Kassel: Bombardierung, Wiederaufbau und denkwürdiger Kongress 1948 in der Karlsaue

Orangerie Kassel

Anfang Mai 2018 fand man in Kassel in der Karlsaue eine 250 Kilogramm schwere Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg.

Wussten Sie eigentlich, dass Kassel insgesamt 40 Mal während des 2. Weltkrieges bombardiert wurde?

Haben Sie sich schon ein gefragt, warum  Kassel im Gegensatz zu Göttingen so stark bombardiert wurde?

Wussten Sie, dass Hitler in Kassel im Juni 1939 vor Hundertausenden eine kriegstreiberischer Rede in der Karlsaue hielt?

Eine Antwort auf diese Fragen gibt  es in der folgenden Sendung.

Es geht in der Sendung aber auch um den Wiederaufbau der Stadt Kassel und welche Überlegungen dabei eine Rolle spielten.

Zum 70. Mal. jährt sich eine große Aufräumaktion Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in der Karlsaue.

Für ihren Kongress mussten sie bei Dauerregen 50 Bombentrichter mit Steinen und Schutt füllen.

Bleiben Sie dran und hören Sie in die Interviews mit Dr. Alexander Link und Wilfried Siegner rein.

Als erstes sprach ich mit Dr. Alexander Link. Er ist der ehemalige stellvertretende Leiter des Stadtmuseums in Kassel. An dem Tag unseres Telefonats fegte ein stürmischer Wind über Kassel und Göttingen hinweg. Ein passendes Wetter für unser Thema.

Ich habe Dr. Alexander Link gefragt:

Wenn man nach Kassel kommt, vermisst man einen einheitlichen historischen Stadtkern, wie es ihn in Göttingen gibt. Warum ist das so?

Dr. Alexander Link:

Ja, es gibt im Grunde genommen zwei maßgebliche Ursachen für diese Entwicklung. Das eine ist selbstverständlich die immense Kriegszerstörung. Kassel war 1945 zu 75 % zerstört. Dazu müsste ich ein wenig ausholen, weil der Charakter der Stadteile ja durchaus unterschiedlich ist. Es gab in Kassel eine mittelalterliche Altstadt mit Fachwerkbauten, zum Teil repräsentative Häuser, vergleichbar mit Hann. Münden, aber wesentlich ausgedehnter. Dann gab es einen Stadtteil, der im Zusammenhang mit der Zuwanderung von französischen Glaubensflüchtlingen, den Hugenotten, entstanden ist. Dort standen Steinhäuser, die nach den großen Angriffen ausgebrannte Ruinen waren. Dann gab es die gründerzeitlichen Stadteile des 19. Jahrhunderts, der heutige sogenannte Vordere Westen, der noch vergleichsweise authentisch daher kommt. Hingegen die Altstadt, dieser mittelalterliche Fachwerkinnenstadtsteil ist restlos bei einem der großen Angriffe abgebrannt. Da hätte man nichts aufbauen können. Hingegen in dem Hugenottenstadtteil wäre es möglich gewesen. Da hat bereits während des Krieges die Nazistadtplanung dagegen opponiert. Man wollte die Gauhauptstadt nach dem Endsieg, wie das immer hieß, nach dem Geschmack der Nazis aufbauen, war also durchaus geneigt, möglichst viel Freifläche zu haben. Und nach dem Krieg setzte sich das fort. Zum Teil gab es Kontinuitäten in dieser Stadtplanung, nicht mehr ganz nach Nazigeschmack, aber jetzt setzte sich das Ideal der autogerechten Stadt durch. Das war eigentlich die Basis des Kassler Wiederaufbaus. Die autogerechte Stadt und das bedeutete schlichtweg: Möglichst viel Altes musste weg.

Nun sind wir schon beim Aufbau. Ich wollte aber noch wissen:  Warum wurde Kassel im Gegensatz zu Göttingen so stark bombardiert?

Dr. Alexander Link:

Ja, das ist eine ganz wichtige Frage, denke ich. Im Grunde genommen kann man sagen: Kassel war eine Industriestadt geworden und deren Industrie war fast zu 100 % kriegswichtig. Da gab es Rüstungsbetriebe unterschiedlicher Art. Es gab die Fieseler Flugzeugwerke. Es gab andere Betriebe, die Flugzeuge und Flugzeugzubehör bauten. Das Traditionsunternehmen Henschel, ursprünglich eine Lokomotivfabrik, baute während des Kriegs Panzer. Und man könnte die Reihe fortsetzen. Das heißt Kassel war ein durchaus kriegswichtiges Ziel für die alliierten Bomberverbände.

Gab es viele Todesopfer durch den Bombenangriff?

Dr. Alexander Link:

Das war ganz beträchtlich. Also, ich muss dazusagen, Kassel wurde insgesamt 40 Mal während des Krieges bombardiert. Die ersten Angriffe waren noch vergleichsweise harmlos, aber 1943 massierte sich das. Mittlerweile war die britische Luftwaffe in der Lage, von England aus mit großen Bomberverbänden bis ins Zentrum Deutschlands zu fliegen. Man dachte anfangs, dort sei man luftkriegssicher. Das war dann aber nicht mehr der Fall, und der schlimmste Angriff am 22.10.1943 galt der Altstadt, wo man mit fast 450 großen viermotorigen Flugzeugen anflog.

Hauptsächlich wurden Brandbomben geworfen, aber auch gewaltige Sprengbomben. In dieser Nacht ist die komplette Altstadt abgebrannt. Auch in den Randbezirken gab es viele Schäden. Rund 10 000 Menschen starben. Es war in der chaotischen Situation danach nicht möglich, alle Todesopfer zu identifizieren. Es hat Massengräber gegeben. Insgesamt starben bei den 40 Luftangriffen auf Kassel ungefähr 12 000 Menschen.

Es gab auch viele Überlebende. Wie wurde die Bevölkerung nach dem Bombenangriff mit Lebensmittel versorgt? Viele Kasselaner wurden obdachlos. Wo wurden sie untergebracht?

Dr. Alexander Link:

Das ist zunächst chaotisch gelaufen. Es brach ja im Grunde genommen die gesamte Infrastruktur zusammen. Die Geschäfte funktionierten nicht mehr. Es gab keinen Strom usw.. 100 000 Menschen sind obdachlos geworden. Man hat sie an den Stadträndern und in der weiteren Umgebung untergebracht, teilweise 50-60 km entfernt, dort wo noch intakte Wohnhäuser waren. Dennoch funktionierte die Lebensmittelversorgung im Großen und Ganzen noch relativ gut. Allerdings muss man sagen, das war eine Rationierungswirtschaft, das heißt nur auf Lebensmittelkarten konnte man Lebensmittel beziehen. Das mehr schlecht als recht, aber das funktionierte noch einigermaßen. Dazu muss man aber sagen: Möglich war das während des Krieges nur deshalb, weil Deutschland seine besetzten Gebiete gnadenlos ausbeutete.

Gab es auch Hilfsmaßnahmen von anderen Städten im Umkreis von 50-100km?

Dr. Alexander Link:

Ja, auf jeden Fall … Löscharbeiten, … selbst die beste Feuerwehr der Welt hätte nicht dagegen ankommen können gegen diesen Feuersturm, der ja tatsächlich entstand durch diesen Angriff, durch die Brandbomben.) Aber es war wichtig nachher aufzuräumen. Die Stadt war voller Trümmer. Teilweise waren die Straßen nicht mehr passierbar, weil die Häuser zusammengestürzt waren. Und da kamen Hilfsmannschaften, Feuerwehren und andere aus weiter Umgebung, aus Marburg und ich vermute auch aus Göttingen sind welche gekommen, die da geholfen haben, um einigermaßen die Sache wieder in den Griff zu bekommen.

Wann wurde mit dem Wiederaufbau der Stadt begonnen und wer war maßgeblich an den Aufbauarbeiten beteiligt?

Dr. Alexander Link:

Also man kann sagen die Innenstadt hat relativ lange gewartet auf einen Wiederaufbau. Das war eben dieses Viertel mit den abgebrannten Fachwerkhäusern. Die Hugenottenstadt war schon bis Kriegsende weitgehend gesprengt worden von den Nazis. Das war auch Tabula rasa. Auch da wartete man. Man hat zunächst in den Randbezirken aufgebaut, also Häuser repariert, Schulen repariert und und. Bis 1949 ging das, und dann wurden erst Anfang  der 1950er Jahre die richtigen Wiederaufbaupläne ratifiziert. Der eigentliche Aufbau der Innenstadt kann man sagen, startete 1951/52 erst. Es galt damals als Vorteil, weil man in andern kriegszerstörten Städten mehr oder weniger planlos losgelegt hat und da und dort etwas repariert und hier etwas hingebaut hat. Kassel hat also sein Aufbaukonzept länger überdacht und galt bis weit in die 1970er Jahre hinein als Musterbeispiel einer modernen, einer autogerechten Wiederaufbaustadt.

Wie lange hat der Wiederaufbau insgesamt gedauert?

Dr. Alexander Link:

Ja, das ist schwer zu beantworten. Ein Beispiel ist der mittelalterliche Fachwerkstadtteil „Unterneustadt“. Da hätten die Nazis gerne einen großen Aufmarschplatz, Appellplatz hingebaut, d.h. man hat erstmal nichts gemacht. Und dann war jahrzehntelang dieser Stadtteil nichts anderes als ein Parkplatz und ein Messeplatz. Erst in den 1990er Jahren haben Architekten diesen Stadtteil wieder aufgebaut mit Bezug auf den alten Stadtgrundriss, aber mit modernen Häusern, durchaus interessant. Aber das war 50 Jahre nach Kriegsende, und es gab so genannte Baulückenprogramme, um kriegsbedingte Baulücken zu schließen. Die liefen noch bis zur Jahrtausendwende. Das heißt im Grunde ist eigentlich ein Wiederaufbau nicht wirklich zu Ende gekommen.

Ich wollte auch noch einmal darauf Bezug nehmen, wie man im Allgemeinen mit diesen historischen Ruinen umgegangen ist. Ich hatte gelesen, dass man durchaus ältere Gebäude hätte retten können und dass man es nicht immer getan hat.

Dr. Alexander Link:

Ja, ich habe das ja schon angedeutet. Also dieses Beispiel des Hugenottenstadtteils mit den ausgebrannten Ruinen. Da gab es die Möglichkeit diese Häuser wieder aufzubauen. Es gab viele Hauseigentümer, die das auch gerne gesehen hätten, die das wollten. Einem einzigen ist es gelungen das Haus wieder aufzubauen. Das Haus ist heute ein Prachtexemplar an der Schönen Aussicht. Ansonsten haben schon die Nazis das zu verhindern gesucht, haben umgehend die Ruinen gesprengt. Das heißt, man hätte manches wiederaufbauen können. Das wollten weder die Naziplaner noch die Protagonisten der Moderne. Erstere wollten ihre pompöse repräsentative Gauhauptstadt irgendwann bauen, und die Nachkriegsplaner taten sich schwer mit älteren Bauten, vor allem mit den Bauten des 19. Jahrhunderts. Das klassische Beispiel ist das alte Staatstheater von 1909, ein sehr repräsentativer Bau aus der Kaiserzeit. Viele Kasseler hätten gerne den Wiederaufbau gesehen. Das Theater war zwar nur teilzerstört, aber die Planer wollten es nicht. Historismus war nicht angesagt. Dergleichen wollte man am liebsten beseitigen. Das gilt also für viele Ecken in Kassel. Dazu muss man insgesamt sagen: Nach dem Krieg hatte das Wort Wiederaufbau für viele keinen guten Beigeschmack. Man wollte ja die „neue Stadt“. Man wollte diese Kriegszerstörung nutzen, um eine neuere, bessere, schönere Stadt zu bauen. Wiederaufbau galt vielen als suspekt. Das hat sich im Lauf der Jahrzehnte geändert. Heute wäre man froh, wenn mehr wieder aufgebaut worden wäre, aber damals war das einfach nicht im Sinne des Zeitgeists.

Ein noch älteres historisches Gebäude ist die Orangerie in Kassel. Die Sommerresidenz von Landgraf Carl wurde von 1701 bis 1710 erbaut. Citrusfrüchte und Palmen überwinterten dort noch bis zum Kriegsbeginn  1939. Im Oktober 1943 wurde die Orangerie stark zerstört. Warum erfolgte der Wiederbau der Orangerie erst in den 1980er Jahren?

Dr. Alexander Link:

Ja, das ist eine ganz interessante Geschichte und passt zu dem was ich eben angedeutet habe. Es gab nach dem Krieg Stimmen, die einen Abriss der Ruine forderten. Also das war eine ausgebrannte Ruine. Es standen eigentlich nur noch Außenmauern und es war strittig, was damit passieren sollte, ob wieder aufgebaut werden sollte oder nicht. Dann hat man 1955 in der Karlsaue die Bundesgartenschau durchgeführt, von durchaus bedeutenden Gartenarchitekten, Hermann Mattern hauptsächlich gestaltet. Und dieser Hermann Mattern hat den Wert dieser Ruine durchaus gesehen und hat sie mit einer Holz-Glas-Konstruktion überbaut und das als Ausstellungshalle verwendet. Das fanden ganz viele reizvoll. Das war der erste Schritt und 1959 hat die 2.  documenta diese Ruinen-Umgebung zur Präsentation von Skulpturen benutzt. Und spätesten von dem Zeitpunkt an hat niemand mehr den Abriss gefordert. Das heißt: Bundesgartenschau und documenta haben den Erhalt der Orangierie ermöglicht. Aber das Verfahren sollte sich noch bis zur zweiten in Kassel gezeigten Bundesgartenschau im Jahr 1981 hinziehen. Im Vorfeld dieser Gartenbauausstellung hat man dann den zentralen Baukörper der Ruine rekonstruiert. Die beiden Außenpavillons waren erhalten.

Können Sie noch etwas zu der Karlsaue sagen?

Dr. Alexander Link:

Ja, die Karlsaue war ein fürstlicher Garten zurzeit als die Orangerie gebaut wurde. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hat man ganz im Geschmack des Barock in strenger Achsensymmetrie diesen Park gestaltet. Es gibt diese beiden kanalartigen Wasserareale, Hirsch- und Küchengraben, die zu einem Teich führende Mittelachse, in dessen Mitte eine Insel mit einem kleinen Tempelchen usw. Das war barocke Gartengestaltung, eben Repräsentation eines Fürsten. Und im 19. Jahrhundert ist dieser Park ein wenig von den Idealen des englischen Landschaftsgarten überformt worden, etwas naturnäher. Und die Kombination aus barocker Strenge und Naturnähe hat dem Park durchaus einen Reiz gegeben. Die Karlsaue war natürlich wie alles in der Kassler Umgebung massiv vom Luftkrieg betroffen, Bombentrichter überall. Beim Kongress der Zeugen Jehovas 1948, da hat man offenbar angefangen, die schlimmsten Schäden in der Wiese bei der Orangerie zu beseitigen. Und die Bundesgartenschau 1955  hat den gesamten Park neu gestaltet, sehr geschmackvoll. An der Hangkante zur Innenstadt hin hatte man einen großen Teil des Trümmerschutts der Innenstadt abgekippt. Das war eine Schutthalde. Die Bundesgartenschau hat aus dieser Schutthalde ein gestaltetes Parkareal gemacht. Und geradezu symbolhaft hat man 1955 am Auehang zehntausende Rosen gepflanzt: Blüten auf Ruinen, neues Leben auf den Trümmern. Und es steht eben auch für das neue Selbstverständnis des Stadt nach den Schrecken des Krieges und der Nazizeit.

Die Karlsraue hatte aber noch einen historischen Hintergrund. Da soll ja Hitler auch gesprochen haben.

Dr. Alexander Link:

Ja, ich habe ja erwähnt, die „Gauhauptstadt Kassel“ hatte ja seit Mitte der 1930er Jahre den Ehrentitel „Stadt der Reichskriegertage“. Das hat man also riesenhafte, ja ich würde sagen, Propagandaevents gestartet, wo der Reichskriegerbund, vormals Kyffhäuserbund; seine militaristischen Ideen darstellte.

Diese Reichskriegertage, die schon vor der Nazizeit begonnen hatten, aber dann eben von den Nazis aufgegriffen wurden und ganz in ihrem Sinne waren, das war eine Manifestation des Militarismus. Die wurden dann im Geschmack der Nazis in einem Riesenspiel organisiert. Der wirklich größte und gigantischste und wahnsinnigste Reichkriegertag fand im Juni 1939 statt. Die gesamte Stadt war einbezogen. Es fanden Aufmärsche statt, bei denen Hitler stundenlang seinen Arm hochhielt. Nach Abnahme der Parade hielt er in der Karlsaue von einer gigantischen Rednertribüne herab eine seiner kriegstreiberischen Reden. Und Hunderttausende jubelten ihm zu. Also wenn man sich ansieht mit welchem Aufwand das gemacht war, dann weiß man, dass die Nazis perfekte Organisatoren von Großereignissen waren. Das galt ja auch für die Nürnberger Reichsparteitage. Und diese Reichskriegertage in Kassel waren in der gleichen Dimension

Ich denke, wenn man den begeisterten Zuhörern damals gesagt hätte, dass vier Jahre später die schöne Kassler Innenstadt eine Trümmerwüste sein würde, hätten die das nicht geglaubt. Und es ist dann ja wirklich so gekommen.

Zu Glück wollte Kassel nach dem Krieg von der Selbstdarstellung im Geiste des Nationalsozialismus wegkommen. Die documenta 1955 war sicher ein wichtiger Impuls, um Kassel als moderne, weltoffene, tolerante Stadt weiter ins Bewusstsein zu bringen.

Sprecherin:

Der 2. Weltkrieg war vorbei. Das Regime der Nationalsozialsten gab es nicht mehr. Die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas begann wieder große Kongresse abzuhalten. Einer der Kongresse fand 1948 in Kassel in der Karlsaue statt.

Bei meinem Telefonat mit Wilfried Siegner war das Wetter dann weniger stürmisch.  Wilfried Siegner ist für die Öffentlichkeitsarbeit der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas verantwortlich.Ich habe ihn gefragt:

Herr Siegner die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Kassel veranstaltete im Juli 1948, also vor 70 Jahren, einen denkwürdigen Kongress. Denkwürdig in vielerlei Hinsicht. Die Stadt Kassel befand sich erst im Wiederaufbau. Es musste eine geeignete Stätte für den Kongress gefunden werden und die vielen Besucher mussten verpflegt werden. Die Besucher benötigten auch eine Unterkunft. Mit welchen Schwierigkeiten hatten die Kongressplaner zu kämpfen?

Wilfried Siegner:

Ja, [es]war tatsächlich so, dass für den 23. – 25. Juli 1948 ein Kongress für Kassel geplant wurde. Man rechnete mit etwa 15.000 – 20.000 Besuchern. Das war schon von vornerein eine Mammutaufgabe, wenn man bedenkt, dass die Stadt Kassel ja auch fast vollständig zerstört war und dass es Schätzungen gab, dass die Aufräumungsarbeiten doch um die 20 Jahre dauern würden. Man hat den Planern für diesen Kongress die große Karlswiese zur Verfügung gestellt. Das ist eine Wiese in der Karlsaue, relativ zentral gelegen, in der Stadtmitte vor der Orangerie. Und es liegen uns hier auch Fotoaufnahmen, Luftaufnahmen von 1945 vor, wo man gut und gern 60 Bombentrichter allein auf dieser Karlswiese. Und die galt es natürlich in der Phase der Vorbereitung zu beseitigen. Und das geschah auch mit etwa 400 Freiwilligen Helfern über eine Zeitraum von etwa vier Wochen vor dem Kongresstermin. [Das] Problem war natürlich die Beschaffung von adäquatem Werkzeug. Man hat sich beholfen, in dem teilweise selbst gebaut wurde, Einfachste Schubkarren aus Holz, einfachste Loren, mit denen Schutt von den Trümmerhaufen der Stadtmitte herbei gebracht wurde, um dann die Bombentrichter zu füllen und so eine ebene Versammlungsstätte vorzubereiten. Was hinzukam war das Problem, dass das Wetter anfangs überhaupt nicht mitspielte. Es gab fast vier Wochen Dauerregen bis zum Beginn des Kongresses. Also das war wirklich eine harte Arbeit, um dort eine Kongressplatz unter freiem Himmel vorzubereiten. Dann war natürlich auch noch, dass bekannter Maßen die Währungsreform in der Zeit noch nicht durch war. Sie stand praktisch an. Es war noch relativ unsicher und das es natürlich auch noch ein bisschen Probleme mit Materialbeschaffung, Essensbeschaffung, weil alles in den Startlöchern waren und alle auch noch warteten, so dass die Geschäft und die Lager teilweise noch ein bisschen zurückhaltend war.

Wie war mit der Bestuhlung? Gab es Stühle oder wurden Bänke aufgestellt?

Wilfried Siegner:

Sowohl als auch. Es wurden Stühle aufgestellt. Es wurden Bänke besorgt. Die Bestuhlung reichte für die erwarteten Besucher, aber es standen auch viele Besucher. Das haben die Zeitungen dann auch vom letzten Tag berichtet. Viele Besucher standen auch um die Karlsaue um die Karlswiese herum, hörten zu von dort aus, sodass am Ende die Schätzung bis zu 30.00 Besucher lautete. Was natürlich ein, ein wahnsinnig, wahnsinniges Ereignis für die Stadt Kassel war.

Die ganzen Besucher mussten ja auch verpflegt werden. Wie ist man da vorgegangen?

Wilfried Siegner:

Ja, ich hatte das ja vorhin schon angesprochen. Die Währungsreform kam ja dann. Was das Interessante daran war, dass das Konklave zur Währungsreform nur einige wenige Kilometer Luftlinie außerhalb von Kassel in Rothwesten stattfand. Und die D-Mark dann ja eingeführt.

Das brachte dann [eine] etwas bessere Verpflegungssituation. Man konnte Lebensmittel etwas besser einkaufen. Die Geschäfte waren plötzlich wieder etwas besser gefüllt. Es standen auch finanzielle Mittel zur Verfügung. Die Verpflegung lief so, wie sie bei Kongressen der Zeugen Jehovas im Allgemeinen abgelaufen sind in jener Zeit, dass in einer Cafeteria Essen vorbereitet wurde. Einfaches Essen. Von Zeitzeugen wissen wir das es schmackhaft war, das es ausreichend war. Der Zeit damals eben angemessen.

Da mussten ja viele Helfer die Hand anlegen.

Wilfried Siegner:

Ja, wie gesagt, es waren 400 im Vorfeld. Während des Kongresses gab es auch in den verschiedensten Abteilungen freiwillige Helfer. Es gab zum Beispiel eine Erste-Hilfe- oder Lazarettzelt. Es gab Schlafstätten, die bereitgehalten wurden, wo mit einfachsten Strohsäcken Menschen „ein Bett“ (in Anführungszeichen) gefunden haben. Es wurde in der Cafeteria für das leibliche Wohl gesorgt. Wie viel dann am Ende direkt während des Kongresses zugepackt haben, um den Kongress erfolgreich über die Bühne zu bringen, das ist uns jetzt heute nicht mehr bekannt.

Sie haben eben das Schlafen und auch das Unterbringen erwähnt, wir muss man sich das vorstellen? Hat man irgendwelche Schulen angemietet oder irgendwelche Gaststätten, die irgendwelche größere Säle zur Verfügung stellen konnten oder lief das auch noch über private Unterkünfte?

Wilfried Siegner:

Es gab tatsächlich alle Arten von Unterkünften: Privat: Viele Kasseler Bürger waren bereit, eine Schlafstelle bereit zu stellen. Es gab Gemeinschaftsunterkünfte. Beispielsweise, das kennt jeder hier in Kassel noch, das Gildehaus in der Holländischen Straße, ein mehrstöckiges Gebäude, in dem tatsächlich mehrere Hundert der Gäste der Delegierten untergebracht waren. Es wurden Schulsäle zur Verfügung gestellt, soweit sie vorhanden waren. Und natürlich auch die Gemeindemitglieder, die hier in Kasseler und in der Umgebung wohnen, haben ihre Häuser und ihre Türen geöffnet.

Teilweise ging die Peripherie nach Paderborn hin, um dort delegierte Kongressteilnehmer unterzubringen.

Dann musste man ja wieder weit anreisen. Wie sind denn die Besucher angereist? Mit der Bahn oder hat man auch Busse gemietet?

Wilfried Siegner:

Also da gab es auch die unterschiedlichsten Formen der Anreise. Es kamen schätzungsweise nach den Zahlen, die uns jetzt vorliegen, 20 Sonderzüge aus der gesamten Westzone hier nach Kassel in den Hauptbahnhof. Auf dem Hauptbahnhof gab es auch ein großes Banner, mit dem die Delegierten willkommen geheißen wurden. Es kamen einige per Bus. Uns ist bekannt, dass aus Norddeutschland viele mit angemieteten Bussen kamen, mit Fahrrädern, zu Fuß, soweit vorhanden mit Privat-Pkws, aber das war natürlich noch absolut die Ausnahme. Wir haben beispielsweise von einem Zeitzeugen gehört, dass er sich durchgeschlagen hat von Cottbus nach Arenshausen und dann nachts über die damals schon vorhandene Demarkationslinie gebracht wurde von einem Bekannten von dort und dann von Eichenberg aus, dort gab es eine Station des Roten Kreuzes, mit dem Fahrrad nach Kassel gekommen ist. Auch das war ein adäquates Fortbewegungsmittel, um hier her zu kommen.

Ja, dann haben viele Besucher auch sehr große Opfer auf sich genommen, um anwesend zu sein, finanziell, zeitlich und auch in dem man nicht so bequem gereist ist oder geschlafen hatte.

Wilfried Siegner:

Das ist ganz, ganz korrekt. Die Opfer waren sicher auch finanzieller Art. Es gab ja die 40,- DM der neuen Währung, die sicher angelegt wurden,  um diese Reise antreten zu können. Von einigen wissen wir auch, dass sie persönliche Gegenstände verkauft haben, wie beispielsweise Kameras, um etwas zu den Kosten beitragen zu können, um zum Kongress hier nach Kassel zu kommen.

Hatten Sie auch Gelegenheit mit einem Zeitzeugen zu sprechen, der tatsächlich 1948 dabei gewesen ist?

Wilfried Siegner:

Ja, wir haben mit mehreren Zeitzeugen sprechen können. Wir haben auch Film und Fotomaterial von Zeitzeugen, Interviewmaterial. Dieses Material werden wir im Rahmen einer Ausstellung aus Anlass des 70. Jahrestages dieses Kongresses am 4. Juli – das wird die Eröffnungsveranstaltung der Ausstellung sein, die vom 5. – 15. Juli dauert – werden wir dieses Material zeigen, diese Interviews, die einen sehr schönen Einblick zeigen in die Empfindungen, die Menschen damals hatten zu einem solchen Kongress kommen zu können, nur 3 Jahre nach den schrecklichen Ereignissen nach dem 2. Weltkrieges, verbunden mit Verfolgung, mit Demütigung. Es werden aber auch Zeitzeugen an dem Abend zugegen sein, die noch live berichten. Und mit denen haben wir im Vorfeld natürlich schon über ihre Erlebnisse gesprochen. Und das wird mit Sicherheit sehr, sehr spannend sein. Wir können nur jeden einladen am 4. Juli um 17 Uhr in die Documenta-Halle nach Kassel zu kommen und das mitzuerleben.

Das ist ja ein auch ein historischer Ort, denn dort hat ja der Kongress selbst stattgefunden.

Wilfried Siegner:

Orangerie Kassel

Ja, der Charme dieser Ausstellungshalle ist, dass Sie tatsächlich von dort aus Blickkontakt haben zur Orangerie, zur Karlswiese. Es ist also eine direkte Verbindung, ein idealer Veranstaltungsort sozusagen die Geschichte der Zeugen Jehovas und der Geschichte Kassels [miteinander zu verknüpfen]. Es war der erste Kongress nach dem Krieg, der überhaupt stattfand und so ein bisschen auch ein Meilenstein war, um Kassel als Kongressort – wie Kassel heute auch bekannt ist und benutzt wird – wieder ins Rampenlicht zu holen. Das miteinander zu verknüpfen, Geschichte und Gegenwart, dafür ist dieser Ort geradezu ideal geeignet.

Sprecherin:

Vielleicht haben Sie auch gerade den Wunsch einen Zeitzeugen über den Bombenangriff auf Kassel 1943 und dem großen Kongress 1948 zu hören.

Ich habe einmal Nachforschungen angestellt und stieß auf ein Interview mit dem Kasseler Historiker Werner Dettmar. Andreas Berger von der HNA-Online Redaktion hat das Interview  mit ihm geführt und die Genehmigung zur Wiedergabe [nur Radio] erteilt:

Video Interview mit Werner Dettmar

Den 2. Teil dieses Interviews sowie andere Zeitzeugenaussagen zur Bombennacht findet man unter www.hna.de/bombennacht

(Musikakzent)

Sprecherin:

Harry Timmermann aus Bad Wildungen war als 20 Jähriger bei dem ersten großen landesweiten Kongress der Zeugen Jehovas in Kassel anwesend. Er erinnert sich:

Weil die ersten Tage [im] Mai 1945 ja das Ende des Weltkrieges mit sich brachte und nicht nur das, sondern auch die Befreiung unserer Brüder und Schwestern, die inhaftiert waren. Man sah auf einmal Brüder, die aus dem Konzentrationslager kamen. Es ist auch unvergesslich, wie dann sofort die Brüder wieder bereit waren, das Werk zu organisieren. [Es] fand eine Reorganisation statt. Versammlungen wurden wieder aufgebaut. Sie kamen in der Woche auch schon mal zusammen im kleineren Rahmen und das hat sich dann ja vergrößert. 1946 hatten wir schon kleine Kongresse mit über tausend Anwesenden. Aber das Schönste kam ja dann, das war die Nachricht: „Ein Landeskongress sollte stattfinden in Hessen in Kassel.“ Von da an waren unsere Augen auf das große Geschehen gerichtet.

Harry Timmermann wohnte 1948 in Stade in der Nähe von Hamburg. Er und weitere 29 Zeugen Jehovas fuhren per Bus nach Kassel:

Mein Vater hatte die Möglichkeit, weil er beim Kreis tätig war, dass wir einen Bus bekamen. Das war auch nicht so einfach. Der wurde mit 30 Personen nach Kassel gefahren. Es hat auch gut geklappt. Wir da gut angekommen. Ich hatte auch noch nie so große lange Touren mitgemacht. Je näher wir jetzt nach Kassel kamen, war die Spannung sehr groß und wurde immer größer, als man dann die die schönen Berge von Kassel sah und auch das Wahrzeichen von Kassel, nämlich den Herkules. Man muss sagen, dass wir uns gefreut haben, dass wir mit diesem Bus gut angekommen sind.

Auch er bekam die Auswirkungen der Währungsreform zu spüren:

Ja, das war schon ein Problem, weil man ja einmal mit der neuen Währung – man hatte jetzt 40,- Mark in neuer Währung bekommen –alles kaufen konnte. Auf einmal waren die Geschäfte offen und was man lange, lange nicht [kaufen] konnte, da hatte man jetzt die Möglichkeit. Aber für uns war klar, wir wollten den Kongress besuchen und haben das Geld dafür benutzt.

Zeugen Jehovas aus Stade sandten Obst und Gemüse per Express nach Kassel:

Wir sind ja eine ländliche Gegen gewesen, wo es Obst gab usw. und wir haben manches per Express mit der Bahn nach Kassel geschickt. Aber eine Frage war auch: „Wir brauchen Stroh.

Stroh war damals auch eine Mangelware und wurde für den großen Kongress in Kassel dringend benötigt. Auch hier halfen die Glaubensbrüder aus Stade weiter:

Stroh brauchte man für die Massenunterkünfte, deshalb haben wir einen ganzen Waggon voll Stroh nach Kassel schicken können. Damit die Brüder, damit wir alle auch nachts … auf Strohsäcken… wurde dann die Nacht verbracht.

Die Karlswiese musste mühsam bei Dauerregen aufgeräumt werden, damit auch Stühle aufgestellt werden konnten:

Die Wiese sah vorher anders aus. Das musste erst alles hergerichtet werden, denn sie Karlswiese, die war ja voll zerbombt. Über 50 Bombentrichter mussten gefüllt werden. Das war eine Arbeit von etlichen Wochen. 10.000 Kubikmeter Schutt mussten herbeigeführt werden und dann konnte man die Stühle aufbauen. [Da] war die schöne Wiese wieder gerade und Zelte waren dann dort, wo man et]was kaufen konnte, wo die Toiletten waren, die Verpflegung. Und dann war auch noch eine kleine Zeltstadt da. Die wurde aufgebaut für die Brüder, die auch die Verantwortung [trugen] und Vorbereitung machten.

Während der Aufräumarbeiten in der Karlsaue gab es 4 Wochen lang Dauerregen. Doch gab es zum Kongressbeginn einen Wetterwechsel:

Es hatte ja immer gerechnet und jetzt als der Kongress begann, strahlte die Sonne aus dem Himmel herab. [Da] war es trocken und schön. Das war auch etwas, was uns sehr gefreut hat. Das kann man alles nicht so schnell vergessen.

Harry Timmermann war von den Sonderzügen und den anreisenden Gästen beeindruckt:

Das war auch, dass 17 Sonderzüge in Kassel eingetroffen sind, mit Brüdern und Schwestern. Sie kamen aus allen Zonen. Die waren ja in Zonen eingeteilt: Die Bayern, die Norddeutschen. Alle hatten ihre verschiedenen Sprachen: Die Bayern, die Schwaben, die Norddeutschen. Auch die Trachten mit denen manche bekleidet waren. Die waren alle so fröhlich. [Sie] haben gejodelt und sich gefreut. Das war auch ein wunderbares Bild. [Das] war beeindruckend dieses Familienbild, die Einheit und [der] Frieden.

Es gab große Einladungsaktionen für diesen Kongress. Hierzu legte man große Strecken mit dem Bus zurück:

Wir wurden auch ermuntert zum Beispiel nach Paderborn mit dem Bus zu fahren … und dort die Bevölkerung auf dieses Ereignis, auf den Kongress in Kassel aufmerksam zu machen, davon zu berichten, sie einzuladen unbedingt nach Kassel auf die Karlswiese zu kommen.

Es gab auch ein gedrucktes Kongressprogramm. Harry Timmermann erinnert sich an die Redner:

Als ich dieses Programm in meinen Händen hielt und dann die Namen der Brüder gelesen habe, die zu uns sprechen würden, da wusste ich, dass waren alles Brüder, die viele, viele Jahre in Konzentrationslagern oder sonst wo inhaftiert waren. Das war bewegend wie stark sie in ihrem Glauben waren und uns gestärkt haben.

(Musikakzent)

Soweit zu der Bombardierung in Kassel und dem Wiederaufbau der Stadt  und dem historischen Kongress der Zeugen Jehovas 1948 in Kassel in der Karlsaue.

(c) Copyright Ingeborg Lüdtke

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(Die Sendung wurde am 15.06.2018 im StadtRadio Göttingen, am 02.07.2018 im Freien Radio Kassel und am 12.07.2018 bei RundFunkMeissner Eschwege ausgestrahlt.)

TV-Sendung im Offenen Kanal Kassel am 05.07.2018

https://mediathek-hessen.de/index.php?ka=1&ska=medienview&idv=18240

Weiterführende Links:

https://www.kassel48.de/

http://www.archiv-vegelahn.de/index.php/15-jehovas-zeugen/2450-1948-theokratischer-kongress

http://www.archiv-vegelahn.de/index.php/15-jehovas-zeugen/2560-kassel

Weiterführende Literatur:

Werner Dettmar, Die Zerstörung Kassels im Oktober 1943. Eine Dokumentation. Hesse GmbH, Fuldabrück 1983

Jens Flemming/Dietfrid Krause-Vilmar, Kassel in der Moderne. Schüren Verlag GmbH, Marburg 2013, S. 550-561. Sehr lesenswert ist auch in diesem Buch der Beitrag von Jörg Arnold, „Es war einmal eine wunderschöne Stadt“ (S. 562-582).

Musik:

Mary Roos, Stein auf Stein https://www.youtube.com/watch?v=_Uv_TSwJkxs

Fotos:

Strohsäcke: Karlo Vegelahn

Programm und Blick auf die Bühne: Gabriele Oppermann (Nachlass Ruth Walter)

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