angesagt. Dergleichen wollte man am liebsten beseitigen. Das gilt also für viele Ecken in Kassel. Dazu muss man insgesamt sagen: Nach dem Krieg hatte das Wort Wiederaufbau für viele keinen guten Beigeschmack. Man wollte ja die „neue Stadt“. Man wollte diese Kriegszerstörung nutzen, um eine neuere, bessere, schönere Stadt zu bauen. Wiederaufbau galt vielen als suspekt. Das hat sich im Lauf der Jahrzehnte geändert. Heute wäre man froh, wenn mehr wieder aufgebaut worden wäre, aber damals war das einfach nicht im Sinne des Zeitgeists.

Ein noch älteres historisches Gebäude ist die Orangerie in Kassel. Die Sommerresidenz von Landgraf Carl wurde von 1701 bis 1710 erbaut. Citrusfrüchte und Palmen überwinterten dort noch bis zum Kriegsbeginn  1939. Im Oktober 1943 wurde die Orangerie stark zerstört. Warum erfolgte der Wiederbau der Orangerie erst in den 1980er Jahren?

Dr. Alexander Link:

Ja, das ist eine ganz interessante Geschichte und passt zu dem was ich eben angedeutet habe. Es gab nach dem Krieg Stimmen, die einen Abriss der Ruine forderten. Also das war eine ausgebrannte Ruine. Es standen eigentlich nur noch Außenmauern und es war strittig, was damit passieren sollte, ob wieder aufgebaut werden sollte oder nicht. Dann hat man 1955 in der Karlsaue die Bundesgartenschau durchgeführt, von durchaus bedeutenden Gartenarchitekten, Hermann Mattern hauptsächlich gestaltet. Und dieser Hermann Mattern hat den Wert dieser Ruine durchaus gesehen und hat sie mit einer Holz-Glas-Konstruktion überbaut und das als Ausstellungshalle verwendet. Das fanden ganz viele reizvoll. Das war der erste Schritt und 1959 hat die 2.  documenta diese Ruinen-Umgebung zur Präsentation von Skulpturen benutzt. Und spätesten von dem Zeitpunkt an hat niemand mehr den Abriss gefordert. Das heißt: Bundesgartenschau und documenta haben den Erhalt der Orangierie ermöglicht. Aber das Verfahren sollte sich noch bis zur zweiten in Kassel gezeigten Bundesgartenschau im Jahr 1981 hinziehen. Im Vorfeld dieser Gartenbauausstellung hat man dann den zentralen Baukörper der Ruine rekonstruiert. Die beiden Außenpavillons waren erhalten.

Können Sie noch etwas zu der Karlsaue sagen?

Dr. Alexander Link:

Ja, die Karlsaue war ein fürstlicher Garten zurzeit als die Orangerie gebaut wurde. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hat man ganz im Geschmack des Barock in strenger Achsensymmetrie diesen Park gestaltet. Es gibt diese beiden kanalartigen Wasserareale, Hirsch- und Küchengraben, die zu einem Teich führende Mittelachse, in dessen Mitte eine Insel mit einem kleinen Tempelchen usw. Das war barocke Gartengestaltung, eben Repräsentation eines Fürsten. Und im 19. Jahrhundert ist dieser Park ein wenig von den Idealen des englischen Landschaftsgarten überformt worden, etwas naturnäher. Und die Kombination aus barocker Strenge und Naturnähe hat dem Park durchaus einen Reiz gegeben. Die Karlsaue war natürlich wie alles in der Kassler Umgebung massiv vom Luftkrieg betroffen, Bombentrichter überall. Beim Kongress der Zeugen Jehovas 1948, da hat man offenbar angefangen, die schlimmsten Schäden in der Wiese bei der Orangerie zu beseitigen. Und die Bundesgartenschau 1955  hat den gesamten Park neu gestaltet, sehr geschmackvoll. An der Hangkante zur Innenstadt hin hatte man einen großen Teil des Trümmerschutts der Innenstadt abgekippt. Das war eine Schutthalde. Die Bundesgartenschau hat aus dieser Schutthalde ein gestaltetes Parkareal gemacht. Und geradezu symbolhaft hat man 1955 am Auehang zehntausende Rosen gepflanzt: Blüten auf Ruinen, neues Leben auf den Trümmern. Und es steht eben auch für das neue Selbstverständnis des Stadt nach den Schrecken des Krieges und der Nazizeit.

Die Karlsraue hatte aber noch einen historischen Hintergrund. Da soll ja Hitler auch gesprochen haben.

Dr. Alexander Link:

Ja, ich habe ja erwähnt, die „Gauhauptstadt Kassel“ hatte ja seit Mitte der 1930er Jahre den Ehrentitel „Stadt der Reichskriegertage“. Das hat man also riesenhafte, ja ich würde sagen, Propagandaevents gestartet, wo der Reichskriegerbund, vormals Kyffhäuserbund; seine militaristischen Ideen darstellte.

Diese Reichskriegertage, die schon vor der Nazizeit begonnen hatten, aber dann eben von den Nazis aufgegriffen wurden und ganz in ihrem Sinne waren, das war eine Manifestation des Militarismus. Die wurden dann im Geschmack der Nazis in einem Riesenspiel organisiert. Der wirklich größte und gigantischste und wahnsinnigste Reichkriegertag fand im Juni 1939 statt. Die gesamte Stadt war einbezogen. Es fanden Aufmärsche statt, bei denen Hitler stundenlang seinen Arm hochhielt. Nach Abnahme der Parade hielt er in der Karlsaue von einer gigantischen Rednertribüne herab eine seiner kriegstreiberischen Reden. Und Hunderttausende jubelten ihm zu. Also wenn man sich ansieht mit welchem Aufwand das gemacht war, dann weiß man, dass die Nazis perfekte Organisatoren von Großereignissen waren. Das galt ja auch für die Nürnberger Reichsparteitage. Und diese Reichskriegertage in Kassel waren in der gleichen Dimension

Ich denke, wenn man den begeisterten Zuhörern damals gesagt hätte, dass vier Jahre später die schöne Kassler Innenstadt eine Trümmerwüste sein würde, hätten die das nicht geglaubt. Und es ist dann ja wirklich so gekommen.

Zu Glück wollte Kassel nach dem Krieg von der Selbstdarstellung im Geiste des Nationalsozialismus wegkommen. Die documenta 1955 war sicher ein wichtiger Impuls, um Kassel als moderne, weltoffene, tolerante Stadt weiter ins Bewusstsein zu bringen.

Sprecherin:

Der 2. Weltkrieg war vorbei. Das Regime der Nationalsozialsten gab es nicht mehr. Die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas begann wieder große Kongresse abzuhalten. Einer der Kongresse fand 1948 in Kassel in der Karlsaue statt.

Bei meinem Telefonat mit Wilfried Siegner war das Wetter dann weniger stürmisch.  Wilfried Siegner ist für die Öffentlichkeitsarbeit der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas verantwortlich. Ich habe ihn gefragt:

Herr Siegner die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Kassel veranstaltete im Juli 1948, also vor 70 Jahren, einen denkwürdigen Kongress. Denkwürdig in vielerlei Hinsicht. Die Stadt Kassel befand sich erst im Wiederaufbau. Es musste eine geeignete Stätte für den Kongress gefunden werden und die vielen Besucher mussten verpflegt werden. Die Besucher benötigten auch eine Unterkunft. Mit welchen Schwierigkeiten hatten die Kongressplaner zu kämpfen?

Wilfried Siegner:

Ja, [es]war tatsächlich so, dass für den 23. – 25. Juli 1948 ein Kongress für Kassel geplant wurde. Man rechnete mit etwa 15.000 – 20.000 Besuchern. Das war schon von vornerein eine Mammutaufgabe, wenn man bedenkt, dass die Stadt Kassel ja auch fast vollständig zerstört war und dass es Schätzungen gab, dass die Aufräumungsarbeiten doch um die 20 Jahre dauern würden. Man hat den Planern für diesen Kongress die große Karlswiese zur Verfügung gestellt. Das ist eine Wiese in der Karlsaue, relativ zentral gelegen, in der Stadtmitte vor der Orangerie. Und es liegen uns hier auch Fotoaufnahmen, Luftaufnahmen von 1945 vor, wo man gut und gern 60 Bombentrichter allein auf dieser Karlswiese. Und die galt es natürlich in der Phase der Vorbereitung zu beseitigen. Und das geschah auch mit etwa 400 Freiwilligen Helfern über eine Zeitraum von etwa vier Wochen vor dem Kongresstermin. [Das] Problem war natürlich die Beschaffung von adäquatem Werkzeug. Man hat sich beholfen, in dem teilweise selbst gebaut wurde, Einfachste Schubkarren aus Holz, einfachste Loren, mit denen Schutt von den Trümmerhaufen der Stadtmitte herbei gebracht wurde, um dann die Bombentrichter zu füllen und so eine ebene Versammlungsstätte vorzubereiten. Was hinzukam war das Problem, dass das Wetter anfangs überhaupt nicht mitspielte. Es gab fast vier Wochen Dauerregen bis zum Beginn des Kongresses. Also das war wirklich eine harte Arbeit, um dort eine Kongressplatz unter freiem Himmel vorzubereiten. Dann war natürlich auch noch, dass bekannter Maßen die Währungsreform in der Zeit noch nicht durch war. Sie stand praktisch an. Es war noch relativ unsicher und das es natürlich auch noch ein bisschen Probleme mit Materialbeschaffung, Essensbeschaffung, weil alles in den Startlöchern waren und alle auch noch warteten, so dass die Geschäft und die Lager teilweise noch ein bisschen zurückhaltend war.

Wie war mit der Bestuhlung? Gab es Stühle oder wurden Bänke aufgestellt?

Wilfried Siegner:

Sowohl als auch. Es wurden Stühle aufgestellt. Es wurden Bänke besorgt. Die Bestuhlung reichte für die erwarteten Besucher, aber es standen auch viele Besucher. Das haben die Zeitungen dann auch vom letzten Tag berichtet. Viele Besucher standen auch um die Karlsaue um die Karlswiese herum, hörten zu von dort aus, sodass am Ende die Schätzung bis zu 30.00 Besucher lautete. Was natürlich ein, ein wahnsinnig, wahnsinniges Ereignis für die Stadt Kassel war.

Die ganzen Besucher mussten ja auch verpflegt werden. Wie ist man da vorgegangen?

Wilfried Siegner:

Ja, ich hatte das ja vorhin schon angesprochen. Die Währungsreform kam ja dann. Was das Interessante daran war, dass das Konklave zur Währungsreform nur einige wenige Kilometer Luftlinie außerhalb von Kassel in Rothwesten stattfand. Und die D-Mark [wurde] dann ja eingeführt.

Das brachte dann [eine] etwas bessere Verpflegungssituation. Man konnte Lebensmittel etwas besser einkaufen. Die Geschäfte waren plötzlich wieder etwas besser gefüllt. Es standen auch finanzielle Mittel zur Verfügung. Die Verpflegung lief so, wie sie bei Kongressen der Zeugen Jehovas im Allgemeinen abgelaufen sind in jener Zeit, dass in einer Cafeteria Essen vorbereitet wurde. Einfaches Essen. Von Zeitzeugen wissen wir das es schmackhaft war, das es ausreichend war. Der Zeit damals eben angemessen.

Da mussten ja viele Helfer die Hand anlegen.

Wilfried Siegner:

Ja, wie gesagt, es waren 400 im Vorfeld. Während des Kongresses gab es auch in den verschiedensten Abteilungen freiwillige Helfer. Es gab zum Beispiel eine Erste-Hilfe- oder Lazarettzelt. Es gab Schlafstätten, die bereitgehalten wurden, wo mit einfachsten Strohsäcken Menschen „ein Bett“ (in Anführungszeichen) gefunden haben. Es wurde in der Cafeteria für das leibliche Wohl gesorgt. Wie viel dann am Ende direkt während des Kongresses zugepackt haben, um den Kongress erfolgreich über die Bühne zu bringen, das ist uns jetzt heute nicht mehr bekannt.

Sie haben eben das Schlafen und auch das Unterbringen erwähnt, wir muss man sich das vorstellen? Hat man irgendwelche Schulen angemietet oder irgendwelche Gaststätten, die irgendwelche größere Säle zur Verfügung stellen konnten oder lief das auch noch über private Unterkünfte?

Wilfried Siegner:

Es gab tatsächlich alle Arten von Unterkünften: Privat: Viele Kasseler Bürger waren bereit, eine Schlafstelle bereit zu stellen. Es gab Gemeinschaftsunterkünfte. Beispielsweise, das kennt jeder hier in Kassel noch, das Gildehaus in der Holländischen Straße, ein mehrstöckiges Gebäude, in dem tatsächlich mehrere Hundert der Gäste der Delegierten untergebracht waren. Es wurden Schulsäle zur Verfügung gestellt, soweit sie vorhanden waren. Und natürlich auch die Gemeindemitglieder, die hier in Kasseler und in der Umgebung wohnen, haben ihre Häuser und ihre Türen geöffnet.

Teilweise ging die Peripherie nach Paderborn hin, um dort delegierte Kongressteilnehmer unterzubringen.

Dann musste man ja wieder weit anreisen. Wie sind denn die Besucher angereist? Mit der Bahn oder hat man auch Busse gemietet?

Wilfried Siegner:

Also da gab es auch die unterschiedlichsten Formen der Anreise. Es kamen schätzungsweise nach den Zahlen, die uns jetzt vorliegen, 20 Sonderzüge aus der gesamten Westzone hier nach Kassel in den Hauptbahnhof. Auf dem Hauptbahnhof gab es auch ein großes Banner, mit dem die Delegierten willkommen geheißen wurden. Es kamen einige per Bus. Uns ist bekannt, dass aus Norddeutschland viele mit angemieteten Bussen kamen, mit Fahrrädern, zu Fuß, soweit vorhanden mit Privat-Pkws, aber das war natürlich noch absolut die Ausnahme. Wir haben beispielsweise von einem Zeitzeugen gehört, dass er sich durchgeschlagen hat von Cottbus nach Arenshausen und dann nachts über die damals schon vorhandene Demarkationslinie gebracht wurde von einem Bekannten von dort und dann von Eichenberg aus, dort gab es eine Station des Roten Kreuzes, mit dem Fahrrad nach Kassel gekommen ist. Auch das war ein adäquates Fortbewegungsmittel, um hier her zu kommen.

Ja, dann haben viele Besucher auch sehr große Opfer auf sich genommen, um anwesend zu sein, finanziell, zeitlich und auch in dem man nicht so bequem gereist ist oder geschlafen hatte.

Wilfried Siegner:

Das ist ganz, ganz korrekt. Die Opfer waren sicher auch finanzieller Art. Es gab ja die 40,- DM der neuen Währung, die sicher angelegt wurden,  um diese Reise antreten zu können. Von einigen wissen wir auch, dass sie persönliche Gegenstände verkauft haben, wie beispielsweise Kameras, um etwas zu den Kosten beitragen zu können, um zum Kongress hier nach Kassel zu kommen.

Hatten Sie auch Gelegenheit mit einem Zeitzeugen zu sprechen, der tatsächlich 1948 dabei gewesen ist?

Wilfried Siegner:

Ja, wir haben mit mehreren Zeitzeugen sprechen können. Wir haben auch Film und Fotomaterial von Zeitzeugen, Interviewmaterial. Dieses Material werden wir im Rahmen einer Ausstellung aus Anlass des 70. Jahrestages dieses Kongresses am 4. Juli – das wird die Eröffnungsveranstaltung der Ausstellung sein, die vom 5. – 15. Juli dauert – werden wir dieses Material zeigen, diese Interviews, die einen sehr schönen Einblick zeigen in die Empfindungen, die Menschen damals hatten zu einem solchen Kongress kommen zu können, nur 3 Jahre nach den schrecklichen Ereignissen nach dem 2. Weltkrieges, verbunden mit Verfolgung, mit Demütigung. Es werden aber auch Zeitzeugen an dem Abend zugegen sein, die noch live berichten. Und mit denen haben wir im Vorfeld natürlich schon über ihre Erlebnisse gesprochen. Und das wird mit Sicherheit sehr, sehr spannend sein. Wir können nur jeden einladen am 4. Juli um 17 Uhr in die Documenta-Halle nach Kassel zu kommen und das mitzuerleben.

Das ist ja ein auch ein historischer Ort, denn dort hat ja der Kongress selbst stattgefunden.

Wilfried Siegner:

Orangerie Kassel

Ja, der Charme dieser Ausstellungshalle ist, dass Sie tatsächlich von dort aus Blickkontakt haben zur Orangerie, zur Karlswiese. Es ist also eine direkte Verbindung, ein idealer Veranstaltungsort sozusagen die Geschichte der Zeugen Jehovas und der Geschichte Kassels [miteinander zu verknüpfen]. Es war der erste Kongress nach dem Krieg, der überhaupt stattfand und so ein bisschen auch ein Meilenstein war, um Kassel als Kongressort – wie Kassel heute auch bekannt ist und benutzt wird – wieder ins Rampenlicht zu holen. Das miteinander zu verknüpfen, Geschichte und Gegenwart, dafür ist dieser Ort geradezu ideal geeignet.

Sprecherin:

Vielleicht haben Sie auch gerade den Wunsch einen Zeitzeugen über den Bombenangriff auf Kassel 1943 und dem großen Kongress 1948 zu hören.

Ich habe einmal Nachforschungen angestellt und stieß auf ein Interview mit dem Kasseler Historiker Werner Dettmar. Andreas Berger von der HNA-Online Redaktion hat das Interview  mit ihm geführt und die Genehmigung zur Wiedergabe [nur Radio] erteilt:

Video Interview mit Werner Dettmar

Den 2. Teil dieses Interviews sowie andere Zeitzeugenaussagen zur Bombennacht findet man unter www.hna.de/bombennacht

(Musikakzent)

Sprecherin:

Harry Timmermann aus Bad Wildungen war als 20 Jähriger bei dem ersten großen landesweiten Kongress der Zeugen Jehovas in Kassel anwesend. Er erinnert sich:

Weil die ersten Tage [im] Mai 1945 ja das Ende des Weltkrieges mit sich brachte und nicht nur das, sondern auch die Befreiung unserer Brüder und Schwestern, die inhaftiert waren. Man sah auf einmal Brüder, die aus dem Konzentrationslager kamen. Es ist auch unvergesslich, wie dann sofort die Brüder wieder bereit waren, das Werk zu organisieren. [Es] fand eine Reorganisation statt. Versammlungen wurden wieder aufgebaut. Sie kamen in der Woche auch schon mal zusammen im kleineren Rahmen und das hat sich dann ja vergrößert. 1946 hatten wir schon kleine Kongresse mit über tausend Anwesenden. Aber das Schönste kam ja dann, das war die Nachricht: „Ein Landeskongress sollte stattfinden in Hessen in Kassel.“ Von da an waren unsere Augen auf das große Geschehen gerichtet.

Harry Timmermann wohnte 1948 in Stade in der Nähe von Hamburg. Er und weitere 29 Zeugen Jehovas fuhren per Bus nach Kassel:

Mein Vater hatte die Möglichkeit, weil er beim Kreis tätig war, dass wir einen Bus bekamen. Das war auch nicht so einfach. Der wurde mit 30 Personen nach Kassel gefahren. Es hat auch gut geklappt. Wir da gut angekommen. Ich hatte auch noch nie so große lange Touren mitgemacht. Je näher wir jetzt nach Kassel kamen, war die Spannung sehr groß und wurde immer größer, als man dann die die schönen Berge von Kassel sah und auch das Wahrzeichen von Kassel, nämlich den Herkules. Man muss sagen, dass wir uns gefreut haben, dass wir mit diesem Bus gut angekommen sind.

Auch er bekam die Auswirkungen der Währungsreform zu spüren:

Ja, das war schon ein Problem, weil man ja einmal mit der neuen Währung – man hatte jetzt 40,- Mark in neuer Währung bekommen –alles kaufen konnte. Auf einmal waren die Geschäfte offen und was man lange, lange nicht [kaufen] konnte, da hatte man jetzt die Möglichkeit. Aber für uns war klar, wir wollten den Kongress besuchen und haben das Geld dafür benutzt.

Zeugen Jehovas aus Stade sandten Obst und Gemüse per Express nach Kassel:

Wir sind ja eine ländliche Gegen gewesen, wo es Obst gab usw. und wir haben manches per Express mit der Bahn nach Kassel geschickt. Aber eine Frage war auch: „Wir brauchen Stroh.

Stroh war damals auch eine Mangelware und wurde für den großen Kongress in Kassel dringend benötigt. Auch hier halfen die Glaubensbrüder aus Stade weiter:

Stroh brauchte man für die Massenunterkünfte, deshalb haben wir einen ganzen Waggon voll Stroh nach Kassel schicken können. Damit die Brüder, damit wir alle auch nachts … auf Strohsäcken… wurde dann die Nacht verbracht.

Die Karlswiese musste mühsam bei Dauerregen aufgeräumt werden, damit auch Stühle aufgestellt werden konnten:

Die Wiese sah vorher anders aus. Das musste erst alles hergerichtet werden, denn sie Karlswiese, die war ja voll zerbombt. Über 50 Bombentrichter mussten gefüllt werden. Das war eine Arbeit von etlichen Wochen. 10.000 Kubikmeter Schutt mussten herbeigeführt werden und dann konnte man die Stühle aufbauen. [Da] war die schöne Wiese wieder gerade und Zelte waren dann dort, wo man [et]was kaufen konnte, wo die Toiletten waren, die Verpflegung. Und dann war auch noch eine kleine Zeltstadt da. Die wurde aufgebaut für die Brüder, die auch die Verantwortung [trugen] und Vorbereitung machten.

Während der Aufräumarbeiten in der Karlsaue gab es 4 Wochen lang Dauerregen. Doch gab es zum Kongressbeginn einen Wetterwechsel:

Es hatte ja immer gerechnet und jetzt als der Kongress begann, strahlte die Sonne aus dem Himmel herab. [Da] war es trocken und schön. Das war auch etwas, was uns sehr gefreut hat. Das kann man alles nicht so schnell vergessen.

Harry Timmermann war von den Sonderzügen und den anreisenden Gästen beeindruckt:

Das war auch, dass 17 Sonderzüge in Kassel eingetroffen sind, mit Brüdern und Schwestern. Sie kamen aus allen Zonen. Die waren ja in Zonen eingeteilt: Die Bayern, die Norddeutschen. Alle hatten ihre verschiedenen Sprachen: Die Bayern, die Schwaben, die Norddeutschen. Auch die Trachten mit denen manche bekleidet waren. Die waren alle so fröhlich. [Sie] haben gejodelt und sich gefreut. Das war auch ein wunderbares Bild. [Das] war beeindruckend dieses Familienbild, die Einheit und [der] Frieden.

Es gab große Einladungsaktionen für diesen Kongress. Hierzu legte man große Strecken mit dem Bus zurück:

Wir wurden auch ermuntert zum Beispiel nach Paderborn mit dem Bus zu fahren … und dort die Bevölkerung auf dieses Ereignis, auf den Kongress in Kassel aufmerksam zu machen, davon zu berichten, sie einzuladen unbedingt nach Kassel auf die Karlswiese zu kommen.

Es gab auch ein gedrucktes Kongressprogramm. Harry Timmermann erinnert sich an die Redner:

Als ich dieses Programm in meinen Händen hielt und dann die Namen der Brüder gelesen habe, die zu uns sprechen würden, da wusste ich, dass waren alles Brüder, die viele, viele Jahre in Konzentrationslagern oder sonst wo inhaftiert waren. Das war bewegend wie stark sie in ihrem Glauben waren und uns gestärkt haben.

(Musikakzent)

Soweit zu der Bombardierung in Kassel und dem Wiederaufbau der Stadt  und dem historischen Kongress der Zeugen Jehovas 1948 in Kassel in der Karlsaue.

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(Die Sendung wurde am 15.06.2018 im StadtRadio Göttingen, am 02.07.2018 im Freien Radio Kassel und am 12.07.2018 bei RundFunkMeissner Eschwege ausgestrahlt.)

TV-Sendung im Offenen Kanal Kassel am 05.07.2018

https://mediathek-hessen.de/index.php?ka=1&ska=medienview&idv=18240

Weiterführende Links:

https://www.kassel48.de/

http://www.archiv-vegelahn.de/index.php/15-jehovas-zeugen/2450-1948-theokratischer-kongress

http://www.archiv-vegelahn.de/index.php/15-jehovas-zeugen/2560-kassel

Weiterführende Literatur:

Werner Dettmar, Die Zerstörung Kassels im Oktober 1943. Eine Dokumentation. Hesse GmbH, Fuldabrück 1983

Jens Flemming/Dietfrid Krause-Vilmar, Kassel in der Moderne. Schüren Verlag GmbH, Marburg 2013, S. 550-561. Sehr lesenswert ist auch in diesem Buch der Beitrag von Jörg Arnold, „Es war einmal eine wunderschöne Stadt“ (S. 562-582).

Musik:

Mary Roos, Stein auf Stein https://www.youtube.com/watch?v=_Uv_TSwJkxs

Fotos:

Strohsäcke: Karlo Vegelahn

Programm und Blick auf die Bühne: Gabriele Oppermann (Nachlass Ruth Walter)

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Fragen zur VG-Wort (Verwertungsgesellschaft)

Der geschäftsführende Vorstand der Verwertungsgesellschaft „VG-Wort“, Dr. Robert Staats, berichtet in dem Interview über den Zweck der Gründung und die Serviceleistung der VG-Wort, über die Klage von Dr. Martin Vogler bezüglich der Abrechnungspolitik der VG Wort und dem dazugehörigen Urteil des Bundesgerichtshofs und die Auswirkungen auf die Verlage, die aktuelle Vergütung für die öffentliche Zugänglichmachung für Unterricht und Forschung und Wiedergabe von Werken an elektronischen Leseplätzen in öffentlichen Bibliotheken, Museen und Archiven, sowie die Vereinfachung der Einholung von Nutzungsrechten für Schulbuchsammlungen über das Portal
Er nimmt auchStellung zur Klage von Dr. Martin Vogel bezüglich der Abrechnungspolitik der VG Wort und dem dazugehörigen Urteil des Bundesgerichtshofs und die Auswirkungen auf die Verlage.
Außerdem geht es um die aktuelle Vergütung für die öffentliche Zugänglichmachung für Unterricht und Forschung und Wiedergabe von Werken an elektronischen Leseplätzen in öffentlichen Bibliotheken, Museen und Archiven, sowie die Vereinfachung der Einholung von Nutzungsrechten für Schulbuchsammlungen über das Portal „Madonna“.

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Ingeborg Lüdtke:

Herr Dr. Staats, was verbirgt sich hinter dem Namen VG Wort?

Dr. Robert Staats:

Nun das ist einfach. VG steht für Verwertungsgesellschaft und das Wort steht dafür, dass die VG Wort Rechte von Urhebern und Verlagen von Sprechwerken wahrnimmt. Die VG Wort ist damit eine von den 13 Verwertungsgesellschaften, die es in Deutschland gibt.

Ingeborg Lüdtke:

Seit wann besteht die VG Wort und warum wurde sie gegründet?

Dr. Robert Staats:

Die VG Wort wurde 1958 gegründet in München und zwar gemeinsam von Urhebern und Verlagen. Hintergrund für die Gründung der VG Wort und auch für die Gründung von anderen Verwertungsgesellschaften ist stets, dass es bestimmte Rechte oder Ansprüche gibt, die der einzelne Autor oder einzelne Verlag individuell nicht effektiv wahrnehmen kann, weil es sich insbesondere um Massennutzungen handelt. In solchen Fällen werden dann Verwertungsgesellschaften eingeschaltet, die für alle Berechtigten gemeinsam diese Rechte wahrnehmen. Das war der Hintergrund dafür,  dass 1958 Urheber und Verlage beschlossen haben, gemeinsam solche Rechte in die VG Wort einzubringen, um sie durch sie wahrnehmen zu lassen.

Ingeborg Lüdtke:

Welchen Service bietet die VG Wort für Ihre Mitglieder?

Dr. Robert Staats:

Die VG Wort als Verwertungsgesellschaft nimmt Rechte wahr. Das heißt zunächst mal müssen ihr von den Berechtigten, von den Urhebern und den Verlagen Rechte eingeräumt werden oder abgetreten werden. Das passiert auf der Grundlage eines sogenannten Wahrnehmungsvertrages. Die VG Wort vergibt dann an Nutzer Rechte, schließt Lizenzvereinbarungen ab oder zieht Vergütungsansprüche ein für gesetzlich erlaubte Nutzungen.

Das Geld, das bei der VG Wort ankommt, wird dann auf der Grundlage eines Verteilungsplanes an die Berechtigten ausgeschüttet. Das ist letztlich der Service, den wir anbieten. Das ist aber nicht nur der Service, den wir anbieten, sondern das ist auch unsere gesetzliche Aufgabe, die in einem neuen Verwertungsgesellschaftengesetz, das es seit Sommer 2016 gibt, im Einzelnen beschrieben wird.

Ingeborg Lüdtke:

Kann man sich an die VG Wort wenden, wenn man Hilfe bei der Urhebersuche benötigt?

Dr. Robert Staats:

Das ist eigentlich nicht eine zentrale Aufgabe der VG Wort. Wir bieten keinen Service insoweit an, dass wir über Urheber oder sonstige Berechtigte für jedermann Auskunft erteilen, sondern wir geben Auskunft immer nur im Rahmen der Rechte, die wir tatsächlich wahrnehmen.

Ingeborg Lüdtke:

Pflegt die VG Wort einen internen Autorenpool mit Hinweisen auf Erben oder Rechteinhaber verstorbener Autoren?

Dr. Robert Staats:

Intern haben wir selbstverständlich eine Datenbank für unser Rechtemanagement und natürlich auch für die Ausschüttungen, die wir vornehmen. Aber das ist eine interne Datenbank.

Ingeborg Lüdtke:

Das wird ja auch oft so missverständlich betrachtet. Man denkt: „Da ist ein Pool vorhanden und es kann jeder fragen, der eine Auskunft wünscht“.

Dr. Robert Staats:

Genau.

Ingeborg Lüdtke:

Wie hat sich die VG Wort im Laufe der Jahre verändert?

Dr. Robert Staats:

Sie ist erfreulicherweise im Laufe der Jahre, … im nächsten Jahr [2018] 60 Jahre, immer größer geworden. Sie hat immer mehr Rechte wahrgenommen, höhere Einnahmen im Laufe der Jahre erzielt. Natürlich spielt auch bei der VG Wort in den letzten Jahren die Digitalisierung eine sehr große Rolle. Das gilt sowohl im Hinblick auf Nutzungen, die wir erfassen und vergüten, die mittlerweile natürlich nicht nur analoge Nutzungen sind, sondern auch digitale. Es gilt aber auch für die interne Verwaltung, die Abrechnung. Sie können heute über ein elektronisches Meldeportal melden, was erfreulicherweise auch von sehr, sehr vielen Autoren genutzt wird. Natürlich innerhalb der VG Wort, besonders in der Verwaltung, ist das mittlerweile digital umgestellt. Also hier hat sich, wie bei allen Unternehmen, in den letzten Jahren sehr sehr viel verändert.

Ingeborg Lüdtke:

Die VG Wort ist ja in den letzten Monaten oder sogar Jahren in die Schlagzeilen gekommen. Der Urheberrechtler und Autor Dr. Martin Vogel hat gegen die Abrechnungspolitik der VG Wort geklagt. Er ist der Meinung, dass den Verlagen kein Geld zusteht. Die Verlage brächten in die VG Wort keine eigenen Rechte ein.

Das Urteil des Bundesgerichtshofs hat ihm Recht gegeben. Welche Auswirkungen hat dieses Urteil auf die Abrechnungsverteilung der VG Wort und die Verlage?

Dr. Robert Staats:

Ja, das war selbstverständlich ein sehr schwieriger Prozess, insbesondere im letzten Jahr [2017], in dem diese Entscheidung des Bundesgerichtshofes ergangen ist. Die VG Wort war mit Blick auf die Vergangenheit verpflichtet, Ausschüttungen an die Verlage, die in den Jahren 2012- 2015 vorgenommen worden waren, zurückzufordern, um sie anschließend dann an die Autoren auszuschütten, vorausgesetzt der Autor hatte nicht zu Gunsten des Verlages auf eine solche Nachzahlung verzichtet. In der Zukunft gibt es einen neuen Verteilungsplan auf der Grundlage von neuen gesetzlichen Regelungen zur Verlegerbeteiligung, die Ende 2016 im Bundestag beschlossen worden sind. Auch in der Zukunft wird es bei der VG Wort eine Verlegerbeteiligung geben, allerdings auf der Grundlage von ganz anderen Kriterien als das in der Vergangenheit der Fall war.

Ingeborg Lüdtke:

Kann ein Autor, der kein Mitglied der VG Wort ist, dem Verlag trotzdem auch einen Anteil seines Honorars abtreten.

Dr. Robert Staats:

Ja, diese Möglichkeit besteht. Zunächst mal die Autoren, die einen Wahrnehmungsvertrag mit der VG Wort abgeschlossen haben: Da sieht der Verteilungsplan der VG Wort vor, dass eine Verlegerbeteiligung möglich ist, wenn der Autor dem zugestimmt hat. Das gilt jedenfalls im Bereich von den Vergütungen auf der Grundlage von gesetzlichen Vergütungsansprüchen.

Wenn es sich um einen Urheber handelt, der keinen Wahrnehmungsvertrag mit der VG Wort abgeschlossen hat – wir sprechen von sogenannten Außenseitern – dann gibt es die Möglichkeit, dass nach der Veröffentlichung des Werkes der Urheber seine gesetzlichen Vergütungsansprüche an den Verlag abtreten kann, der sie seinerseits dann bei der VG Wort einbringt und dann den Verlagsanteil, aber nur den Verlagsanteil, nicht den Autorenanteil, bekommen kann.

Ingeborg Lüdtke:

Kommen wir noch einmal zurück auf den Autor Martin Vogel. Ist die Auffassung von Martin Vogel Ihrer Meinung nach gerechtfertigt, dass den Verlagen kein Geld zusteht?

Dr. Robert Staats:

Nun rechtlich hat das der Bundesgerichtshof entschieden. Das ist ein rechtskräftiges Urteil. Es gibt allerdings auch noch eine Verfassungsbeschwerde, die derzeit beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist. Aber nichtsdestotrotz zunächst mal hat der Bundesgerichtshof rechtskräftig  entschieden. Rechtspolitisch oder mit Blick auf die Zukunft bin ich durchaus der Auffassung, dass es gerechtfertigt ist, dass die Verlage auch an den gesetzlichen Vergütungsansprüchen beteiligt werden. Es war deshalb sehr zu begrüßen, dass der Bundestag Ende letzten Jahres [2017] bereits gesetzliche Regelungen verabschiedet hat. Diese sind allerdings noch nicht ausreichend, um tatsächlich wieder an Verlage auf der Grundlage von einheitlichen Beteiligungssätzen Ausschüttungen vornehmen zu können. Deswegen ist es gut und sehr wichtig, dass auf der europäischen Ebene eine Diskussion geführt wird, über einen sogenannten Beteiligungsanspruch an Verlage. Hier hat die EU-Kommission im Herbst 2016 einen Vorschlag vorgelegt, der sich derzeit auf der europäischen Ebene im Gesetzgebungsverfahren befindet und hoffentlich sehr bald verabschiedet werden wird, um dann wieder eine verlässliche Grundlage zu sein für die Verlagsausschüttung der VG Wort.

Ingeborg Lüdtke:

Bisher gelten noch die für die Hochschulen wichtigen Paragraphen § 52 a und § 52 b des Urheberrechtgesetzes. Das bedeutet, dass eine öffentliche Zugänglichmachung für Unterricht und Forschung und Wiedergabe von Werken an elektronischen Leseplätzen in öffentlichen Bibliotheken, Museen und Archiven erlaubt ist. Allerdings muss dies angemessen vergütet werden. Bisher wurde dies pauschal über die VG Wort vergütet.

Ab dem 1.1.2017 hat die VG Wort versucht mit den Hochschulen einen Vertrag abzuschließen, bei dem die Nutzung einzeln abgerechnet werden soll.  Es gab einen Aufschrei unter den Hochschulen, die sich zum Teil geweigert haben, einen solchen Vertrag abzuschließen.

Wird sich diesbezüglich etwas ändern, wenn im März 2018  das neue Urheberrechts-Wissensgesellschafts-Gesetz in Kraft tritt?

Dr. Robert Staats:

Nun die Auseinandersetzung im letzten Jahr [2016] um die digitalen Semesterapparate und die Frage, ob insoweit eine einzelnutzungsbezogene Abrechnung seitens der VG Wort verlangt werden kann, die ist durch den Gesetzgeber entschieden worden durch das Urheberrechts-Wissensgesellschaftsgesetz. Der Gesetzgeber hat entschieden, dass mit Inkrafttreten des Gesetzes, also ab 1. März 2018 insoweit eine Pauschale oder eine Vergütung auf der Grundlage von Stichproben ausreicht. Das müssen wir jetzt umsetzen und soweit werden wir versuchen in den anstehenden Verhandlungen mit den Ländern eine für uns möglichst sinnvolle Lösung zu finden. Aber die strittige Frage ist durch den Gesetzgeber entschieden  worden. Das heißt, es wird in Zukunft keine einzelbenutzungsbezogene Abrechnung von Werken geben, die in die Semesterapparate eingestellt werden.

Ingeborg Lüdtke:

Was mich persönlich noch interessiert: Wird es weiterhin für Schulbücher, die Möglichkeit geben, die Fremdrechte über die VG Wort einzuholen?

Dr. Robert Staats:

Das ist richtig und die Möglichkeit wird es in Zukunft auch weiterhin geben. Das Urheberrechts-Wissensgesellschafts-Gesetz sieht auch insoweit eine gesetzliche Regelung vor, die unter etwas veränderten Vorrausetzungen, aber im Grundsatz ähnlich, wie die bisherige gesetzliche Regelung es den Herstellern von Unterrichts- und auch von Lehrmedien erlaubt  für Sammlungen sogenannte Fremdtexte zu verwenden. Auch insoweit gibt es einen Vergütungsanspruch, der von der VG Wort wahrgenommen wird. Das war in der Vergangenheit so und das wird auch in Zukunft so bleiben.

Ingeborg Lüdtke:

Der Urheber wird ja benachrichtigt und muss innerhalb von vier Wochen zustimmen. Vorher darf man die Fremdrechte nicht benutzen. Ändert sich dies ebenfalls?

Dr. Robert Staats:

Ja, soweit hat es in der Tat Änderungen gegeben durch das Urheberrechts-Wissensgesellschafts-Gesetz. Bei den Unterrichts- und Lehrmedien ist eine solche Mitteilung der Urheber, wie es in der Vergangenheit vorgesehen war, nicht mehr vorgesehen. Das heißt, dieser Teil des Prozesses wird in Zukunft entfallen.

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(Das StadtRadio Göttingen strahlte die Sendung am 6.,10. und 20.1.2018 aus.)

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Buchmesse Frankfurt 2017

Buchmessen-Eule

Auf dem  Bahnsteig treffe ich drei Kolleginnen und einen Kollegen. Obwohl wir getrennt gebucht haben, sitzen wir alle in demselben Wagen und nach einiger Verzögerung sogar an demselben Tisch. Nur der Kollege sitzt hinter uns. Wir fahren auch noch gemeinsam in der U-Bahn. Auf dem Weg von der U-Bahn zur Messeeingangshalle spielt wieder ein Geiger klassische Musik. Er spielte auch letztes Jahr an dergleichen Stelle. Er trägt einen weißen Kasack und einen langen weißen Bart.

Da ich noch keine Eintrittskarte habe, trennen wir uns. Nachdem ich meine Karte geholt und auch dem Messepersonal gezeigt habe, stehe ich im „Stau“. So etwas habe ich noch nie erlebt. Letztes Jahr wurden nur einige Taschen zur Kontrolle ausgewählt. Heute muss jeder seine Taschen öffnen. Auch habe ich den Eindruck, dass wir heute über einen anderen Weg in die Messehallen geführt werden.

Plötzlich sehe ich keinen Hinweis mehr auf Halle 4. Ich gehe zurück und frage einen Mitarbeiter der FAZ, der die Zeitung kostenlos verteilt. Er schickt mich zurück und so gehe ich durch die Kalenderhalle zu Halle 4. Unterwegs finde ich auch den kostenlosen Kalender für meine Kollegin.

 

EDDY-Software

Nach dem ich die Jacke abgegeben habe, komme ich doch noch relativ pünktlich bei der Firma Triagon Software GmbH an. Ich bin mit Herrn Zedel verabredet und Frau Rißmüller kommt auch dazu. In dem netten Gespräch lasse ich mir noch einmal das Honorarprogramm und das Vertragsmodul zeigen. Die EDDY-Software ist wesentlich übersichtlicher und aussagekräftiger, als das Verlagsprogramm, dass wir in der Firma benutzen. Es wäre eine Ergänzung über eine Schnittstelle. Da wir in Kürze ein Update unseres Programmes erhalten, muss erst einmal abgewartet werden, ob sich die Wünsche von unserem Programm nicht doch noch erfüllen lassen. Allerdings habe ich persönlich wenig Hoffnung. Da ich nicht entscheidungsberechtigt bin, verbleiben wir so, dass ich Informationen zur Weiterleitung an die Verantwortlichen erhalten werde. Auch könne die EDDY-Software auf Wunsch per Videokonferenz vorgestellt werden.

 

 

AKG-Bildagentur

Mein Besuch bei der AKG-Bild-Agentur ist eigentlich mehr Smalltalk. Man hat nun ein Bild vor Augen, wenn man wieder etwas miteinander zu tun hat. Die eigentlichen Konditionen haben wir bereits vor einigen Wochen erneut abgeklärt. Wichtig ist noch einmal der Hinweis, dass man bei einigen Fotos auch die Rechte bei der VG Bild einholen muss.

Auf dem Weg zum Forum des Börsenvereins treffe ich einen ehemaligen Kollegen aus der Werbung. Es ist schön, ihn einmal wieder zu sehen.

Bei 3 SAT  geht gerade ein Interview mit Iris Radisch zu Ende. Ihr Buch trägt den Titel „Warum die Franzosen so gute Bücher schreiben“.

An einem Stand wird ein grüner alter Porsche ausgestellt. Ob es sich um einen Porsche 911 oder 912 weiß ich nicht.

 

Garantiert qualifiziert: Wie mit lebenslangem Lernen der Strukturwandel gelingen kann

Der Börsenverein des Dt. Buchhandels und die Bücherfrauen haben ihre Veranstaltung unter das Motto „Garantiert qualifiziert: Wie mit lebenslangem Lernen der Strukturwandel gelingen kann“ gestellt.

Katrin Röttgen, Monika Kolb-Klausch, Ellen Braun, Gesa Oldekamp

Auf dem Podium sitzen Monika Kolb-Klausch (mediacampus frankfurt), Gesa Oldekamp (Belser Verlag) und Katrin Röttgen (buchMeyer). Die Moderation hat Ellen Braun (Consulting, Coaching, Training).

Im Text zur Ankündigung heißt es, dass der Strukturwandel  zu einer Veränderung der notwendigen Qualifikationen in der Branche führe. Lebenslanges Lernen sei eine notwendige Haltung seitens der Unternehmen und der Beschäftigten. Auch ginge es um die Rahmenbedingungen fähiges Personal zu halten und weiteres zu rekrutieren. Wie kämen Unternehmen an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich dauerhaft weiterentwickeln wollen und lernbereit sind, um den Strukturwandel zu stemmen?

Tatsächlich erfahren die Zuhörer von den Podiumsteilnehmerinnen, dass sowohl die Firma als auch die Mitarbeiter wettbewerbsfähig sein müssen. Es würden nicht Mitarbeiter gesucht, die alles auswendig lernen. Benötigt würden Mitarbeiter, die Veränderungen mitgehen, sich weiterbilden, sich öffnen und neue Möglichkeiten erkennen, bereit sind über den Tellerrand zu sehen und „alles mitmachen“.

Auch wird erörtert, ob die Buchbranche Branchenfremde benötigt. Dies sei nicht unbedingt nötig, aber Mitarbeiter sollten bereit sein, sich neue Handlungskompetenzen anzueignen.

Firmen benötigten heterogene Teams. Chefs müssten akzeptieren, dass sie selbst nicht alles wissen. Sie sollten die Mitarbeiter motivieren können, aber nicht kontrollieren. Chefs sollten abgeben können, auch loslassen und zulassen. Sie sollten auch einsehen, dass Mitarbeiter andere Methoden haben.

Mitarbeiter sollten nicht in Seminare geschickt werden, sondern sich selbst die Seminare aussuchen können. Mehr lernen und arbeiten sollte zusammen kommen z.B. durch E-Learning.

Mitarbeiter sollten sich neue Gewohnheiten aneignen und behalten.

Jeder sollte sich fragen: „Wie sehe ich mich selbst? Vermeide ich Veränderungen?“

Ich gehe zum nächsten Termin und denke mir, dass dies alles eigentlich nichts Neues ist, außer dass die digitalen Hilfsmittel sich geändert haben. Andererseits kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass es auch von Seiten der Chefs und Kollegen nicht immer gern gesehen wird, wenn man sich fortbildet und über den Tellerrand sieht. Es kann sich wie in meinem Fall auch negativ auswirken.

 

Fragestunde Bildrechte

Die Fragestunde zum Thema „Bildrechte“  wird dieses Jahr zum 5. Mal angeboten und ist schon eine feste Institution geworden. Sie wird ebenfalls vom Börsenverein des Dt. Buchhandels veranstaltet.

Der  Rechtsanwalt Dr. Adil-Dominik Al-Jubouri vom Börsenverein beantwortet Fragen der Verlagsmitarbeiter. Außerdem berichtet er über den Streit zwischen dem Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen und Wikimedia und dem aktuellen Urteil.

Obwohl Bilder und Kunstgegenstände bereits 70 Jahre nach Tod des Urhebers laut Urheberrecht gemeinfrei wären, dürfe man sie nicht gewerblich nutzen, da sie sich zum Zeitpunkt der Aufnahme im Eigentum des Museums befanden. Es käme immer auf das Eigentumsrecht an. Dieses gelte neuerdings auch für bewegliche Dinge z. B. Vasen.

Tatbestand des Streites zwischen dem Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen und Wikimedia:

Ein Wikipedia-Nutzer scannte  Fotos aus einem Katalog und stellte diese auf Wikimedia als gemeinfreie Werke zur kostenlosen Nutzung ein. Das Museum war mit den Bedingungen der Wikipedia-Lizenz nicht einverstanden war, da diese ausdrücklich die kommerzielle Verwendung der Bilder erlaubt. Das Oberlandesgericht bestätigte, dass die Reproduktionen der Gemälde aus dem Katalog als Lichtbilder geschützt sind. Nach dem Urteil des Gerichts, darf allein das Museum darüber entscheiden, wer Fotos von Ausstellungsgegenständen ins Netz stellen darf.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Dieses Urteil würde erheblich die Arbeit der Kunstbuchverlage einschränken.

Nach der Veranstaltung spreche ich noch kurz mit Adil-Dominik Al-Jubouri. Er hatte netterweise meine Checkliste zur Nutzung von Bildern für meine Urheberrechtschulung gegengelesen. Er fand die Liste rechtlich in Ordnung, bemerkte aber, dass er die Darstellungsform für noch verbesserungsfähig halten würde. Darüber hatte ich mir allerdings auch schon Gedanken gemacht und einige Überlegungen angestellt.

 

Die Promis und wir

Bis zum Autorenempfang bleibt mir noch etwas Zeit und ich setze mich in Halle 4.0 hin, esse und trinke etwas. Ein junger Mann fragt mich, ob ich anonym an einer Umfrage teilnehmen möchte. Ich fülle den Fragebogen aus. Manche Fragen sind doch etwas seltsam formuliert. Andere kann ich nicht beantworten, weil sie sich hauptsächlich auf die französischen Bücher beziehen.

Ich verabrede mich mit meinem Bruder und meiner Schwägerin, die gerade Königin Mathilde von Belgien bei ihrer Ankunft gesehen haben.

Gregor Gysi

Wir treffen uns in Halle 3.0 beim Interview mit Gregor Gysi, der sein Buch „Ein Leben ist zu wenig“ vorstellt. Am Stand ist es sehr voll, man sieht ihn zwar nicht, aber man hört ihn. Es ist laut und zu anstrengend  zuzuhören. So gehen wir weiter. Wir sehen uns einige Buchtitel an. Auch Kinderbücher sind dabei. Ich sage zu meinem Bruder: „Solche Bücher hätten wir uns früher nie angesehen.“ Er grinst. Wenn man Neffen hat, ändert sich der Blick auf die Buchtitel.

Ziemlich unbeachtet steht der Autor Jan Weiler mit seiner Begleiterin vor einem Stand. Er hat das Buch „Das Pubertier“ geschrieben.

Wir meinen den Philosophen Richard David Precht zu sehen. Wir sind uns nicht sicher. Ein Herr (ca. 45) spricht uns an und fragt, ob wir wüssten wer dieser Autor sei. Er bedankt sich, obwohl wir ihm nicht genau sagen können, wer es ist. Zu Richard David Precht fällt mir wieder ein, dass ich sein Buch „Wer bin ich und wenn ja wie viele?“ zwar vor über einem Jahr begonnen habe zu lesen, aber nicht weiterlas. Sein Buch „Lenin kam nur mit Lüdenscheid“ hingegen habe ich mit Interesse gelesen.

Ken Follett

Der Herr, der uns eben nach dem Namen des Autors fragte, kommt noch einmal zurück und sagt uns, dass der Krimiautor Ken Follett ein paar Stände weiter vor uns zu sehen sei. Wir bedanken uns und sehen ihn im Interview und machen Fotos.

Während wir vor dem Plakat „Lieber barfuß als ohne Buch“ stehen, kommt der Promi, der mich seit Jahren auf jeder Buchmesse „verfolgt“. Irgendwie kreuzen sich unsere Wege immer, obwohl ich ihn nicht suche. Von den 39 von mir besuchten Buchmessen, gab es glaube ich nur eine, auf der mir Reinhold Messner nicht begegnet ist. Allerdings hätte ich ihn diesmal nicht gesehen, wenn mein Bruder mich nicht auf ihn aufmerksam gemacht hätte.

Vor 40 Jahren habe ich das erste Mal die Buchmesse 3 Tage gemeinsam mit meinem Bruder besucht und natürlich auch Reinhold Messner gesehen. Damals war auch Udo Lindenberg da. Auch Udo ist heute hier. Irgendwie wiederholt sich alles.

Später fällt mir ein, dass ich ja auch Autorin bin. Glücklicherweise kann ich noch immer unerkannt über die Buchmesse gehen.

2005 wurde mein Hörbuch mit Textbuch „`Übrigens … wir sind die Letzten‘  – Überlebende des Frauen-KZ Ravensbrück berichten“ auf der Buchmesse vorgestellt. Kein Bestseller, aber immerhin liegt es in mehreren KZ-Gedenkstätten und Bibliotheken. Verdient habe ich an dem Buch auch nichts, aber der eigentliche Grund der Veröffentlichung wurde erfüllt: Den überlebenden Opfern sollte eine Stimme selbst über den Tod hinaus gegeben werden.

Wir gehen weiter und ich begrüße kurz den Justiziar vom Börsenverein des Dt. Buchhandels  Prof. Dr. Christian Sprang mit Sohn.

Nach einer kurzen Verschnaufpause trennen sich dann die Wege von meinen Verwandten und mir, da ich zum Autorenempfang am Stand der  Vandenhoeck & Ruprecht Verlagsgruppe möchte. Einen Kollegen sehe ich auf der Rolltreppe weit vor mir. Wir haben dasselbe Ziel. Bevor die Kurzrede der Geschäftsführerin beginnt, spreche ich noch mit ihm.

Rechts vor mir steht ein Herr, der mich um einen Kopf überragt. Ich sage: „Peter?“ Keine Reaktion. „Peter Bieringer?“ Er dreht sich um und erkennt mich nicht sofort wieder. Sechs Jahre sind seit dem Seminar „Hörspiel“ in Berlin vergangen, auf dem wir uns kennenlernten. Seither haben wir uns nicht mehr gesehen. Nach der Eröffnung des Empfangs mache ich ihn mit mehreren Kollegen und Kolleginnen bekannt und stelle ihn als unseren Hörbuchsprecher vor. Peter selbst sagt: „ Ich bin die Lutherstimme“ („Luther lesen“). Nach einer dreiviertel Stunde muss ich weg, da ich meine Jacke noch in Halle 4 hängen habe. Es war sehr nett, ihn einmal wieder gesehen und gesprochen zu haben.

Der Geiger von heute früh steht wieder an demselben Platz. Ich habe noch etwas Kleingeld in der Hosentasche und werfe es in seinen Koffer. Er geigt und lächelt.

Der Zug fährt pünktlich ab. Er hat aber keinen Wagen 6. Diese Reservierungen sind hinfällig. Nur gut, dass ich in Wagen 2 reserviert habe. Eine Kollegin, die nicht reserviert hat, muss stehen und kann dann erst ab Kassel sitzen. Der Zug ist etwas zu früh in Göttingen.

© Ingeborg Lüdtke

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Einweihung: Gedenkstein an den Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in Göttingen

ehemaliges Polizeigebäude in Göttingen

Am Mittwoch, den 17. Mai 2017 wurde in Göttingen um 14:00 Uhr vor dem Thomas-Buergenthal-Haus (Stadtbibliothek, ehem. Stadt. Polizeigefängnis/Johanniskirchhof)

der Gedenkstein an den Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in Göttingen eingeweiht. Das Denkmal soll an die Göttinger Bürger und des Umlandes erinnern, die aus politischen, weltanschaulichen oder religiösen Gründen Widerstand gegen das NS-Regime geleistet haben. Bei der Enthüllung sprach Petra Broistedt, Dezernentin für Kultur und Soziales, einige einführende Worte. Sie habe befürchtet, dass der Zeitpunkt für die Gedenksteineinweihung ungünstig wäre. Ihre Befürchtung war angesichts der ca.

80-100 Teilnehmer nicht begründet. Petra Broistedt stellte die Frage: „Hätte ich selbst vor [über] 70 Jahren Widerstand geleistet?“ Sie hob die Meinungsfreiheit in einer Demokratie hervor. Auch sei sie der Meinung, dass es heute einfacher sei, Widerstand gegen Ungerechtigkeit zu leisten.

Gedenksteinenthüllung

Stadträtin Petra Broistedt und Dr. Rainer Driever

Gemeinsam mit Axel Fette von der EAM enthüllte die Stadträtin den Gedenkstein. Die EAM hatte die Straßenlaterne am Platz des Denkmals entfernen

und danach eine neue

neben den Gedenkstein setzen lassen. Auf dem 2,20 m hohen schwarzen schwedischen Granitstein ist zu lesen:

„Zum Gedenken an die Menschen, die zwischen 1933 und 1945 trotz aller Bedrohungen mutig Widerstand gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime geleistet haben.

Dieser Gedenkstein steht vor dem Thomas-Buergenthal-Haus. Hier befand sich das städtische Polizeigefängnis, in dem die meisten Göttinger Mitglieder des NS-Widerstands inhaftiert waren.“

Einführungsrede von Dr. Rainer Driever

Der Historiker Dr. Rainer Driever hielt danach die Einführungsrede. Er hatte im Auftrag der Stadt Göttingen 2, 5 Jahre über die Geschichte des Widerstandes in Göttingen geforscht.

Seine Ergebnisse kann man im HIER nachlesen.

In seiner Rede stellte Rainer Driever vier Organisationen vor, die in Göttingen auf unterschiedlichste Weise Widerstand gegen das NS-Regime geleistet haben. Er ging „stellvertretend für die mutigen Männer und Frauen, die sich gegen Hitler und das neue Regime stellten, auf zwei Personen“ näher ein. Diese gehörten zu den „vergessenen Opfern“ der Zeugen Jehovas und der Kommunisten, deren Opfergeschichte erst viel später in den Fokus der Geschichtsaufarbeitung rückte.

Zeugen Jehovas

Die Zeugen Jehovas, damals noch bekannt als „Internationale Vereinigung der ernsten Bibelforscher“, wurden im Juni 1933 verboten. Trotzdem nahmen „in Grone weiterhin etwa 20 Personen an den Zusammenkünften“ teil. Ihre Verweigerung gegenüber dem NS-Regime brachten sie vor allem „durch Verweigerung zum Ausdruck“. Sie traten keinen NS-Organisationen wie z.B. dem Luftschutzbund oder der Volkswohlfahrt bei, sie wählten nicht, leisteten keine Eide auf den Führer und lehnten den Hitlergruß ab. Außerdem verweigerten sie später den Kriegsdienst. „Repression durch Polizei und Arbeitgeber waren die Folge.“

ehemalige Bäckerei

Obwohl die Polizei versuchte die Weitergabe der Zeitschriften „Das goldene Zeitalter“ und des „Wachtturm“ zu unterbinden, zirkulierten diese weiterhin in der Stadt. Mitglieder der Göttinger Zeugen Jehovas verteilten diese Zeitschriften auch nach Einbeck und Hann. Münden. Flugblätter wurden ab 1936 verteilt. Zu den Verteilern gehörten Willy Schmalstieg aus Grone und der Bäckermeister Wilhelm König aus Groß Lengden. Da Wilhelm König ein Auto besaß, führte er Kurierfahrten illegaler Schriften durch. Am 1.4.1937 wurde „er dann in seinem Hause von der Gestapo“ verhaftet. Über drei Jahre war er in verschiedenen Gefängnissen inhaftiert. Er erkrankte in der Haft so schwer, dass er von seinen Mitgefangenen getragen werden musste. Er wurde als haftunfähig entlassen und war noch längere Zeit bettlägerig. In dieser Zeit kämpfte seine Frau Minna um den Erhalt der Bäckerei. Um den Bäckereibetrieb aufrechterhalten zu können, nahmen Minna und Wilhelm König ihren Sohn Gerhardt im Herbst 1944 aus der Schule.

Kommunisten – die KPD Ortsgruppe

ehemaliges KZ Lichtenburg

Ende Februar 1933 waren die KPD-Funktionäre entweder verhaftet oder untergetaucht. Die Verbindung zur Bezirksleitung in Hannover war unterbrochen. Der „Rote Stürmer“ (Wochenzeitschrift der Ortsgruppe) und Flugblätter wurden weiterhin in Göttingen verteilt. Als im Mai die Rotations- und Schreibmaschinen beschlagnahmt wurden, verteilten sie Klebzettel. „Die meisten Mitglieder der Göttinger Gruppe der KPD wurden Ende 1936 inhaftiert und im September 1937 verurteilt.“

ehemaliges KZ Buchenwald

Einer der 1933 verurteilten Kommunisten war Wilhelm Eglinsky. Gemeinsam mit anderen Kommunisten verbreitete er in Nörten Hardenberg die Tarnschrift „Wie wasche ich mit Persil?

Am 6.9.1933 wurde er verhaftet und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Am 22.08.1935 erfolgte seine erneute Verhaftung und die Überführung in das KZ Lichtenburg. Von dort aus kam er in das KZ Buchenwald. Im Februar 1945 glückte ihm die Flucht. Mit ihm befreundete Kommunisten versteckten ihn in Bovenden.

Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK)

Systematisch baute der ISK einen organisierten Widerstand auf. Willi Eichler richtete 1933 ab Ende Dezember 1933 die Emigrationszentrale der Organisation in Paris ein. Der ISK arbeitete im Inland mit Mitgliedern freier Gewerkschaften zusammen und im Ausland mit der Internationalen Transportarbeiter-Förderation (ITF).

In Göttingen waren für den ISK u.a. Fritz Körber, Heinrich Düker, Karl Wagner und Heinrich Oberdiek tätig. Sie führten „Flugblatt-Aktionen zu den Maifeiern 1934 durch.“ Die Flugblätter wurden im Psychologischen Institut gedruckt. Hier wohnte und arbeitete Heinrich Düker. Die ISK´ler  verwendeten einen Koffer, an dessen Boden ein Farbstempel angebracht war. Dort wo der Koffer gestanden hatte, konnte man später lesen „Nieder mit Hitler“.

Aus Gründen der Sicherheit brachte man ab Sommer 1934 nur noch Handzettel an Bäumen, Masten und Schildern an. Im Januar 1936 wurden 14 ISK-Mitglieder verhaftet und 11 von ihnen erhielten mehrjährige Haftstrafen

Eisenbahner Widerstand

Göttingen gehörte zu den 137 Städten, in denen die Gewerkschaft  „Einheitsverband der Eisenbahner Deutschland“ (EdED) tätig war. Der EdED war eine Sektion des ITF und arbeitete eng mit der Internationalen Transportarbeiter-Förderation (ITF) zusammen.

„Ab 1934 leitete der Kommunist Hermann Fraatz diese Organisation für die Orte Göttingen, Seesen, Höxter, Northeim, Kreiensen und Kassel.“  Vom Herbst 1935 bis zu seiner Verhaftung im Januar 1936 übernahm der ISK´ler Oskar Schmitt die Leitung. Danach lag die Leitung wieder bei Herman Fraatz.

Der Widerstand der Eisenbahner lag vor allem im Sammeln von Informationen und im Transport von illegalem Material (u.a. der Schriften des ISK). „Über die Netzwerke der Eisenbahner wurden zudem die einzelnen Widerstandsgruppen mit Geld für ihre Arbeit versorgt.“

Andere Formen des Widerstandes

Kleine Teile der Göttinger Bevölkerung drückten ihren Widerstand in anderer Form aus. Akte des Widerstandes zeigten sich z.B. in der Verweigerung des Hitlergrußes, der Beflaggung, des Hörens von ausländischen Sendern.

Fazit

Es ist gut, dass es in Göttingen einen Gedenkstein nun auch für „die Menschen gibt, die zwischen 1933 und 1945 trotz aller Bedrohungen mutig Widerstand in verschiedenen Formen gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime geleistet haben„. Ein Historiker stellte fest: „Das fehlte noch in Göttingen“.

Gut ist es auch über die eingangs gestellte Frage von der Stadträtin Petra Broistedt nachzudenken: „Hätte ich selbst vor [über] 70 Jahren Widerstand geleistet?“

Wir haben zwar eine Demokratie in Deutschland, aber Demokratien können sich genau wie in Russland (Verbot der Zeugen Jehovas) oder in der Türkei (eingeschränkte Meinungsfreiheit, Verhaftungen von Journalisten) verändern.

Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetztes ist ein wesentlicher Bestandteil des Grundgesetzes, der verhindern soll, dass wieder eine Diktatur mit nur einem Machtinhaber oder ein Polizeistaat entstehen kann. Eine Garantie für den immerwährenden Fortbestand des Grundgesetzes, das als Verfassung dient, gibt es nicht.

Artikel 146 des Grundgesetzes besagt, dass das Grundgesetz seine Gültigkeit verliert, wenn es durch eine vom deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen Verfassung ersetzt würde.

Allerdings hat jeder Bürger des deutschen Volkes gar nicht die Möglichkeit persönlich über die Einsetzung einer neuen Verfassung zu abzustimmen. Er wird von gewählten  Politikern vertreten. Es bleibt immer ein Restrisiko bestehen, dass korrupte  Politiker ihre eigenen Interessen per Gesetz mit einer 2/3 Mehrheit durchsetzen könnten.

© Ingeborg Lüdtke

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Weitere Links:

http://www.goettinger-tageblatt.de/Goettingen/Uebersicht/Gedenkstein-fuer-den-Widerstand-gegen-den-Nationalsozialismus-in-Goettingen

https://www.hna.de/lokales/goettingen/goettingen-ort28741/ein-stein-fuer-widerstand-gegen-nazis-8319599.html

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Martin Luther und die Reformation – Interview mit Prof. Dr. Thomas Kaufmann

Martin Luther – Kopenhagen

Das Jahr 2017 steht in Deutschland unter dem Motto „500 Jahre Reformation„.

Der Name Martin Luther ist eng mit der Reformation verbunden.

Prof. Dr. Thomas Kaufmanns Forschungsschwerpunkte sind Martin Luther und die Reformation. Er ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität in Göttingen.

Ingeborg Lüdtke:

Die Evangelische Kirche in Deutschland ist der Zusammenschluss von selbständigen lutherischen, reformierten und unierten Landeskirchen. Ihnen gehören 14.800 rechtlich selbständigen Kirchengemeinden an.

Was würde Martin Luther heute dazu sagen? Ist die Reformation gescheitert?

 

Thomas Kaufmann:

Luther hat Kirche in erster Linie von der Gemeinde her gedacht. Insofern ist die große Zahl selbständig existierender Gemeinden kein Skandal. Luther hat versucht, im Rahmen des ihm möglichen, das Landeskirchentum zu stärken. Das war unter den Bedingungen des 16. Jahrhunderts realistisch. Die Landesherren haben dann innerhalb ihres politischen Zuständigkeitsbereichs eine kirchliche Ordnung aufgebaut, die für diesen Bereich einheitlich war. Es lag ihm daran, dass man nicht in einem Dorf so das Abendmahl feiert und in einem anderen Dorf anders. Diese Funktion ist, glaube ich, nach wie vor durchaus zentral. Andernfalls ist das regelmäßig ein Anlass für unsinnige und unnötige Konflikte. Wie Luther ansonsten unsere theologische oder kirchliche Gesamtlage beurteilen würde, ist schwer zu sagen. Klar ist, dass wir heute mit der allergrößten Selbstverständlichkeit in einer Stadt wie Göttingen unterschiedliche Kirchen haben: die Reformierten, die Mehrheitskirche: die Lutheraner, die katholische Kirche, kirchliche Gemeinschaften, Gruppen, Baptisten, Mennoniten usw.. Das wäre für Luther unvorstellbar gewesen. Er hat im Prinzip an der Vorstellung festgehalten, das innerhalb eines Gemeinwesens auch  e i n e  Religion zu herrschen habe. Dass es heute eine jüdische Gemeinde in Göttingen gibt, empfinden wir als ein großes Glück, ja als Segen. Für Luther wäre das anstößig gewesen.

Ingeborg Lüdtke:

Wenn man über die Reformation spricht, kommt man an Martin Luther nicht vorbei. Allerdings hat sich die Sicht auf Martin Luther verändert. Anfangs wurde er fast als Messias verehrt und seine Verdienste an der Bibelübersetzung  wurden hervorgehoben. Heute wird seine antijüdische und anti-islamische Gesinnung offen angesprochen.

Wie wird Martin Luther heute gesehen?

Thomas Kaufmann:

Das Lutherbild ist heute sicher vielfältiger denn je. Ich denke mal am Buchmarkt kann man studieren, dass sehr unterschiedliche Zugänge zu Luther gesucht werden. Dieses plurale Lutherbild ist aus meiner Sicht kein Schade, sondern in einer pluralen Gesellschaft geradezu zwangsläufig und selbstverständlich. Luther ist keine eindeutig heroische Identifikationsfigur mehr. Das hängt mit den hochgradigen Ambivalenzen bei den Themen zusammen, die uns heute besonders beschäftigen: multireligiöse Gesellschaften, der Umgang mit dem Islam, Verhältnis zum Judentum; Fragen, die bei Luther Antworten finden, die für unsere Zeit und unsere Gesellschaft keineswegs befriedigend sein können. Unterschiedliche Zugänge und gesellschaftliche Entwicklungen rücken uns in Distanz zu Luther. Ich denke auch, dass es für eine weltanschaulich vielfältige plurale Gesellschaft nicht ohne weiteres sinnvoll und möglich ist, einzelne Individuen als Leitikonen zu verehren. Das wird bei keiner Gestalt gelingen, es würde auch in Bezug auf Goethe scheitern und andere sozusagen sehr stark akzentuierte und positivierte Gestalten in der deutschen Vergangenheit. Insofern macht diese Entwicklung an Luther nicht halt. Heute sehen wir darüber hinaus, dass neben Luther eine ganze Reihe anderer Akteure, die in der Vergangenheit wenig betont wurden, wichtig waren, und die den Prozess der Reformation entscheidend mitbestimmt haben.

Ingeborg Lüdtke:

Ein gesellschaftlicher und religiöser Umbruch kommt ja nicht von heute auf morgen. Welche Veränderungen machten den Weg für Luthers Theologie frei?

 

Thomas Kaufmann:

Luthers Theologie hat sich einerseits entwickelt vor dem Hintergrund eines bestehenden theologischen Schulsystems, von dem er sich, je länger desto mehr, absetzte. Wir nennen dieses Schulsystem „scholastische Theologie“. Sie war dadurch gekennzeichnet, dass man sich in der Logik an Aristoteles orientierte, dass man eine strenge logische Argumentation praktizierte, und dass Schriftzeugnisse neben Traditionszeugnissen gegenüber Vernunftargumenten gleichsam nivelliert wurden. Luther lag daran, einen Zugang zu Gott und zur Theologie ausschließlich durch die Heilige Schrift zu gewinnen. Diese Einseitigkeit führte dazu, dass wesentliche Teile der scholastischen Theologie oder Traditionsbestände aber auch Argumentationsstrategien für ihn nicht mehr in Frage kamen. Luther war in dieser Hinsicht durchaus ein Kind seiner Zeit, denn die Scholastik wurde auch von anderen Intellektuellen kritisiert. Die sogenannten HumanistenErasmus von Rotterdam usw. – stemmten sich dagegen, dass die Scholastik, die durch eine besonders dürftige Form des Lateinischen gekennzeichnet war, dominierte. Luther knüpfte an diese Tendenzen an. Hinzu kommt eine weitere Quelle, die gemeinhin als „deutsche Mystik“ angezeigt wird. Luther las erbauliche Schriften in der deutschen Sprache, und ihm lag sehr daran, dass nicht nur in der Schule, sondern auch auf der Kanzel, auch unter dem gemeinen Mann, dieselben theologischen Gedanken und Ideen verbreitet wurden. Das, was für die scholastische Universitätstheologie charakteristisch war, nämlich eine Theologie in erster Linie für Gelehrte zu produzieren, war ihm anstößig. Er wollte, dass die Theologie den öffentlichen Raum erreicht, und keine andere Theologie von der Kanzel verkündet wird, als die, die im Hörsaal unterrichtet wird.

Ingeborg Lüdtke:

Anfangs wollte Martin Luther nur die katholische Kirche verändern. Woran übte er in seinen 95 Thesen Kritik?

 

Thomas Kaufmann:

Die 95 Thesen bezogen sich auf das Ablasswesen. Ablass zielt darauf, die Sünden, die durch entsprechende Bußleistungen zu kompensieren sind, zu tilgen, also eine offen gebliebene Sündenschuld, die durch entsprechende Gebetsleistung und durch entsprechende Bußleistung, Fasten etc. zu kompensieren wären, durch einen Ablass zu tilgen. Luther sah in dem Ablasswesen eine Verflachung der Buße. Für ihn war christliches Leben entscheidend durch Buße geprägt, und von daher darauf ausgerichtet, sich in radikaler Nachfolge Jesu zu bewegen. Das Bußinstitut lag ihm insofern am Herzen, und der Ablass sozusagen als Aushöhlung, als Abschwächung der Buße, bedeutete für ihn eine Verflachung des Christentums, der christlichen Existenz. Er hat im Grunde die harten Maßstäbe einer Bußexistenz, die er als Mönch gewohnt war, auf jeden Christen angewandt, also eine radikale Verschärfung der Bußanstrengung, die er auf der anderen Seite dadurch kompensiert hat, dass dem Christen die Gnade Gottes geschenkt wird, also nicht als Ergebnis eigener Anstrengungen gilt.

Ingeborg Lüdtke:

Was führte dazu, dass sich Luther radikal von der katholischen Kirche abwandte?

 

Thomas Kaufmann:

Die Auseinanderentwicklung zwischen Luther und der zeitgenössischen katholischen Kirche war im Grunde eine wechselseitige Bewegung. Ich würde schon sagen: auf der einen Seite wurde Luther verworfen und verstoßen, auf der anderen Seite hat er diese Verwerfung bejaht. Dreh- und Angelpunkt ist die Verurteilung durch die Papstkirche – in Gestalt der Bulle „Exsurge Domine“ vom Juni 1520, die Luther dann mit der Verbrennung dieser Bulle und des kanonischen Rechts, der Rechtsgrundlage der  Römischen Kirche beantwortet hat. Also auf die Exkommunikation, die ihm widerfuhr, hat er im Grunde mit einer Gegenexkommunikation der Papstkirche reagiert, es ist ein wechselseitiges Ausgrenzungsphänomen, das im Wesentlichen den Grund darin hat, dass Luthers Lehre, wie er immer wieder feststellte, nicht widerlegt worden ist, sondern dass er Kraft eines rechtlichen Willküraktes verurteilt wurde, und die 40 Lehrsätze, die die Grundlage der Verdammung bildeten, also die Grundlage von „Exsurge Domine“, sehr willkürlich herausgepickt waren, und Sachverhalte in Frage stellten, von denen er der Überzeugung war, über weite Strecken mit gutem Grund, dass sie biblisch begründet sind. Also dieser Willkürakt ohne Widerlegung durch die Heilige Schrift hat ihn in eine nicht wieder zu korrigierende Distanz zum Machtapparat Römische Kirche gebracht.

Ingeborg Lüdtke:

Wieso zeigte die Reformation anfangs in Göttingen wenig Wirkung?

 

Thomas Kaufmann:

Göttingen gehört hinein in die relativ späten oder phasenverzögerten hansestädtischen Norddeutschen Reformationen . Die relativ verzögerte reformatorische Entwicklung in einer Stadt wie Göttingen führe ich in erster Linie auf sprachgeschichtliche Sachverhalte zurück. Göttingen gehörte zum niederdeutschen Sprachgebiet, und die reformatorische Publizistik vollzog sich weitestgehend in der frühneuhochdeutschen Sprache. Also Texte Luthers wurden nur in einer sehr geringen Dichte an einem Ort wie Göttingen rezipiert. Von den Anfängen der reformatorischen Bewegung in Göttingen wissen wir, dass es Tuchknappen waren, dass es die reformatorischen Lieder waren, die zu Identitätsbildung geführt haben, die zu Parteibildung und dann zu Konfrontationen führten. Also gegen diesen Bartholomä-Umzug oder Umzug gegen den englischen Schweißer Bartholomäustag stellten sich, stemmten sich Lutherlieder singende Tuchknappen. Das ist eine Konstellation, die wir in verschiedenen Hansestädten haben, die für einen Reformationsprozess sprechen, der nicht von den Intellektuellen und administrativen Eliten ausging, sondern eher von Handwerkergruppen, die mobil machten. Das ist in den oberdeutschen Reformationen vielfach anders, da sind sozusagen die Eliten über Lektüreprozesse relativ schnell reformatorische Inhalte aufnahmen. Hinzu kommt im Fall Göttingens, dass es eine Landstadt ist, die von den Calenberger Herzögen regiert wird, und so die Entscheidung zugunsten der Reformation in einen offenen Widerspruch zur religionspolitischen Richtung des Landesherrn stand. Das setzte Konfliktpotenzial frei.

Ingeborg Lüdtke:

Martin Luther war nicht der erste, der die Bibel ins Deutsche übersetzte. Das Besondere an seiner Bibelübersetzung war, dass sie auch das allgemeinen Volk verstand. Sie vereinheitlichte die vielen  deutschen Dialekte.

Hat Luther direkt aus den Ursprachen übersetzt oder teilweise aus der latinischen Übersetzung von Erasmus von Rotterdam und der Vulgata?

 

Thomas Kaufmann:

Luther hat mit der Bibelübersetzung sicher eine besonders bedeutende und ihm auch besonders wichtige Leistung vollbracht. Was die sprachgeschichtliche Dimension angeht, würde ich sehr stark betonen, dass ein Vereinheitlichungsprozess des Frühneuhochdeutschen in der Schriftsprache bereits vor Luther, den sächsischen Kanzleidialekt und die Sprache am Kaiserhof eingeleitet war. Es gab diese Schriftsprache bereits. Was für Luthers Übersetzung an sich entscheidend war, war, dass er von den Möglichkeiten der Zielsprache, also des Deutschen, her gedacht hat, also: „Was klingt angemessen? Wie würde man es auf Deutsch ausdrücken?“ Er bricht damit mit der Übersetzungstheorie, die möglichst nah am Original zu bleiben versucht. Luther hat für seine Übersetzung grundsätzlich die Ursprachen zugrunde gelegt, also das Hebräische für das Alte Testament, das Griechische für das Neue Testament, aber er war geprägt durch die Vulgata, die lateinische Ausgabe der Bibel, die hatte er im Kopf. Luther hat jahrein jahraus zweimal im Jahr die ganze Bibel durchgelesen, also er kannte die Bibel über weite Strecken sogar auswendig. Das sieht man vielfach auch an seinen falschen Zitaten, also er zitiert aus dem Kopf, er schlägt in der Regel nicht nach. Dadurch war natürlich immer schon sehr viel an Vulgata in seiner Lektüre und Übersetzung des griechischen Neuen Testaments. Also man kann es nicht voneinander trennen. Erasmus ist deshalb wichtig –  er hat das Novum Instrumentum des Erasmus seit 1516 nachweislich benutzt – Erasmus war deshalb wichtig, weil seine lateinische Übersetzung die dominierende Geltung der Vulgata, als der Normübersetzung, der lateinischen Normübersetzung in der Römisch Katholischen Kirche, relativiert hat. Also der Blick in Erasmus` Novum Instrumentum war für Luther sozusagen Tagesgeschäft, und ist an vielen Stellen genutzt worden, um ein ihm problematisch erscheinenden Sinn der Vulgata im Deutschen zu bereinigen. Es ist ein Übersetzungsprozess, den Luther in Bezug auf das Alte Testament in Teamarbeit vollzogen hat …. Dabei muss man sich immer eine kleine Handbibliothek bei vorstellen, wo man nachgeschaut hat, und wo man versucht hat, insbesondere bei schwierigen hebräischen Vokabeln, die nur einmal belegt waren, sogenannte „Hapax Legomena“, herauszufinden, was überhaupt gemeint ist.

Ingeborg Lüdtke:

Roland Bainton schreibt in seiner Lutherbiographie, dass Luther die Psalmen recht frei übersetzte. Auch erwähnt er, dass er die „Rechtfertigung durch Glauben“ als „Rechtfertigung allein  durch den Glauben“ übersetzte.

Wie genau ist Luthers Bibelübersetzung?

 

Thomas Kaufmann:

Das war schon im 16. Jahrhundert ein Streitgegenstand. Luther hat sich im Sendbrief vom Dolmetschen ausführlich mit dieser Frage beschäftigt, ob es legitim war, dass er in Römer 3,28 „allein“ aus dem Glauben gerechtfertigt eingesetzt hat. Es steht nicht im Griechischen, auch nicht im Lateinischen. Es ist eine Interpretation, und Luther hat sich damit verteidigt, dass er diese Partikel eingefügt hat, um den Sinn des Verses zu verdeutlichen, und die Aussage des Apostels zu präzisieren. Das ist ein interpretativer Eingriff, aber wir alle wissen, dass Übersetzungen immer Interpretationen sind, d. h. es gibt keine interpretationsfreie Übersetzung. Luther wollte das Verständnis dieses Verses schärfen, und so ist er an einer ganzen Reihe von Stellen verfahren, Grund dafür, dass wir Theologen nach wie vor die alten Sprachen lernen, um         Übersetzungsentscheidungen dieser Art einschätzen zu können, und sie ggf. auch korrigieren zu können.

Ingeborg Lüdtke:

Martin Luther legte Wert auf den Gebrauch des Namens Gottes. Er schreibt in seiner Bibelübersetzung aber anstelle des Gottes Namens aber HERR in Großbuchstaben. Damals war es üblich den Namen Jehova zu gebrauchen.

Thomas Kaufmann:

JHWH – Tetragramm

Also das Wort Jehova ist eine spezielle Aussprache des alttestamentlichen Gottesnamens.

Es ist das Tetragramm, der nicht aussprechliche Gottesname mit  Vokalzeichen – das Hebräische hat ja Konsonaten, Buchstaben und Vokalzeichen – mit den Vokalzeichen des Wortes „Elohim„, dem Gattungsname für Gott, was diese Aussprache ergibt. Luther schreibt in der Übersetzung in der Regel, da wo Jachwe oder Jehova mit der Vokalisation Adonai steht „HERR“.

Ingeborg Lüdtke:

Was hat die Reformation der christlichen Welt gebracht?

 

Thomas Kaufmann:  

Die Reformation hat der christlichen Welt Differenzierung gebracht, eine neue Verständigung über ihre Grundlagen, sie hat heilsame Unruhe in ein hierarchisches Kirchensystem gebracht, und sie ist, so würde ich nach wie vor sagen, ein Quell der Beunruhigung der heute bestehenden realexistierenden evangelischen Kirche, weil der Rekurs auf die Reformation, insbesondere die frühe Reformation, zeigt, wie viel an Möglichkeiten, an Gärung bestanden hat. Die Reformation ist insofern ein sehr deutlich auch über sich hinaus gehender Entwicklungsfaktor auf dem Weg zur westlichen Moderne geworden. Die westliche Moderne ist nicht allein das Produkt der Reformation, aber durch Impulse, die von der Reformation ausgegangen sind, in bildungsgeschichtlicher Hinsicht, auch im Hinblick auf das Priestertum aller Glaubenden, also Partizipation, Mitwirkung etc., sind Impulse im 16. Jahrhundert freigesetzt worden, an die man sich in späteren Zeiten erinnert hat, die man aufgenommen hat, die man weitergeführt hat, und die dann auch zu gesellschaftlichen Veränderungen geführt haben. Etwa über die Neuaufnahme des Priestertums aller Glaubenden im Pietismus haben sich Impulse freigesetzt, die dann in anderen gesellschaftlichen Kontexten, etwa in Nordamerika, auch demokratische Entwicklungen heraufgeführt haben. Insofern sind die Wirkungen, die von der Reformation ausgegangen sind, sehr vielfältig, teilweise diffus, aber bis heute intakt.

(c) Ingeborg Lüdtke

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Sendetermine im StadtRadio Göttingen:

24.3.,26.3., 29.3. und 2.4.2017

Weiterführende Literatur:

Thomas Kaufmann, Reformatoren, 1. Auflage 1998, Vandenhoeck & Ruprecht

Thomas Kaufmann, Erlöste und Verdammte, 3. Auflage 2017, C.H. Beck

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