Parteibuchbeamte der Weimarer Republik – das Beispiel der „Landeserziehungsanstalt Bevern“

Die Sendung über die Konferenz “Pädagogik in der Gedenk- und Erinnerungsarbeit” in der Zivildienstschule Ith wurde am 17. November 2010 im StadtRadio Göttingen ausgestrahlt.

Zivildienstschule IthDie Konferenz wurde innerhalb der Veranstaltungsreihe “Gedenken und Erinnern in Südniedersachen” von der Kreisvolkshochschule Holzminden mit Unterstützung der KZ-Gedenkstätte Moringen ausgerichtet.

Die Konferenz begann mit dem Referat von Dr. Matthias Seeliger vom Stadtarchiv Holzminden:

Parteibuchbeamte in der Weimarer Republik – das Beispiel „Landeserziehungsanstalt Bevern

Je stärker das Programm einer Partei ideologisch ausgerichtet ist, desto wichtiger ist für einen langfristigen Erfolg seiner Durchsetzung das Gewinnen der heranwachsenden Generation für die Inhalte dieses Programms. Ziel und Art der Erziehung der Kinder und Jugendlichen sind dabei von großer Bedeutung. Die Nationalsozialisten schufen sich während ihrer Herrschaft mit Jungvolk und Hitler-Jugend, Jungmädelbund und Bund Deutscher Mädel Organisationen, die durch flächendeckende Erfassung der betroffenen Jahrgänge einer lückenlosen Indoktrination dienten. Die „Linksparteien“ verfügten während der Weimarer Republik ebenfalls über verschiedene Kinder- und Jugendorganisationen, deren Geschichte für den Bereich des Kreises Holzminden leider noch nicht erforscht ist. Zu nennen sind u. a. die Sozialistische Arbeiter-Jugend und die Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde mit den „Rote Falken“-Guppen. Hinsichtlich der Vorgänge in der Landeserziehungsanstalt Bevern soll aus dem linken Parteienspektrum nachfolgend nur die SPD betrachtet werden, da die Kommunisten in diesem Zusammenhang keine größere Rolle spielten.

Jahrhunderte lang hatte das Bildungswesen in den Händen der Kirchen gelegen oder war zumindest stark durch diese beeinflusst worden. Das änderte sich nach dem Ende des Kaiserreiches 1918 und dem damit verbundenen Zerbrechen des sprichwörtlichen Bündnisses von Thron und Altar. Die Parteien sahen darin, je nach ideologischer Ausrichtung, eine Chance zu neuen, eigenständigen Entwicklungen ihrer Bildungspolitik. Die Kirchen hingegen bemühten sich verzweifelt um ihren Vorstellungen wohlgesinnte Parteien, Verbände usw., mit denen sie zuweilen – aus heutiger Sicht – fragwürdige Allianzen eingingen. Jeder Streit um die „richtige“ Erziehung der Jugend beinhaltete somit automatisch eine kirchenpolitische Auseinandersetzung.

Die sozialdemokratische Presse war voll von antikirchlichen Äußerungen. So freute sich der „Volksfreund“ über 262 Kirchenaustritte während der Jahre 1928 und 1929 in den Ämtern Eschershausen, Holzminden und Stadtoldendorf; für den gesamten Freistaat gab er die Zahl nur für das Jahr 1929 mit 2.828 an. Dass in Grünenplan 68 Kinder vom Religionsunterricht abgemeldet wurden, war ihm ebenfalls eine Meldung wert. Der Verband für Freidenkertum und Feuerbestattung war ebenso im Holzmindener Raum tätig wie der Volksbund für Geistesfreiheit, und es gab einen Kreisausschuss der dissidentischen Fürsorge.

Im Streit um das Schulwesen ist ein wichtiger Grund für die antikirchliche, ja extrem kirchenfeindliche Politik der SPD im Freistaat Braunschweig während der 1920er-Jahre zu sehen. Sie veranlasste Bernd Rother zu der Frage, ob die SPD „mit dieser Haltung und ihrer Personalpolitik 1927-30 selber mit schuld am Aufstieg der Nationalsozialisten in Braunschweig“ war? Diese Personalpolitik – und ebenso jene des politischen Gegners, der NSDAP – soll im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen.

Grundlagen der Erziehung in Bevern

Das Bestehen einer Landeserziehungsanstalt während der Weimarer Republik war Abschluss einer längeren Geschichte der Nutzung des Schlosses in Bevern als „Wilhelmstift“ für die Unterbringung devianter Personen. In den letzten Jahrzehnten des Kaiserreiches war unter Direktor Otto Eißfeldt Grundzug der pädagogischen Bestrebungen in Bevern die Erziehung zur Pünktlichkeit, Ordnung, Zucht und geregelter Arbeit, alles getragen von christlichem Geiste. Die Tatsache, dass diese Zusammenfassung ein Zitat aus dem Jahre 1932 ist, lässt tief blicken – ist sie doch direkt verbunden mit der durch die bürgerliche Zeitung zu diesem Zeitpunkt vertretenen Bewertung von Eißfeldts Arbeit: Hunderte gefährdeter, junger Menschen hat er [dadurch!] auf die rechte Bahn gebracht.

Unter Eißfeldts Nachfolger, Direktor Staats, wurde im Wilhelmstift an der christlichen Grundlage der dortigen Erziehung festgehalten, allerdings richtete sich nunmehr neuzeitlicher Auffassung entsprechend die Aufmerksamkeit mehr auf die Erziehung als auf die bloße Beaufsichtigung der Insassen. Staats war sehr daran interessiert, die Erziehung nach den Forderungen moderner Pädagogik durchzuführen und knüpfte u. a. Kontakte zum Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen unter Professor Dr. Herman Nohl. Nohl kam 1922 mehrfach mit seinen Studentinnen und Studenten nach Bevern, um letzteren die Möglichkeit zu bieten, die Praxis des Anstaltslebens eingehend kennen zu lernen. Dies hätte er sicherlich nicht getan, wäre er nicht von der Qualität der im Wilhelmstift geleisteten Arbeit überzeugt gewesen. Bei aller Fortschrittlichkeit seiner pädagogischen Methodik orientierte sich Nohl hinsichtlich des Ziels der Erziehung allerdings an bürgerlich-konservativem Gedankengut, was auch für Staats galt. Im Gegenzug gab letzterer den jungen Leuten in Göttingen im Rahmen der Seminarveranstaltungen einen Einführungskursus. Eine Folge dieser Verbindung war die Bereitstellung von Praktikumsplätzen in Bevern.

Nicht nur aus pädagogischer Sicht kam es unter Staats Nachfolger zu einschneidenden Veränderungen. Direktor Gotthard Eberlein verließ, so jedenfalls die Kritik seiner Gegner, diese christliche Grundlage der Erziehung: Der letzte Direktor Eberlein brach damit. Bewusst wurde alles, was an das Christentum erinnert, beseitigt. In der Kapelle wurde die Christusstatue entfernt, zu Weihnachten wurde ein Sprechchor aufgeführt, der christlichem Empfinden hohnsprach, so dass ernst denkende Menschen die Feier verließen. Hinsichtlich dieser Vorwürfe ist festzuhalten, dass sich die zugrunde liegenden Ereignisse aus den überlieferten Akten nicht genauer beschreiben lassen. So konnten beispielsweise keine Hinweise auf die Begründung der Entfernung der Christusstatue gefunden werden. Wie allerdings in einem eigenen Abschnitt dieser Arbeit zu zeigen sein wird, vertrat Eberlein, bis 1922 evangelischer Pfarrer, mit Sicherheit nicht die Ansichten der überwältigenden Mehrheit kirchlicher Kreise im Braunschweigischen!

Ein (aber wohl kaum der entscheidende) Grund für die Zurückdrängung christlicher Inhalte bei der Erziehung war für Eberlein die überproportional große Zahl der Dissidenten unter den Zöglingen der Erziehungsanstalt. Am 8. April 1929 waren laut einer Angabe Eberleins 21 der 60 Schulkinder Dissidenten. Damals ging es um die Erteilung von lebenskundlichem Unterricht in der Anstalt, wie er an den Bürgerschulen eingeführt worden war. Fritz Ziegert schlug seitens des Kreisausschusses der dissidentischen Fürsorge dafür den Lehrer Karl Dankert vor, der bereits in Holzminden Lebenskunde unterrichtete. Dankert gehörte zu den Freidenkern und trat über Holzminden hinaus auf deren Veranstaltungen als Redner auf; 1930 war er als Weiheredner für die Jugendweihe in Delligsen im Gespräch. Mit dem Unterricht in Bevern wurde er jedoch nicht betraut, ebenso wenig Eberlein, der angeboten hatte, selbst diesen Unterricht zu übernehmen. Die Entscheidung fiel auf den Lehrer Robert Dargatz, einen Dissidenten, der im Frühjahr 1929 als Hilfslehrer nach Bevern gekommen und dort bis zum 1. Mai 1931 tätig war.

Neben ihm wurden 1931 zwei weitere Lehrer als Dissidenten bezeichnet: Lamby und Specht. Es war wohl kein Zufall, dass sie alle während des Direktorats Gustav Eberleins eingestellt worden waren. Und ebenso war es kein Zufall, dass sie unter seinem Nachfolger wieder entlassen wurden. Zunächst verließ im Frühjahr 1931 der Lehrer Lamby das Wilhelmstift. Seine Frau, die mangels passender Wohnung noch nicht mit ihrem Mann umziehen konnte, bat am 13. April 1931 um die vorübergehende Beschäftigung als Hilfserzieherin in Bevern. Dies wurde jedoch angesichts der ihr unterstellten Geistesrichtung abgelehnt.

Der Lehrer Specht war als SPD-Mitglied ab 1931 ebenfalls nicht mehr gern gesehen, blieb aber zunächst in Bevern. Im Juni 1932 sah er sich denselben Verdächtigungen des neuen Direktors ausgesetzt wie Kurt Groschopp, worüber nachfolgend noch zu berichten sein wird. Seine Entlassung erfolgte allerdings erst zum 31. August 1933 gemäß § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums.

Mit diesen Angaben zur Entlassung der Dissidenten unter den Lehrern ist chronologisch bereits die Zeit von Eberleins Nachfolger, Direktor Milzer, erreicht. Inzwischen hatte auch die politische Herrschaft in Braunschweig gewechselt: dort regierte nach der Landtagswahl am 14. September 1930 eine Koalition aus DNVP und NSDAP. Am 1. Oktober jenes Jahres wurde Dr. Anton Franzen (NSDAP) zum Minister gewählt: als Innen- und Kultusminister war er knapp ein Jahr im Freistaat Braunschweig tätig, bis er, diskreditiert durch die Begünstigung eines Parteigenossen, zurücktrat. Als Minister war er insbesondere bemüht, die Maßnahmen der vorangegangenen SPD-Regierung rückgängig zu machen, gerade im Bereich des Schul- und Erziehungswesens. Wichtige Ämter besetzte er mit NSDAP- und DNVP-Mitgliedern – so auch in Bevern.

Milzer gehörte zur DNVP und war aus Sicht der neuen Machthaber schon deshalb geeignet, sein Amt als Nachfolger eines entlassenen Sozialdemokraten anzutreten. Er tat dies zum 1. April 1931. Wie er selbst später äußerte, hatte er das vorgezeichnete Ziel, wieder Ordnung, Sauberkeit in sittlicher Beziehung und Ruhe in die Anstalt zu bringen. Es sollten das System und die Geistesrichtung […] geändert und in neue Bahnen gelenkt werden. Im Februar 1933 konnte er sich rühmen, sein Ziel unentwegt verfolgt und durchgeführt zu haben. Seinen Erfolg begründete er u. a. mit der Feststellung: Hetzende und Unruhe stiftende Erzieher sind weder unter den Herren noch unter den Damen mehr vorhanden.

Natürlich griff ihn die sozialdemokratische Presse nach seiner Ernennung scharf an. Der Volksfreund schrieb: Herr Milzer ist in politischer Hinsicht schon mannigfach hervorgetreten. Er ist seit Jahren ein führender Mann bei den Deutschnationalen und betätigt sich besonders auf dem Gebiete der Kommunalpolitik. Bei allen fortschrittlich eingestellten Menschen gilt Herr Milzer schon seit Jahren als die Personifizierung engstirnigster Reaktion. Der Landtagsabgeordnete Karl Poth aus Holzminden schimpfte, Milzer sei Parteibuchbeamter – damit hatte er zwar recht, unterschlug allerdings die Tatsache, dass man auch den Vorgänger Eberlein als solchen bezeichnen konnte.

Schon diese knappen Angaben zu den Direktoren des Wilhelmstifts verdeutlichen, wie stark die Ziele der Erziehung sowie die konkrete pädagogische Arbeit von den handelnden Personen und deren weltanschaulicher Einbindung abhängig waren. Welche Aufbruchstimmung und zugleich verworrene Situation in der Weimarer Republik herrschte, ist bereits aus der Tatsache abzuleiten, dass Eißfeldt 35 Jahre Direktor in Bevern war, während in der relativ kurzen Zeit von 1919 bis zur Schließung der Anstalt im Herbst 1933 drei Männer – je nach herrschender politischer Konstellation – diesen Posten innehatten.

Angesichts dieser Feststellung lohnt es sich zweifellos, nachfolgend intensiver den Blick auf einige der damals in der Landeserziehungsanstalt tätigen Personen zu richten.

Direktor Gotthard Eberlein

Nicht nur angesichts seiner exponierten Stellung als Direktor ist Gotthard Eberlein an erster Stelle zu betrachten. Mit seiner Person ist auch besonders deutlich zu zeigen, wie sowohl die Anstellung als auch die Entlassung unter politischen Vorzeichen geschahen – zumal es sich bei der Leitung des Wilhelmstifts nicht um seine erste Tätigkeit im Freistaat Braunschweig handelte: Bereits von 1923 bis 1926 war er Wirtschaftsinspektor und leitender Erzieher des Schülerheims der staatlichen Realschule in Seesen. Anfang und Ende dieser Tätigkeit waren ebenso wie die Vorgeschichte so kennzeichnend, dass zunächst darüber berichtet werden muss. Schon der Weg, auf dem sich Eberlein ohne eigenes Wissen in Braunschweig bekannt machte, war aufschlussreich. Der braunschweigische Landesschulrat Dr. Ernst Stoelzel, Vorsitzender des Landesschulamtes für das höhere Schulwesen, war laut eigener Angabe auf ihn durch einen „Vorwärts“-Artikel aufmerksam gemacht worden. Wie kam es, dass über Eberlein in der Presse berichtet wurde? Durch einen Skandal!

Der am 8. Oktober 1885 in Royn, Kreis Liegnitz, geborene Sohn eines Superintendenten hatte in Breslau und Halle Theologie, Philosophie und Volkswirtschaft studiert. Nach dem Studium war er von 1910 bis 1922 evangelischer Pfarrer an der St. Gertrudkirche in Stettin. In dieser Arbeitergemeinde wendeten sich Eberlein und sein Kollege Otto Buchholz besonders der Jugendarbeit zu und gelangten zu einer aus ihrer Sicht verständlichen und notwendigen, bewussten, positiven Stellung zum Proletariat, verbunden mit der aktiven Beteiligung an der sozialdemokratischen Partei und der Arbeiterbewegung. Bereits 1912 wurde ein Verein „Freunde der Jugendpflege […]“ gegründet, der ab 1917 eine Ortsgruppe der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost bildete. Der Vorsitzende dieser Ortsgruppe urteilte 1923: Eberlein war bemüht, der Jugend seiner Gemeinde ein Wegweiser zu selbständigem Menschentum zu sein. Die folgende Angabe von Otto Buchholz aus dem Jahr 1923 dürfte sich vor allem auf die Zeit ab 1919 beziehen: So gelang es uns z. B. bei der Neuwahl der kirchlichen Gemeindekörperschaften eine sozialistische Mehrheit zustande zu bringen. Wir verweigerten ferner als einzige Gemeinde Pommerns aus religiösen Gründen das Glockenläuten bei der Beerdigung der ehemaligen Kaiserin. Auch sprachen Eberlein und ich auf Einladung des öfteren in sozialistischen Volksversammlungen.

Zugleich beschäftigte Eberlein sich ausgiebig […] mit den modernen pädagogischen Fragen, war auch Mitglied im Bund der Entschiedenen Schulreformer. Studienrat Dr. Tacke in Stettin bezeichnete ihn Anfang 1923 als einen der Männer, die den Mut bereits 1919 fanden, eine entschiedene Umstellung zu allen Schulfragen zu fordern. Eine andere Beurteilung aus jenen Tagen lautete: An seiner Auffassung der Jugendpflege hätte ich nur auszusetzen, dass er sie, seiner gutherzigen fröhlichen Natur entsprechend, zu sehr als eine Art von Erholung für die Jugendlichen aufzieht und vielleicht zu wenig berücksichtigt, dass man diese nicht nur angenehm, sondern in erster Linie nützlich und zwar so beschäftigen soll, dass sie für das tägliche Leben brauchbare Fähigkeiten erwerben.

Sowohl innerhalb der Gemeinde als auch beim vorgesetzten Ev. Konsistorium der Provinz Pommern wurde diese Entwicklung sehr misstrauisch beobachtet. Gerüchte über Beziehungen Eberleins zu einem jungen Mädchen, das dem von ihm geleiteten Jugendklub angehörte, wurden daher offenbar bereitwillig aufgegriffen und sollten zu einem Ermittlungsverfahren führen. Dem Pastor, der sich längst innerlich von seinem Amt distanzierte, reichte es nun: er verzichtete auf die Rechte des geistlichen Standes und legte am 28. Juli 1922 sein Amt nieder. Zum 1. April 1923 tat dies ebenfalls sein Kollege Otto Buchholz, dem inzwischen ein Verhältnis mit der Frau Eberleins nachgesagt wurde. Gemeinsam rechtfertigten beide sich in einer Druckschrift mit dem Titel Wir Ausgestoßenen. Der Abschied zweier sozialistischer Pfarrer von der Kirche.

Wenn der Landesschulrat 1923 diesen Mann in den Freistaat Braunschweig holte, war dies zweifellos auch eine politische Entscheidung. Kritik ließ nicht lange auf sich warten – sie kam ebenso vom Landeskirchenamt in Wolfenbüttel wie auch von der Elternvereinigung der Jacobsonschule in Seesen: Eberlein wurden recht eigenartige Äußerungen im Religionsunterricht nachgesagt; Landesbischof Bernewitz fragte den Volksbildungsminister süffisant, ob er es wünsche, die Jugend des Landes zum Kommunismus erzogen zu sehen? Der Landesschulrat stellte sich vor Eberlein; politisch rechnete er ihn zur USPD. In der Folgezeit war es allerdings Eberlein selbst, der tatsächlich Anlass zur Kritik bot, und zwar hinsichtlich der Erledigung seiner dienstlichen Angelegenheiten. Zum 1. April 1925 wurde ihm daher die Leitung des Alumnats entzogen – er wurde dem Direktor der Schule unterstellt. Zum 1. Oktober 1926 wurde ihm im Rahmen allgemeiner Sparmaßnahmen gekündigt, und er übernahm die Leitung eines privaten Schülerheims in Schwedt/Oder.

Ein zweites Mal bewarb sich Gustav Eberlein um eine Stelle im braunschweigischen Staatsdienst, als er vom Freiwerden der Direktorenstelle im Wilhelmstift hörte. Am 1. November 1928 begann seine Tätigkeit in Bevern. Schon bald stieß er dort auf Gegnerschaft, die zwar in vielen Fällen politisch motiviert, aber auch inhaltlicher Art bezüglich der pädagogischen Richtung sein konnte – sogar der dissidentische Lehrer Dargatz musste schon Anfang 1930 bezüglich des Verhältnisses zwischen Kollegium und Direktor zugeben: Wir waren uns nur oftmals sachlich nicht einig, was unser Zusammenarbeiten dann störte. Wie sollten die Erzieherinnen und Erzieher auch mit Äußerungen ihres Vorgesetzten umgehen, wenn dieser z. B. auf einer Tagung der Freien Lehrergewerkschaft zum Thema Kinderfehler und soziales Milieu in Braunlage am 4. Januar 1930 in einem Vortrag über Verwahrlosung und Gesellschaft feststellte: Asozial sind junge Menschen infolge ihrer besonderen Jugenderlebnisse im elenden sozialen Milieu. Gerade die „Verwahrlosten“ sind die schlechtesten Elemente nicht. Unbewusst lebt in jedem der Instinkt des Empörers, der, richtig geleitet, in die Reihe der Klassenkämpfer führen könnte. Und zum Thema „Verwahrlosung“ führte er weiterhin aus: Leider werden noch vielfach dafür moralische Wertmaßstäbe herangezogen. Lebensfremde Menschen urteilen nach einer Moral, die im wirklichen Leben kaum vorkommt. Das Milieu, aus dem Erzieher und Leiter privater kirchlicher Anstalten stammen, ist das kleinbürgerliche Milieu.

Für die bürgerliche Kritik waren solche Vorstellungen untrennbar verbunden mit Eberleins politischer Einstellung: sie sah in ihm den neuen sozialdemokratischen Direktor. Dazu passte, dass er öffentlich in Bevern auf einer Versammlung der SPD gegen den Nationalsozialismus agitierte. Wenn er wenige Monate nach Eintritt der Nationalsozialisten in die Regierung in den Ruhestand versetzt und diese Maßnahme in einem Dienststrafverfahren sogar später in eine Dienstentlassung umgewandelt wurde, könnte man in ihm ein frühes Opfer der Verfolgung Andersdenkender vermuten. Dazu passt allerdings nicht die Tatsache, dass das Dienststrafverfahren bereits Anfang August 1930 unter dem 1940 im KZ Mauthausen umgekommenen Innenminister Gustav Steinbrecher (SPD) eröffnet worden war. Vielmehr war es erneut die, wie Hans-Windekilde Jannasch es ausdrückte, unheilvolle Schwäche dem weiblichen Geschlecht gegenüber, die ihn in Schwierigkeiten brachte. Im konkreten Fall waren es die Anschuldigungen einer nur dreieinhalb Monate im Wilhelmstift tätigen Stenotypistin, die Eberlein belasteten. Und als sich in der Untersuchung viele der angeblichen Enthüllungen über die Zustände in der Landeserziehungsanstalt als erheblich übertrieben herausstellten, blieb schließlich von allen Beschuldigungen nur das eigenartige Benehmen des Angeklagten seiner Sekretärin gegenüber bestehen. Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass die Angestellte wegen Streitigkeiten um die Höhe ihres Lohns zum 1. August 1930 kündigte, dieserhalb auch Klage beim Arbeitsgericht einreichte und dann am 4. August nach Braunschweig fuhr, um dort bei der Regierung ihre Beschwerden über Eberlein vorzubringen.

Wenn seinerzeit schon die Berechtigung einzelner Vorwürfe nicht einwandfrei geklärt werden konnte, vermag es der Historiker heute erst recht nicht. Der Anteil politischer Animosität an der Dienstentlassung Eberleins ist also nicht mehr festzulegen. Eindeutig politisch motiviert waren jedoch die anschließenden Versuche, ihm auch außerhalb Beverns das Leben so schwer wie möglich zu machen. Als er in Berlin sein Geld mit einer Buchhandlung und Leihbücherei zu verdienen suchte, geriet er dort in das Visier von Reichsschrifttumskammer und Kreisleitung. Nachfolgend sei aus einem in diesem Zusammenhang entstandenen Schreiben des Ortsgruppenleiters Meyer in Bevern vom 9. August 1934 zitiert: Es freut mich ganz besonders von diesem Marxistenhäuptling einmal etwas wieder zu hören. Eberlein ist ein Mensch der weit über die Grenzen des Braunschweiger Landes bekannt ist, einmal als großer Marxist und zweitens als ein Mensch, welcher heute nicht mehr in die menschliche Gesellschaft hineingehört. […] Jedenfalls nenne ich Eberlein von mir aus als ein ausgesprochenes verkommenes Subjekt. Ich würde es sehr begrüßen, diesen[!] großen Gegner der NSDAP endlich von dort aus das Handwerk zu legen. Offenbar gelang es Eberlein jedoch, einigermaßen unbehelligt die Jahre bis 1945 zu überstehen – anschließend begann für ihn eine zweite Karriere in der Ostzone, die er 1959 mit der Übersiedlung in die BRD beendete.

Bruno Friedrich

Wurde mit Gotthard Eberlein ein exponierter Vertreter des linken Lagers betrachtet, ist nunmehr das Augenmerk auf Bruno Friedrich, einen der führenden Nationalsozialisten in Bevern zu Beginn der 1930er-Jahre, zu richten. Er kam unter Eberleins Nachfolger Milzer nach Bevern: sein Dienstantritt im Wilhelmstift datiert auf den 21. September 1931. Dass hierbei weniger pädagogischen Fähigkeiten als seine politische Überzeugung eine Rolle spielten, wurde schnell deutlich. Schon drei Wochen später griff die sozialdemokratische Presse in Braunschweig diese Personalsache auf und teilte den Lesern – nicht zu Unrecht – mit, Friedrich sei strammer Nationalsozialist.

Der am 15. Februar 1896 in Derschlag (Gummersbach) geborene Bruno Friedrich war ein fanatischer Nationalsozialist der ersten Stunde, einer der wirklich „alten“ Kämpfer: Mitgliedsnummer 13.210, Ortsgruppe München. Im Juli 1923 war er zum Deutschen Turnfest nach München gereist, wo u. a. Hitler eine Rede vor Turnern hielt – begeistert schloss er sich dessen Forderungen an und versuchte anschließend im Oberbergischen Land, gleich gesinnte Volksgenossen organisatorisch zu erfassen. Am 1. März 1924 leitete er eine nationalsozialistische Versammlung in Gummersbach, was ihm wegen der dort durch den Redner vorgebrachten Beleidigungen des Reichspräsidenten Ebert ein gerichtliches Verfahren einbrachte. In verschiedenen Orten als Lehrer tätig, scharte er eine Reihe von Gesinnungsgenossen um sich, die teilweise eingetragene Mitglieder der Ortsgruppe München waren. Über die Liste des Völkischsozialen Blocks wurde er 1924 Stadtverordneter in Gummersbach.

Nachdem er am 7. März 1929 in Ehrentalsmühle, seinem damaligen Dienstort, eine Schulfeier in den Dienst nationalsozialistischer Parteiwerbung gestellt und am 28. Juni 1929 in Opsen in öffentlicher Versammlung die deutsche Republik und ihre Leiter geschmäht hatte, wurde er vom Amte suspendiert. Ungeachtet dieser Tatsache trat er weiterhin als nationalsozialistischer Agitator auf, so am 25. November 1930 in Oberkassel und Ende Januar 1931 gleich zweimal in Honnef. Seine endgültige Entlassung aus dem preußischen Schuldienst erfolgte (nach weiteren Vorfällen) Anfang 1931. Die aus seiner Sicht wegen meiner Betätigung in der NSDAP erfolgte Entlassung bildete im nationalsozialistisch regierten Braunschweig gewissermaßen eine Empfehlung, und ein halbes Jahr später gelangte Friedrich – zunächst als Hilfslehrer, ab 15. Dezember 1932 als Lehrer – in den braunschweigischen Schuldienst.

Kurz darauf konnte die sozialdemokratische Presse bereits berichten: Kaum war er drei Tage in Bevern, da hatte er nichts Eiligeres zu tun, als dort eine nationalsozialistische Versammlung zu inszenieren. Als am Sonntag in Bevern eine öffentliche sozialdemokratische Versammlung stattfand, trat Herr Friedrichs[!] als Diskussionsredner für die Nazis auf. Angeblich rühmte er sich damals, schon in etwa 1000 Hakenkreuzversammlungen als Redner für Adolf Hitler aufgetreten zu sein.

Friedrich wirkte, wie sich den Quellen deutlich entnehmen lässt, tatsächlich keineswegs nur als Pädagoge im Wilhelmstift, sondern betätigte sich in dieser von den Nationalsozialisten später so bezeichneten „Kampfzeit“ vor allem agitatorisch. So sprach er bereits am 2. Oktober 1931 auf einer Versammlung in Halle, wo an diesem Tage die örtliche SA gegründet wurde. Ebenfalls für den Oktober 1931 sind Auftritte als Redner während nationalsozialistischer Versammlungen in Bevern, Eschershausen, Merxhausen, Stadtoldendorf und Warbsen belegt. Aus seiner Rede in Stadtoldendorf hob die Presse die Äußerungen zur Rassenfrage und sein Verdikt, dass eine Rassenmischung ein Verbrechen sei, besonders hervor. Über weitere 14 Auftritte in den nächsten Monaten bis zur Reichspräsidentenwahl am 13. März 1932 liegen Zeitungsberichte vor. Ende 1932 findet er sich im Gauredner-Verzeichnis des Gaues Südhannover-Braunschweig verzeichnet, was als Bestätigung ebenso seiner rhetorischen Fähigkeiten wie seines eifrigen Einsatzes für die Partei zu werten ist. Im April 1932 wurde er als Redner im Wahlkampf um Preußen eingesetzt. Sogar als Kandidat für die Reichstagswahl am 6. November 1932 stellte er sich der Partei zur Verfügung.

Direktor Milzer beurteilte Friedrich ein knappes Vierteljahr nach Dienstantritt u. a. so: Auftreten forsch, seinem rheinischen Naturell entsprechend. […] Scheint Kampfnatur zu sein und scheut Zusammenstöße nicht. […] Sein Auftreten in Versammlungen findet nur bei denen Missfallen, die früher hier die Macht in der Hand hatten. Eine ganz natürliche Erscheinung. Seitens der SPD in Bevern wurden ihm Aussprüche wie dieser nachgesagt: Wenn Adolf Hitler Reichspräsident ist, gehören die ersten 24 Stunden der SA, dann wird auch der Artikelschreiber aus dem Grünen Wege aus dem Hause geholt.

1932 wurde Friedrich wegen öffentlicher Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er den Landtagsabgeordneten und Kreisvorsitzenden der SPD Poth als Parlamentswanze bezeichnet und von seinem Wasserkopf und seiner weichen Birne gesprochen hatte. Auf diesen Prozess soll hier nicht näher eingegangen werden; erwähnt sei aber, dass Friedrich seine Strafe nie bezahlte, sondern Berufung einlegte und das Verfahren dann nach Erlass des Amnestiegesetzes eingestellt wurde, da – wie es im Beschluss hieß – die Tat vorwiegend aus politischen Beweggründen […] begangen ist.

Das freiwillige Ausscheiden Friedrichs aus dem braunschweigischen Staatsdienst zum 16. Juni 1933 beruhte auf einem Karrieresprung: er war zum Leiter der neuen preußischen Landesführerschule I in Königswinter ernannt worden. „Zu verdanken hatte er seine Position sicherlich Robert Ley, den er seit Mitte der 1920er Jahre kannte.“ Die Schule war in den folgenden Jahren „ein ständiger Herd von Provokationen und Angriffen gegen die katholische Bevölkerung“ in Königswinter: Mit mancherlei Aktionen brachte Friedrich seine antikirchliche Haltung zum Ausdruck. Im Februar 1935 kam es deshalb sogar zum „Einspruch des Kölner Generalvikariats beim Oberpräsidenten der Rheinprovinz in Koblenz gegen die Tätigkeit des Pg. Friedrichs[!], des Leiters der Landesführerschule in Königswinter“ – er blieb unbeantwortet.

Heinz Wiegand

Neben Friedrich war es der Erziehungsinspektor Heinz Wiegand, der den Nationalsozialismus im Wilhelmstift, in Bevern und im Kreis Holzminden förderte. Er kam etwa zeitgleich mit Direktor Milzer nach Bevern und dürfte ebenso wie er seine Stellung seinem Parteibuch verdankt haben. Ebenso wie Friedrich war er propagandistisch im Kreisgebiet sowie in benachbarten Orten tätig: erstmals findet sich sein Name anlässlich einer Veranstaltung am 2. Oktober 1931 in Dielmissen erwähnt. Bis Anfang 1933 trat er als Redner u. a. auf in Bevern, Holzminden, Meinbrexen, Mühlenberg, Stahle (Kreis Höxter) und Wenzen (Kreis Gandersheim). 1932 war er Ortsgruppenleiter in Bevern. Gemeinsam mit Lehrer Bosse versuchte er, junge Leute zur SA anzuwerben. Landtagsabgeordneter Poth kritisierte 1932, Wiegand sei mehr auf dem Parteibüro als in Bevern.

Über seine Aufgabe urteilte die Oberweser Volkszeitung: Nun weiß man allerdings auch im Ort, dass Wiegand nicht etwa zur Erfüllung seiner dienstlichen Verpflichtungen von dem früheren Naziminister Franzen nach Bevern geschickt wurde, sondern dass er den Parteiauftrag erhalten haben soll, die marxistisch verdächtigen Angestellten am Wilhelmstift zu bespitzeln und brotlos zu machen. Und wenige Tage später war in der Zeitung zu lesen: Wiegand und Friedrich, die nach hier gekommen sind, um die „Roten“ auszurotten, haben in der Praxis gezeigt, wie die „Musterwirtschaft“ des 3. Reiches aussehen wird. Die Väter von 11 Kindern sind bis jetzt brotlos gemacht, ohne die vielen Ledigen zu nennen. Gerade der letzte Abbau des Genossen Hiekel hat bis weit in die bürgerlichen Kreise die hellste Empörung hervorgerufen. Natürlich ist auch diese Angabe Propaganda, und die Zahlenangaben wurden für den vorliegenden Beitrag nicht überprüft. Wie diese „Praxis“ der Nationalsozialisten jedoch aussah, sei nun am Beispiel zweier Mitarbeiter des Wilhelmstiftes gezeigt.

Kurt Groschopp

Für den am 19. Januar 1902 in Chemnitz geborenen Wohlfahrtspfleger Kurt Groschopp lässt sich deutlich den Akten entnehmen, dass sowohl seine Anstellung in Bevern als auch die spätere Entlassung vorrangig von seiner politischen Einstellung abhingen. Zum 1. November 1929 kam er als (Hilfs-)Erzieher in die Landeserziehungsanstalt, also während des Direktorats Gotthard Eberleins.

Betrachtet man die von Groschopp zu den Akten gegebenen Unterlagen, scheint für Eberleins Entscheidung vor allem die Beantwortung einer von ihm gestellten Frage ausschlaggebend gewesen zu sein: Haben Sie mit der Proletarierjugend irgendwelche Fühlung? Groschopp verwies auf seine Herkunft aus dem Proletariat, wenngleich er zugeben musste, in seiner Familie keine milieuechte Erziehung genossen zu haben – vielmehr hatte er sich zunächst der Wandervogelbewegung angeschlossen. Seine Berufswahl begründete er dann aber mit der Hilfeleistung der Proletarierjugend gegenüber. Laut eigener Angabe führte er in der dienstfreien Zeit […] eine große Anzahl Arbeitsgemeinschaften in den Ostthüringer Gruppen der Soz. Arbeiter-Jugend durch. Zu deren Erfolg äußerte er sich Eberlein gegenüber: Das immer dringendere Anfordern um die Abhaltung der Abende bestätigte mir die Beliebtheit derselben. Im Sommer 1929 hatte er am vierwöchigen Zeltlager der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde in Probstzella teilgenommen und hob dazu besonders hervor: Als Vorsitzender des Lagerparlamentes hatte ich wiederum reichlich Gelegenheit, die Gedankenwelt der Proletarierjugend in einer eigenen, selbstverantwortlichen Umwelt kennen zu lernen.

Im Dezember jenes Jahres, also nach seiner bereits erfolgten Anstellung, ließ er sich dazu noch besondere Bestätigungen ausstellen. So bescheinigte ihm die örtliche Organisation der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde in Ronneburg, dass er mit einer Gruppe der Ronneburger „Rote Falken“ an dem Zeltlager in Probstzella teilgenommen hat und dabei seine Funktionen zu unserer vollsten Zufriedenheit erfüllte. Mit einem weiteren Schreiben aus Ronneburg konnte Groschopp belegen, dort von Januar bis März 1929 den Vorbereitungsunterricht der Jugendweihlinge unseres Agitationsbezirkes gegen Bezahlung zu unserer vollsten Zufriedenheit durchgeführt zu haben.

Dass dieser Mann ins Visier der Nationalsozialisten geriet, verwundert nicht. 1931/1932 erfolgten offenbar mehr oder weniger kontinuierlich Sticheleien seines Kollegen Wiegand gegen ihn, von denen beispielsweise folgende Meldung zu den Akten genommen wurde: Der Hilfserzieher Groschopp kam heute morgen mit seiner Abteilung fünf Minuten zu spät zum Antreten. Bevern, den 8. Januar 1932. Wiegand. Füllten allmählich solche Lappalien die Akte, ohne dass sie zu schwerwiegenden Konsequenzen führten, fand sich im Frühjahr 1932 Anlass zu einer weiteren Denunziation, die nun den Dienstweg bis zum Minister für Inneres und Volksbildung, Dietrich Klagges, nahm: Bevern, den 8. April 1932. An den Herrn Direktor der Landeserziehungsanstalt Wilhelmstift Bevern. Als vor einiger Zeit die Vertretung des beurlaubten Praktikanten Krauß erörtert wurde, wandte sich der Hilfserzieher Groschopp heftig dagegen, dass diese Vertretung durch Mehrleistung des anderen Personals erledigt würde. Er gebrauchte dabei die Äußerung: „Ich habe keine Lust, für Klagges Gnaden mehr Dienst zu schieben, um mir die Nerven kaputt zu machen.“ Wir erblicken in dieser Äußerung einen Versuch, unseren vorgesetzten Herrn Minister herabzusetzen und bringen sie deshalb zur Meldung. P. Timmermann Koß Schmidt Wegener.

Klagges äußerte sich am 10. Mai selbst dem Wilhelmstift gegenüber: Es ist zu meiner Kenntnis gekommen, dass der dortige Hilfserzieher Groschopp über mich unangemessene Äußerungen getan haben soll. Dessen Tage in Bevern waren nun offenbar gezählt. Das Fass zum Überlaufen brachte wenig später ein Leserbrief in der sozialdemokratischen Oberweser Volkszeitung über skandalöse Zustände in der Fürsorgeanstalt Bevern, unterzeichnet von der örtlichen SPD. Am 9. Juni 1932 wurde Groschopp von Direktor Milzer dienstlich befragt, ob ihm dieser Artikel vor Drucklegung bekannt gewesen sei und ob er ihn billige? Milzer tat dies, weil er Groschopp als Mitglied der SPD in Bevern für mitverantwortlich hielt, wobei er den Vorwurf äußerte, der Artikel enthalte grobe Entstellungen und Unwahrheiten.

Groschopp verneinte die Fragen Milzers – ob dies der Wahrheit entsprach, ist der Akte natürlich nicht zu entnehmen. Aber seine Zeit in Bevern war endgültig abgelaufen. Am 28. Juni 1932 wurde der Landeserziehungsanstalt mitgeteilt: G. ist nach Weisung des Herrn Ministers Klagges zu kündigen zum nächst zulässigen Termin. Das war der 30. September 1932. Ab dem 16. August wurde Groschopp bereits beurlaubt und durfte insofern nicht mehr seiner Arbeit nachgehen. Auch diese Beurlaubung war (telefonisch) mit Klagges persönlich geklärt worden. Hinzuweisen ist darauf, dass Groschopp mit seiner Familie, da er zunächst keine Ersatzwohnung finden konnte, noch bis zum 1. April 1933 in seiner Dienstwohnung bleiben durfte.
Johannes Hiekel

Wesentlich länger als Groschopp war der am 12. Oktober 1901 in Dresden geborene Büroangestellte Johannes Hiekel im Wilhelmstift tätig: neuneinhalb Jahre. Seit dem 1. Oktober 1923 in Bevern angestellt, erhielt er im Sommer des folgenden Jahres bereits eine sehr positive Beurteilung durch die Direktion: Ihm wurde bescheinigt, dass er sich sehr gut in den vielseitigen Büro- und Kassendienst des Wilhelmstiftes hineingearbeitet hat und seinen verantwortungsvollen Dienst mit großem Eifer und unbedingter Zuverlässigkeit versieht. Sogar das angesichts seiner Entlassung Ende 1932 von Direktor Milzer ausgestellte Zeugnis war ebenso positiv: Hiekel liegt die Aktenführung der Anstalt ob, der er sich mit besonderem Geschick unterzogen hat. Seinen Dienst versieht er pünktlich und gewissenhaft. […] Über seine dienstliche Führung ist nichts Nachteiliges zu sagen.

Neben seiner Verwaltungstätigkeit spielte Johannes Hiekel aber noch eine andere Rolle im Leben der Anstalt sowie darüber hinaus: er engagierte sich stark im musischen Bereich. 1927 gab er an, bereits seit mehreren Jahren Mitglied im Deutschen Arbeiter-Sängerbund zu sein und nebenberuflich als Chordirigent zu wirken. Letztere Angabe bezog sich – außerhalb des Wilhelmstifts – auf den Arbeitergesangverein Brunonia in Bevern. Welche Ausbildung ihn dazu befähigte, ist seiner Personalakte nicht zu entnehmen. Belegt ist jedoch seine aktive Weiterbildung: so erhielt er vom Wilhelmstift Sonderurlaub vom 10. bis 19. Oktober 1927, um an einem Kursus an der Staatlichen Hochschule für Musik in Berlin-Charlottenburg teilnehmen zu können.

In der Jugendarbeit der SPD setzte er ebenso seine musikalischen Fähigkeiten ein. Von seinem Arbeitgeber kritisch beobachtet, führte er im Auftrag der Unterbezirksleitung am 5. und 6. März 1932 in Bevern eine Arbeitstagung der Arbeiter-Jugend und Kinderfreunde durch, an der etwa 50 Jungen und Mädchen teilnahmen. Das Thema des Kurses lautete: Volkslied und Volkstanz. Es wurden ebenso Frühlingslieder (Kanons sowie ein- und mehrstimmige Gesänge) eingeübt wie verschiedene Volkstänze. Damit unterschied sich der Inhalt der Veranstaltung offenbar kaum von dem einer vergleichbaren Singwoche der bürgerlichen Jugendmusikbewegung!

Gleiches gilt für Hiekels Aktivitäten an seinem Arbeitsplatz. Auch hierzu ist es die sozialdemokratische Tageszeitung, die uns die Informationen überliefert, nicht die von politischen Streitigkeiten zeugende Personalakte! Im Bericht über die Weihnachtsfeier 1931 im Wilhelmstift wurden die im Spiel erklingenden alten volkstümlichen Melodien der kleinen Sänger und des Hausorchesters […] unter Hans Hiekels Leitung erwähnt. Als Hiekels anstehende Entlassung bekannt wurde, urteilte die Zeitung mit Bezug auf die jugendlichen Zöglinge in Bevern: Sie haben es ihm nicht vergessen, dass er es war, der in hohem Maße mithalf, das Einerlei des Anstaltslebens farbig zu mischen. Viele Feierstunden, manches Konzert und manche Bühnenaufführung verdanken sie ihm, und gern gedenken sie der Stunden, in denen ihnen ein Hiekel Freude im Chorsingen bereitete. (Ob wirklich jeder der Jugendlichen Freude am Chorsingen hatte, sei hier nicht näher untersucht.)

Wenn für diesen Mann im Oktober 1932 wiederum Innenminister Klagges persönlich die fristgerechte Kündigung sowie die möglichst sofortige Beurlaubung anordnete, konnten dafür nicht dienstliche Verfehlungen die Ursache sein. Es gab auch tatsächlich nur einen Grund: Hiekel war Sozialdemokrat!

Wieder war es der bereits in Zusammenhang mit der Entlassung Kurt Groschopps genannte Mitarbeiter Paul Timmermann aus Hellental, der gezielt mit einer Denunziation den Stein ins Rollen brachte. Am 26. Juli 1932 konnte er, natürlich auf dem vorgeschriebenen Dienstweg (An den Herrn Braunschweigischen Minister des Innern durch den Herrn Direktor der Landeserziehungsanstalt „Wilhelmstift“), Minister Klagges mitteilen: In der vergangenen Woche brachte der Tägliche Anzeiger eine Mitteilung über das vom Herrn Braunschweigischen Minister des Innern ausgesprochene Verbot des „Volksfreundes“ und seiner Kopfblätter. Als ich die Zeitung las, kam der Büroangestellte Hiekel hinzu. Wir kamen ins Gespräch. Er erklärte wörtlich: „Das ist eine Gemeinheit!“ Der Büroangestellte Hiekel hat damit eine Amtshandlung des uns vorgesetzten Ministers in herabsetzender Weise kritisiert. Er hat eine beleidigende Äußerung gegenüber dem Herrn Braunschweigischen Minister des Innern getan. Ich halte mich dienstlich für verpflichtet, diesen Vorfall zur Meldung zu bringen. Paul Timmermann. – Von der Tatsache der Denunziation ganz abgesehen: es ist auch die in den Formulierungen enthaltene Speichelleckerei, die diese Meldung für den heutigen Leser so abstoßend macht.

Vom Direktor zu diesem Vorkommnis befragt, versuchte Hiekel abzuwiegeln. Er zweifelte an, überhaupt den zitierten Ausdruck gebraucht zu haben. Die weiteren Ausführungen zeigten wenig Solidarität mit seinen Parteigenossen: Jedenfalls bezog sich meine abfällige Äußerung nicht etwa auf die Amtshandlung des Ministers, sondern auf die Torheit der Volkszeitung, die ja ein Verbot herausfordern musste. […] Übrigens habe ich meine Meinung, dass das Verhalten der Oberweser Volkszeitung eine Torheit war, auch in Parteikreisen der SPD vertreten und stehe noch heute auf demselben Standpunkte.

In den folgenden Wochen wurde ohne Ergebnis versucht, den Wahrheitsgehalt der unterschiedlichen Aussagen zu prüfen. Hiekel und Timmermann blieben bei ihrer jeweiligen Version. Mit Timmermann sprach Innenminister Klagges sogar persönlich, als er am 14. Oktober 1932 in Bevern weilte, und ließ sich von ihm noch einmal dessen Version bestätigen. Inzwischen war ein weiterer gegen Hiekel gerichteter Vorwurf aktenkundig geworden: Der Landwirt Friedrich Höltje aus Bevern beschuldigte ihn in einem Brief an Klagges vom 19. September 1932, gemeinsam mit einem weiteren SPD-Mitglied, Heinrich Raulfs, Urheber der Berichte über das Wilhelmstift in der Oberweser Volkszeitung zu sein. Hiekel bestritt in seiner Vernehmung am 7. Oktober sowohl, Material über die Anstalt an die Oberweser Volkszeitung geliefert, als auch gemeinschaftlich mit Raulfs unwahre und tendenziöse Artikel über die Anstalt verfasst zu haben. Vergeblich: am 21. Oktober 1932 verfügte Klagges die Kündigung, und auf Nachfrage teilte Direktor Milzer Hiekel mit, dass leletzterer den Grund seiner Kündigung in einer ungehörigen Äußerung über den Herrn Braunschweigischen Minister des Innern zu suchen habe.

Allerdings erfolgte offenbar nicht die von Klagges angeregte sofortige Beurlaubung, weshalb Hiekel auch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Deutschen Reich noch bis zum 31. März 1933 in der Landeserziehungsanstalt Bevern tätig war. Während seiner letzten Arbeitstage bot er damit für fanatische Nationalsozialisten im Wilhelmstift noch eine Zielscheibe, deren Hilflosigkeit angesichts der inzwischen eingetretenen Verfolgungslage der Sozialdemokratie sie schamlos ausnutzen konnten.

Konkret war es der Lehrer Bosse aus Bevern, der am 13. März Hiekel während eines Gesprächs ins Gesicht schlug. Bosse war überzeugter Nationalsozialist, dem die Oberweser Volkszeitung u. a. vorwarf, sein Amt dafür zu nutzen, gemeinsam mit Wiegand junge Leute für die SA anzuwerben. Inhaltlich ging es bei dem Gespräch um einen Streit, den Bosse einige Tage zuvor mit dem bereits erwähnten Heinrich Raulfs gehabt hatte. Hiekel schilderte den Vorfall folgendermaßen: […] Hierauf schlug mich Herr Bosse ins Gesicht mit den Worten: Sie lügen genau so, wie Ihre Presse, jedes Wort, das Sie sagen, ist eine Lüge usw. Es fielen dann noch Worte wie: rotes Gesindel, Halunken, Verbrecher usw. Außerdem gebrauchte Herr Bosse folgenden Satz: Mit Ihnen werden wir abrechnen, und sprechen Sie noch ein Wort (über mich?), dann kann ich für Ihr Leben keine Gewähr übernehmen.

Aufschlussreich bezüglich des Verkennens der inzwischen eingetretenen bedrohlichen Situation seitens der SPD ist die Tatsache, dass Hiekel mit der Meldung dieses Vorfalls die Hoffnung auf Untersuchung und Ahndung verband. Aus heutiger Kenntnis der Ereignisse jener Monate muss nicht besonders darauf hingewiesen werden, dass bei Taten wie der des Lehrers Bosse damals für den Angreifer keine Sanktionen zu befürchten waren!

Womit sich Hiekel in der NS-Zeit seinen Lebensunterhalt verdiente, konnte nicht ermittelt werden. Bis September 1937 wohnte er noch in Holzminden, dann verzog er nach Worms. Am 2. Mai 1939 verließ er mit seiner Familie Worms, um nach Koblenz zu ziehen. Von 1945 bis 1977 lebte er abermals in Holzminden.

Paul Timmermann

Fast nichts wissen wir über den in beiden Fällen maßgeblichen Denunzianten Paul Timmermann. Beim Eintritt in Bevern im Frühjahr 1932 als früherer Schulamtsbewerber bezeichnet, wurde er hier als Erziehungspraktikant beschäftigt. Schon wenige Wochen nach Dienstantritt hatte ihn die sozialdemokratische Presse im Visier und stellte fest, er sei ein strammer Nazimann. Dass er dies war, belegen bereits die geschilderten Vorgänge. In einer der letzten Ausgaben der Oberweser Volkszeitung, am 1. März 1933, wetterte das sozialdemokratische Blatt noch einmal gegen Timmermann und schrieb: Timmermann ist das leuchtende Beispiel moderner Parteibuchpolitik, die Eigenschaften des neuen Systems sind in seiner Person besonders verkörpert. Als „Reiniger“ zog er in das Wilhelmstift ein und – „arbeitete gut“. Ganze Familien brachte er durch wahrheitswidrige Angaben um Stellung und Verdienst, bei allen Aktionen gegen den nicht nationalsozialistisch eingestellten Teil der Angestelltenschaft „kehrte“ er an erster Stelle. – Dem ist nichts hinzuzufügen.

Personalpolitik im Braunschweigischen

Neue Politik mit neuen Beamten nach dem Ende des Kaiserreichs? In den Jahren 1919 bis 1924, als die SPD in Braunschweig an der Regierung beteiligt war, konnte davon nur in Ansätzen die Rede sein. Das lag u. a. an den engen Grenzen des geltenden Beamtenrechts, am Mangel personeller Ressourcen und teilweise wohl auch an politischer Rücksichtnahme. Eine spektakuläre Personalentscheidung wie im Fall der Einstellung Gotthard Eberleins in Seesen war eher die Ausnahme, nicht die Regel.

Das änderte sich 1925, als die inzwischen ohne Beteiligung der Sozialdemokraten regierende bürgerliche Koalition versuchte, die Entwicklung der letzten Jahre zu beenden und viele in der Zwischenzeit getroffene Entscheidungen wieder aufzuheben. Nun fielen republikanische Beamte – nicht nur Sozialdemokraten, sondern auch Mitglieder der DDP – fast automatisch in Ungnade, wurden auf unwichtige Posten abgeschoben oder gar entlassen.

Das hatte „weit reichende Auswirkungen auf die Haltung der SPD“ in Fragen der Personalpolitik, die sich in der Zeit der sozialdemokratischen Alleinregierung 1927 bis 1930 zeigten. Nun wurde massiv nachgeholt, was bis 1924 nur in Ansätzen durchgeführt worden war: die Besetzung der Dienststellen mit republikanisch gesinnten Beamten. Rother sieht darin mit Recht mehr als nur „Revanchepolitik“ bezüglich der vorhergehenden Regierung: Es war die Erkenntnis, dass politische Entscheidungen nicht ohne Mitwirkung der Verwaltungen, erst recht nicht gegen deren Widerstand, durchgesetzt werden können. Braunschweig sollte zum „sozialdemokratischen Musterland“ werden.

Zwangsläufig auf die Spitze treiben mussten die Nationalsozialisten eine solche Personalpolitik, ist doch eine Diktatur auf Gedeih und Verderb von der (notfalls erzwungenen) Folgsamkeit nicht zuletzt der Verwaltung abhängig. Zugleich ging es unter ihnen bei einigen vielleicht durchaus um persönliche Revanche für erlittene eigene Benachteiligungen aufgrund ihrer politischen Tätigkeit zu Zeiten sozialdemokratischer Regierungen. Bruno Friedrich war, wie bereits geschildert, aus dem Staatsdienst entlassen worden. Wichtiger für die Entwicklung in Braunschweig dürfte die Tatsache gewesen sein, dass der nationalsozialistische Minister für Inneres und Volksbildung Klagges ursprünglich selbst Lehrer gewesen war, sogar Konrektor der Mittelschule in Benneckenstein/Harz. 1930 war er wegen seiner Tätigkeit u. a. als Ortsgruppenleiter aus dem preußischen Schuldienst entfernt worden. In diesem Punkt könnte sein hartes Vorgehen gegen die missliebigen Angestellten in Bevern also zumindest teilweise auf seiner persönliche Geschichte beruht haben.

Aus heutiger Sicht ist es erschreckend, zu sehen, wie selbstverständlich beide politischen Lager Entlassungen Andersdenkender – nach 1968 würde man sagen: „Berufsverbote“ – als Mittel der politischen Auseinandersetzung einsetzten. Auch mit persönlichen Angriffen des Gegners hielten alle Seiten sich leider kaum oder gar nicht zurück. Bei der Verurteilung Friedrichs im erwähnten Beleidigungsprozess berücksichtigte der Richter erschwerend, dass der in den Redewendungen des Angeklagten liegenden groben persönlichen Verunglimpfung des politischen Gegners, noch dazu in dessen Abwesenheit, als Mittel des politischen Meinungskampfes im Interesse der allgemeinen Gesittung Einhalt geboten werden muss. Zugleich stellte er fest, dass ähnliche Ausartungen des politischen Kampfes nahezu in allen Lagern vorgekommen sind und in der Heftigkeit des […] geführten Streites eine gewisse Erklärung finden. Justitia resignierte allmählich …

Wie die beschriebenen Denunziationen in Bevern zeigen, fanden die Nationalsozialisten genügend freiwillige Mitstreiter in ihrem Kampf speziell gegen die Sozialdemokratie. Insofern sei abschließend noch eine Anmerkung zu diesem Thema erlaubt. Denunziation ist in den letzten Jahren zu einem beachteten Forschungsgegenstand geworden, so dass man inzwischen sogar von einer eigenen „Denunziationsforschung“ spricht. Dabei wird die Frage gestellt, ob und in welchem Umfang Denunzianten und ihre Denunziationen für eine diktatorische Herrschaft von Bedeutung sind – sowohl als tatsächlich ausgeführte Tat als auch durch deren bloße Möglichkeit mit der daraus resultierenden Einschüchterung. Lange wurde dieses Thema in der bundesdeutschen „Vergangenheitsbewältigung“ totgeschwiegen, stellt es doch eine gerne verdrängte Frage: „die Frage nach der Mitverantwortung jedes Einzelnen für das Funktionieren des Regimes“!

(c) Matthias Seeliger / Stadtarchiv Holzminden

(Vorstehender Beitrag, basierend auf dem Vortragstext, ist mit Anmerkungen und 4 Abbildungen gedruckt in: Jahrbuch für den Landkreis Holzminden 28/29 (2010/11, S. 71-92)

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900 Jahre Katlenburg (1105-2005)

Magazin „Mix Up“ im StadtRadio Göttingen ausgestrahlt am 22. August 2005

Interview mit der Lokalhistorikerin Dr. Birgit Schlegel über die Geschichte der Ortschaft Katlenburg im Landkreis Northeim

Ingeborg Lüdtke:

900 Jahrfier KaltenburgFrau Dr. Schlegel, die Ortschaft Katlenburg Katlenburg feiert vom 26. bis 28. August das 900-jährige Jubiläum.
In welchem Zusammenhang wurde Katlenburg zum ersten Mal urkundlich erwähnt?

Dr. Birgit Schlegel:

Im Staatsarchiv Hannover liegt eine Urkunde aus dem Jahre 1105. In dieser Urkunde wird berichtet, dass der Erzbischof Ruthard von Mainz den Hauptaltar einer Kirche geweiht hat, die als Klosterkirche gedacht war. Die Grafen von Katlenburg hatten beschlossen zum Heil ihrer Seele und der ihrer Eltern ein Kloster zu errichten. Hierfür setzte sich besonders Graf Dietrich III. mit seiner Frau Adela ein.

Dies wurde in dieser Urkunde bestätigt und es wurden auch die Besitzungen verteilt, die der Graf und die Gräfin dem Kloster übergeben werden.

Ingeborg Lüdtke:

Aus welcher Familie stammte Graf Dietrich der Dritte?

Dr. Birgit Schlegel:

Wie ich bereits erwähnt, nannte man diese Herrscher die „Grafen von Katlenburg“ und der letzte Graf wurde auch „Graf von Einbeck“ genannt, weil es auch Besitzungen in Einbeck gab.

Die ersten beiden Grafen von Katlenburg hießen Heinrich und Udo. Der Name Udo weißt darauf hin, dass es verwandtschaftliche Beziehungen zu den Grafen von Stade gab. Diese waren damals auch sehr mächtige Herren.

Der Sohn von Graf Udo war Graf Dietrich der Erste, dessen Sohn war Graf Dietrich der Zweite. Im folgte der eben erwähnte Graf Dietrich der Dritte, der der letzte der Katlenburger Grafen wurde.

Ingeborg Lüdtke:

Welche Bedeutung hatte das Katlenburger Geschlecht in der damaligen Reichspolitik?

Dr. Birgit Schlegel:

Goslar KaiserpfalzDer Mittelpunkt des mittelalterlichen deutschen Reiches lag hier in unserer Gegend. Die Ottonen waren Sachsenkaiser und unter Sachsen verstand man das heutige Niedersachsen. Damals war Sachsen das Zentrum des Reiches. In Goslar gab es die Kaiserpfalz und auch hier im Harzumland hatten die Kaiser Besitzungen. Es gab auch einen wichtigen und sehr kämpferischen sächsischen Adel und zu diesen gehörten die Grafen von Katlenburg.

Ingeborg Lüdtke:

Was gibt es Besonderes über das Kloster KatlenburgKatlenburg zu erwähnen?


Dr. Birgit Schlegel:

Es war zunächst ein Kloster für Augustiner Chorherren, also für Mönche und relativ bald wurde es umgewandelt zu einem Kloster für Frauen, für Stiftsdamen. Diese waren ebenfalls Augustinerinnen.

Für mich ist das Wichtigste das Lagerbuch des Klosters, das die letzte Äbtissin hat schreiben lassen. Ein Lagerbuch ist ein Verzeichnis von den Gütern und Rechten, die zu einem Kloster gehören. Zum Beispiel heißt es dort: „Zum Kloster gehören 5 Wiesen in Wachenhausen“ oder „der Bauer Johannes aus Lindau bringt dem Kloster jährlich einen Käse“. Dies war damals ganz wichtig zu verzeichnen, weil in Thüringen die Bauernkriege tobten. Man hatte Angst, dass dies auch auf den Katlenburger Bereich übergreifen würde.

Dieses Lagerbuch ist vollständig und auch sehr gut erhalten.

Ingeborg Lüdtke:

Das Kloster wurde später unter Philipp dem Jüngeren von Grubenhagen zum Schloss umgebaut.

Welche Rolle spielte er in der Reichspolitik?


Dr. Birgit Schlegel:

Philipp der Jüngere war der fünfte Sohn von Herzog Philipp dem Ersten von Grubenhagen. Er wurde erst kurz vor seinem Lebensende Herzog. Er besaß das kleine welfische Territorium Grubenhagen mit dem Schwerpunkt in Einbeck, Osterode und Herzberg Das Schloss Herzberg war das Zentrum.

Da Philipp der Jüngere nicht besonders reich war, hat er sich in den Kriegsdienst des spanischen Königs gestellt. Er hat auch gegen die Türken gekämpft. Obwohl die Welfen Protestanten wurden, hat er auf der katholischen Seite für die Könige von Spanien und der Niederlande gekämpft. Hier sieht man, dass die angeblichen Glaubenskriege auch machtpolitische Kriege waren.

Ingeborg Lüdtke:

Wie erlebte Katlenburg den 30 jährigen Krieg?

Dr. Birgit Schlegel:

Zum Amt Katlenburg gehörten neben dem alten Bauerndorf Katlenburg-Duhm, Wachenhausen, Gillersheim, Suterode und Berka. Den Bewohnern dieser Dörfer ging es 30 jährigen Krieg sehr schlecht. Sie wurden immer wieder überfallen und nach dem Krieg waren sehr viele Häuser zerstört. Besonders schlecht ging es der Katlenburg, weil der damalige Fürst, ein Bruder von Herzog Georg von Lüneburg, sich als neutral erklärt hatte. Leider benahm er sich so, dass man annahm, er sei auf der katholischen Seite. Die katholische Seite hat nicht gewusst, dass er neutral war und so geriet er zwischen alle Machtzentren. Die Katlenburg wurde mehrfach zerstört, besonders stark im Jahre 1626. Darüber gibt es noch an der Kirche eine Inschrift, die besagt, dass in des Friedes Fehde 1626 die Katlenburg, das Amtshaus, die Kirche, das Schloss und auch unten in Duhm die Dörfer von dänischen Besatzungstruppen stark zerstört wurden. Die Besatzungstruppen haben sich in Northeim aufgehalten. Auch Northeimer Bürger haben sich an der Zerstörung beteiligt. Sie kamen als Hintertross der dänischen Soldaten und haben alles, was nicht Nigel und Nagel fest war mitgenommen. Zum Plündergut gehörte vor allen Dingen Proviant, Essen, Eisen und auch Messing, praktisch alles Metallische. Dies haben die Katlenburger den Northeimern lange nicht verziehen.

Ingeborg Lüdtke:

In diesem Jahr wurde der 60. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus begangen. Welche Rolle spielte der Nationalsozialismus in Katlenburg?

Dr. Birgit Schlegel:

Zunächst muss man sagen, dass die ganze hiesige Gegend schon sehr für und sehr stark nationalsozialistisch gewählt hatte. Als 1933 die entscheidende Wahl im März war wählten schon weit über 50 Prozent nationalsozialistisch, während es im Gesamtreich noch unter 50 Prozent waren.

Es gab keine großen Helden des Widerstandes hier in Katlenburg. Viele waren Mitläufer und viele haben innerlich emigriert. Äußerlich sind sie mitmarschiert, aber innerlich waren sie distanziert.

Die einzige politische Gruppe, die hier relativ lange den Nationalsozialisten standgehalten hat, das war die Welfen-Partei, also die deutsch-hannoveranische Partei. Der letzte Bürgermeister Hillemann wurde dann 1933 dadurch aus dem Amt gebracht, in dem man ihm einen falschen Umgang mit Gemeindefinanzen vorgeworfen hat.

Es gibt allerdings einen Mann, der Widerstand eher aus Glaubensgründen geleistet hat und zwar war er ein Zeuge Jehovas. Karl Domeier war 8 Jahre im Konzentrationslager. Das war eigentlich derjenige, der sicher hier am meisten gelitten hat.

© Ingeborg Lüdtke

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Literaturhinweise:

Birgit Schlegel hat im Juni 2005 einen kurzen Beitrag über die 900 jährige Geschichte Katlenburgs in der Zeitschrift „Südniedersachsen“ veröffentlicht.

Birgit Schlegel (Hg.), Katlenburg und Duhm. Von der Frühzeit bis in die Gegenwart. Verlag Mecke Druck, Duderstadt 2004

In dem „Northeimer Jahrbuch 2006“ 71. Jahrgang ist ein kurzer Beitrag über Karl Domeier erscheinen. Marc Schmidtchen berichtet hier anhand von Dokumenten über die persönliche Verfolgungsgeschichte von Karl Domeier im NS-Regime.

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Geschichtsforschung: Veränderung und Objektivität

Interview mit Dr. Detlef Garbe, dem Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme bei Hamburg über Dr. Detlef GarbeVeränderungen in der Geschichtsforschung und Objektivität in der Geschichte im Februar 2007 in der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück.

Ingeborg Lüdtke:

Wie hat sich die Geschichtsforschung im Laufe der letzten 60 Jahre verändert?

Dr. Detlef Garbe:

60 Jahre ist ein sehr langer Bereich. In dieser Zeit hat eine Reihe von Entwicklungen stattgefunden. Zunächst war die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit für die Zeitgeschichtsforschung gar kein Thema. Die Zeitgeschichtsforschung hatte sich verstärkt den Ereignissen zu Beginn des 20 Jahrhunderts zugewandt. Der Blick auf die gerade erst kürzlich vergangene Zeit des Hitlerregimes war für die Geschichtswissenschaft ein Thema, das man eher mied. Diejenigen, die sich damit auseinander setzten, waren großteils Historiker, die in der Emigration waren wie Hans Rothfels oder Gerhard Ritter, die sich aus eigener Betroffenheit mit dem Thema auseinander setzten. Die Funktion, die die Zeitgeschichte damals nahm, war diejenige gegenüber der vom Ausland geäußerten sogenannten Kollektivschuld, also der Behauptung, dass das Hitlerregime durch das Deutsche Volk in toto, im Ganzen an die Macht gebracht worden wäre und dass für die Verbrechen des Nationalsozialismus alle Deutschen Schuld seien. Dieser Kollektivschuldthese versuchte die Geschichtswissenschaft in den 50er Jahren entgegen zu treten, zu beweisen sozusagen, dass es ein anderes Deutschland gab. Von daher hat die Geschichtswissenschaft jener Jahre sehr stark den Aspekt dann auf den Bereich des Widerstandes gelegt, allerdings sehr in der Engführung Widerstand aus bürgerlichen, aus kirchlichen Kreisen vor allem aber auf den Staatsstreichversuch des 20. Juli 1944. Das waren die Themen um zu belegen: Es hat nicht nur Deutsche gegeben, die dem Hitlerregime zugestimmt haben, sondern es hat auch ein anderes ein unbeflecktes Deutschland gegeben.

Der Nationalsozialismus selbst wurde sehr stark als deutsche Katastrophe verklärt, als eine Katastrophe, deren Ursachen schon sehr stark in den Bereich des Dämonischen verlegt wurde. Es wurde sehr stark auf die Person Hitlers als Führer fokussiert. Eigentlich verschwanden alle anderen Verantwortlichen hinter der Gestalt Hitlers. Wenn man das heute mit dem Abstand von 60 Jahren sieht, dann waren die frühen Versuche der Auseinandersetzung eher etwas was den Charakter des Nationalsozialismus vernebelte, als ihn offen zu legen. Es hat dann lange Jahre bedurft, ehe in den 60er Jahren mit der Hinwendung zur Alters- und Sozialgeschichte auch andere Fragen in den Blick gerieten. Es wurde sehr viel stärker nach den Funktionsmechanismen, nach den Strukturen, die das nationalsozialistische Regime hervorbrachten gefragt. Es war also weniger das Interesse auf die Programmatik, auf die Ideologie, sondern: Wie konnte der nationalsozialistische Staat funktionieren? Wer waren seine gesellschaftlichen Träger? Es wurde mehr der Ablauf der Ereignisse in den 12 Jahren in den Blick genommen: Die Erkenntnis, dass das System selber eine Phase der Radikalisierung durchlaufen hat. Es wurde die Zäsur des Krieges auch stärker herausgestellt und dann Ende der 60er Jahre auch die ersten Untersuchungen, die sich dem Krieg und der Wehrmacht intensiver auseinandersetzen. Und im Zuge der Hinwendung der Alltags- und Sozialgeschichte kam auch der Widerstand anderer Gruppen, der Arbeiterbewegung, überhaupt die Geschichtsschreibung von unten stärker in den Blick. In den 70er Jahren wurde durch die entstehenden Geschichtswerkstätten, durch die lokalen Initiativen der Blick stärker auf den Nationalsozialismus als ein gesellschaftliches Phänomen gelegt. (Interessant) waren nicht mehr die großen politischen Aktionen, die Staatsebene – das was an Außenpolitik und Innenpolitik im 3. Reich stattgefunden hat -, sondern das wie sich die Politik in regionalen Verhältnissen niederschlug. Es war eine sehr viel konkretere Betrachtungsweise. Dieses wurde dann auch noch dadurch verstärkt , dass eine neue Quellengattung in den Blick geriet. Zwar hat sich die Geschichtsschreibung seit jeher nicht nur die Schriftgutüberlieferung in Form von Dokumenten gestützt, sondern sie hat immer auch Erinnerungsberichte in die Auswertung geschichtlicher Ereignisse mit einbezogen, aber dabei wurde eigentlich immer nur an die Tagebücher und Memoiren bedeutsamer Personen gedacht. Teilweise, wie beim dem großen Projekt zur Geschichte der Vertriebenen, dass in den 50er Jahren durchgeführt wurde, wurden auch schon Befragungen durchgeführt, aber auch die haben sich auf reine Schriftzeugnisse berufen. Erst Ende der 70er Jahre kam über die USA die Bewegung der Oral History nach Deutschland. Man ging also auf diejenigen zu, die als Zeugen der Zeit aus eigenem Erleben berichten konnten. Die etablierte Geschichtswissenschaft hat das erst sehr stark abgelehnt, hat gesagt, dass seien ja alles nur subjektive Wahrnehmungen und man könne dem keinen hohen Stellenwert zuschreiben. Aber dadurch, dass sich nach und nach eine sehr genaue Methodik der Analyse von mündlich erfragter Geschichte entwickelt hat, die ja Dinge abbilden kann, die sich nie in der Schriftgutüberlieferung finden, dadurch ist die Oral History immer stärker etabliert worden. Ich nehme als einen Bereich die Geschichte der Konzentrationslager (heraus).Viele der Vorgänge, die in den Lagern stattgefunden haben, haben natürlich überhaupt keinen Niederschlag in den Akten der NS gefunden und nur durch Befragung der Überlebenden, der ehemaligen Häftlinge und anderer Augenzeugen, lassen sich diese Vorgänge erheben.

Ingeborg Lüdtke:

Haben wir dadurch ein objektiveres Wissen über die NS-Zeit?

Dr. Detlef Garbe:

Jede Zeit, jede Generation stellt ihre eigenen Fragen an die Geschichte. Es gibt dort Wechsel in den Perspektiven. So wurde in den 70er/80er Jahren sehr stark nach den wirtschaftlichen Ursachen, nach den ökonomischen Nutznießern gefragt. Und in den 90er Jahren tauchen dann stärker die Fragen nach den Geschlechterbeziehungen auf, nach den Geschlechterverhältnissen: In wieweit hat das Regime in seinem Frauenbild, in seiner Partizipation von Frauen gewirkt? In den zurückliegenden 10 Jahren tauchen Fragestellungen auf, die wieder stärker die Bevölkerung insgesamt in den Blick nehmen. Fragen wie: Wie war dies eigentlich möglich? War es nur ideologische Verführung und nur Propaganda, die dazu geführt haben, dass Millionen Deutsche diesem Regime zugestimmt haben? Oder war es auch so, dass die Zustimmung zum Regime verbunden war mit Angeboten vom Regime, beispielsweise das man an materiellen Dingen partizipierte? Zum Beispiel ist in den letzten Jahren überhaupt erst untersucht worden, in welchem hohen Maße die nichtjüdische Bevölkerung in Deutschland, die regimetreue Gesellschaft, partizipiert hat an der Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung. Auch andere Aspekte der Einbindung von der Bevölkerung in das Regime sind in den letzten Jahren thematisiert worden, so dass die frühere Rede von dem Führerstaat inzwischen der Rede von Hitlers Volksstaat gewichen ist. Es tauchen Begriffe auf wie Zustimmungs- und Wohlfühldiktatur. Die das also widerspiegeln, dass das Regime des Nationalsozialismus keine Diktatur der wenigen über die vielen waren, sondern eine Gewaltherrschaft der vielen über die Ausgegrenzten und Anderen. Gleichwohl, wie immer in der Geschichtswissenschaft, gibt es Widerspruch und Kritik an solchen Konzeptionen, so dass die Frage nach einem objektiveren Wissen ganz schwer zu beantworten ist. weil mit den unterschiedlichen Fragestellungen natürlich auch immer Perspektiven und Sichtweisen, also subjektive Dinge mit in den Blick kommen. Natürlich hat sich das Faktenwissen enorm erweitert. Insbesondere nach 1989/1990 konnten auch die Quellen, die bisher der westlichen Geschichtsforschung verschlossen waren, zum Beispiel die Quellen in russischen Archiven, in osteuropäischen Archiven mit einfließen; und in dem es eine Vielzahl von Untersuchungen gab, die sehr genaue Analysen hervorgebracht haben, ist das Faktenbild sozusagen immer umfassender geworden.

Die Frage nach Objektivität ist hingegen ganz schwer zu beantworten, weil sie davon ausgeht, was derjenige darunter versteht. Es gibt natürlich ein gesundes Basiswissen, ein solides Fundament. Es gibt Informationen, die nur Einzelne und Wenige in Frage stellen und wo es so etwas wie ein Kommessenz der wissenschaftlichen Forschung gibt. Wenn man das mit objektiv gleich setzt, dann ist sozusagen dieses Basiswissen enorm gestiegen. Aber man darf sich nicht täuschen, dass es immer das Erkenntnisinteresse der jeweiligen Generation der Befrager ist; und ich bin mir ziemlich sicher, dass das Bild auf den Nationalsozialismus sich in 10 oder 20 Jahren in Nuancen wieder weiter verändern wird. Klar ist, dass der verbrecherische Charakter des Regimes sich heute eher noch deutlicher darstellt, als es in früheren Jahren der Fall gewesen ist, also das Versuche der Relativierung, der Gleichsetzung des Nationalsozialismus mit anderen totalitären Regimen, die es noch in den 80er Jahren im Zuge des Historikerstreites gegeben hat, heute eigentlich kein Thema mehr sind. Niemand würde heute allerdings in Frage stellen, dass man vergleichen muss als Historiker. Selbstverständlich müssen die Verbrechen im Nationalsozialismus verglichen werden können mit dem Unrecht, das sich in kommunistischen Regimen zugetragen hat, weil erst im Vergleich sozusagen die Unterschiede auch deutlich werden.

Ingeborg Lüdtke:

Wie haben sich die neueren Forschungsmethoden auf die Geschichtsforschung bezüglich der Zeugen Jehovas ausgewirkt?

Dr. Detlef Garbe:

Vor 10 oder 20 Jahren konnte man mit gutem Recht die Zeugen Jehovas zu den sogenannten vergessenen Opfern des Nationalsozialismus rechnen. In der Öffentlichkeit war die Verfolgungsgeschichte dieser Glaubensgemeinschaft so gut wie unbekannt. Das hat sich in den zurückliegenden Jahren deutlich geändert. Wie überhaupt den marginalisierten Opfern wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, den Opfern, die am Rande standen, die nicht zu den Gruppen politischer Regimegegner oder den aus rassischen Grund Verfolgten gehörten, wo dabei lange Zeit das Interesse auch nur den Jüdinnen und Juden galt und nicht den Sinti und Roma. Aber die Fragerichtung hat sich in den letzten 10-20 Jahren nicht nur im Blick auf die Zeugen Jehovas, sondern insgesamt den Randgruppen zugewendet. Man kann im Blick auf die Zeugen Jehovas heute davon sprechen, dass es inzwischen eine soweit gesicherte Forschung gibt, dass die Relationen, die Zahlen klar sind. Die Ereignisabläufe sind offen gelegt worden. Es gibt wie immer Detailfragen, die noch nicht untersucht sind. Es sind relativ wenige Studien beispielsweise über die Auswirkung der Verfolgung von Angehörigen der Zeugen Jehovas in den besetzten Gebieten und den mit dem deutschen Reich verbündeten Ländern vorhanden. Solche einzelne Fragen gibt es noch. Aber die Geschichte der Verfolgung der Zeugen Jehovas, ihr Widerstand, ihre Selbstbehauptung, die Verfolgung durch Justiz und Polizei, die Sondergerichtsverfahren und so, dass ist inzwischen gut ausgeleuchtet.

© Ingeborg Lüdtke

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Bilder: Mit freundlicher Genehmigung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme

Teilausschnitt aus den Radiosendungen vom 20.4.2007 sowie 27.1.2009 ausgestrahlt im StadtRadio Göttingen

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Heeresmunitionslager Volpriehausen bei Uslar

Interview mit Detlev Herbst im Kali-Bergbaumuseum Volpriehausen am 22.Juli 2008

Ingeborg Lüdtke:

Zu welchem Zweck wurde die Schachtanlage Wittekind erbaut?

Detlev Herbst:

Im Jahre 1901 wurde das Kali- und Steinsalzbergwerk Wittekind, das ursprünglich Justus hieß, eröffnet. Man wolle hier bergmännisch Kali- und Steinsalze gewinnen. Ursprünglich hieß das Werk bis 1920 „Werk Justus“.

Ingeborg Lüdtke:

Welche Verbindung besteht jetzt zwischen dem Jugend-KZ Moringen

ehemaliges KZ Moringen

ehemaliges KZ Moringen

und dem Schacht Wittekind?

Detlev Herbst:

Rest der Anlage Wittekind VolpriehausenAnfang der 1930er Jahre merkte man, dass das Kalilager vor allem hier erschöpft war, da die Qualität der noch verbliebenen Salze nicht mehr gut war. Es gab erheblich bessere Kaliwerke hier im südlichen Niedersachsen als Volpriehausen. Man überlegte, ob man das Werk schließen sollte. Dann merkte man, dass die Deutsche Wehrmacht sehr an stillgelegten Salzbergwerken interessiert war. Die Wehrmacht wollte diese Werke in Heeresmunitionsanstalten untertage umbauen. Im Jahre 1937 wurde schließlich der Kali- und Steinsalzbergbau in Volpriehausen eingestellt und die gesamten Werksanlagen über- und untertage an die Deutsche Wehrmacht verpachtet. Im Jahre 1938 erfolgte schließlich die offizielle Übergabe und der Beginn der Umbauarbeiten über- und untertage.

Ingeborg Lüdtke:

Können Sie uns auch etwas über die die Arbeiten der jugendlichen Zwangsarbeiter im Schacht sagen?

Detlev Herbst:

Im Jahre 1942 nach Abschluss der gesamten Umbauarbeiten und Erweiterungsarbeiten begann die Heeresmunitionsanstalt im vollen Umfang zu arbeiten. Ein großes Problem dabei war, die Auswahl der Arbeitskräfte. Es gab nicht sehr viele männliche Arbeitskräfte, weil die meisten in der Wehrmacht waren und von daher also nicht abkömmlich waren, sodass man überall suchen musste. Es kamen natürlich mehr und mehr Deportierte aus den von der Wehrmacht besetzten Ländern und es gab dann auch Kriegsgefangene. Aber all diese Arbeitskräfte reichten nicht aus und deswegen wandte sich die Leitung der Heeresmunitionsanstalt an das Arbeitsamt in Northeim und erfuhr dort, dass in Moringen ein Jugend-KZ existierte, in dem Jugendliche abkömmlich wären, um eventuell auch hier in Volpriehausen zu arbeiten. Nach relativ kurzen Verhandlungen wurde dann festgelegt, dass täglich zwischen 60 und 100 dieser Jugendlichen zur Zwangsarbeit nach Volpriehausen kamen.

Ingeborg Lüdtke:

Wie wurden diese Jugendlichen behandelt?

Detlev Herbst:

Die Jugendlichen arbeiteten hier 10 Stunden täglich. Sie wurden im Werk verpflegt. Das war eine sehr karge Mahlzeit, die sie bekamen. Überwiegend eine Wassersuppe mit Kartoffelstücken und irgendwelchen Speckrändern oder Speckschwarten, die ausgekocht waren. Es gab dann als Zwischenmahlzeit meistens Brot, das mit dünner Marmelade belegt war. Glücklicherweise fanden sich im Werk doch Bergleute zum Beispiel oder Mitglieder des weiblichen Arbeitsdienstes bzw. des weiblichen Kriegshilfsdienstes, die immer wieder Mitleid hatten mit diesen Jugendlichen und ihnen von ihrem Brot, das sie von zuhause mitbrachten dann etwas abgaben. Die Jugendlichen selbst wurden von der SS beaufsichtigt. Das heißt, es war absoluter Gehorsam erfordert und es fand eben eine ziemlich totale Überwachung dieser Jugendlichen statt.

Ingeborg Lüdtke:

Gab es Probleme zwischen der SS und den Bergleuten in Bezug auf die Vollzugsgewalt?

Detlev Herbst:

Probleme gab es dadurch, dass die SS davon ausging, dass sie also die alleinige Vollzugsgewalt dort untertage hatte. Das traf nicht zu, weil die Bergleute praktisch nur dem Bergamt gegenüber und natürlich auch der Werksleitung gegenüber verantwortlich waren. Sodass also diese beiden Gruppen sich durchaus nicht freundlich, doch sondern eher feindlich gegenüberstanden, wodurch es immer wieder zu Problemen kam.

Ingeborg Lüdtke:

Welche Arbeiten mussten die Jugendlichen denn in der Muna (Munitionsfabrik) ausführen?

Detlev Herbst:

Die Hauptarbeiten der Jugendlichen war das Einpacken der fertigen Granaten in Kisten und der anschließende Transport dieser Kisten. Sehr oft mussten sie getragen werden oder sie wurden auf Förderwagen verladen, die dann mit einer kleinen Grubenbahn in die betreffenden Lagerräume gebracht wurden. Das war für diese Jugendlichen, die überwiegend im Alter von 14-21 Jahren waren natürlich (ei)ne körperlich unheimlich harte Arbeit. Eine weitere Tätigkeit, die vor allem die Moringer Jugendlichen zu tun hatten, war das Beladen der Munitionszüge Übertage. Es kam natürlich auch dazu, dass vor allem die Moringer Jugendlichen Sonderaufträge erfüllen mussten, die zum Teil dann eben besonders schwierig waren. So gab es Mitte 1944 sehr große Probleme. Man führte sie wohl auch auf Sabotageakte zurück. Das heißt, es war Munition zurückgekommen, die nicht gebrauchsfertig war und die natürlich nicht leicht zu entschärfen war. Auch da wurden Moringer Jugendliche hinzugezogen.

Ingeborg Lüdtke:

Haben die Jugendlichen Geld für Ihre Arbeit erhalten?

Detlev Herbst:

Die Jugendlichen erhielten für ihre Tätigkeit neben dem Essen 10,- Reichspfennige pro Tag. Dieses Geld wurde auf ein Sperrkonto bei der Sparkasse in Northeim eingezahlt und sollte dann nach Entlassung aus dem Jugend-KZ in Moringen ausgezahlt werden. Was aber nicht geschah. Nach dem Krieg versuchten betroffene Jugendliche, die also als Häftlinge in Moringen waren an dieses Geld heranzukommen und mussten leider feststellen, dass das Konto bereits aufgelöst und leer war.

Ingeborg Lüdtke:

Welchen Widerstand gab es von den Jugendlichen?

Detlev Herbst:

Diese Jugendlichen waren nicht freiwillig dort in Volpriehausen in der Heeresmunitionsanstalt tätig. Es war eine ganz eindeutige Zwangsarbeit, die sie dort ableisten mussten und so etwas erregt natürlich Widerwillen und auch Widerstand. Die Jugendlichen versuchten irgendwie mit den bescheidenen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen zu bewerkstelligen. Dass evtl. die Produktion eingeschränkt, bzw. ganz gestoppt werden konnte. So versuchte zum Beispiel ein Uhrmachergeselle ein Uhrwerk umzubauen, um eine Munitionsladung in einem dieser Lagerräume zur Explosion zu bringen. Was nicht funktionierte, da sie vorher gemerkt wurde. Ein anderer Jugendlicher versuchte mit Hilfe einer beweglichen Lampe, die er an eine Munitionsladung ganz dicht heranbrachte diese Explosionsladung durch die Hitze der Glühbirne zur Explosion zu bringen, was natürlich auch nicht funktionierte. Von den russischen und auch von den weißrussischen Zwangsarbeiterinnen, die in sehr großer Anzahl ebenfall bei der Munitionsfertigung eingesetzt wurden, ist bekannt, dass sie wohl immer suchten zwischen Zünder und Sprengladung Brotkrumen nach den Essenspausen zu drücken, um so die Munition unbrauchbar zu machen. Man durfte in den Räumen, in denen die Munition gefertigt wurde nicht essen. Das heißt diese Frauen mussten immer wieder die Räume verlassen, aber in den Backentaschen behielten sie sehr oft eben Krümel zurück. Die sie dann versuchten in die Patronen zu drücken.

Ingeborg Lüdtke:

Bibelforscher?

Detlev Herbst:

Ja eine Gruppe der Häftlinge bestand aus sogenannten Bibelforschern oder Zeugen Jehovas wie wir heute sagen. Ihre Religion verbietet ihnen den Umgang mit Waffen und Munition. Für diese Gruppe junger Leute war es natürlich besonders schwierig in solch einer Einrichtung zu arbeiten. Sie weigerten sich des Öfteren und bekamen dadurch Ersatzarbeiten, aber das hing dann auch wieder von der SS-Aufsicht ab, wie liberal man nun bei der Zuteilung der Arbeit war. Mir ist von einem Jugendlichen bekannt, der sich also mehrmals geweigert hatte bestimmte Arbeiten zu verrichten, die also mit Munitionsförderung und Beförderung zu tun hatten. Er wurde tot geprügelt und von einem weiteren Jugendlichen ist mir bekannt, dass er in die Schachtröhre hinuntergestoßen wurde, weil er eben auch weigerte.

Ingeborg Lüdtke:

Welche Strafen gab es noch für Jugendliche, die etwas falsch gemacht haben oder sich weigerten?

Detlev Herbst:

Jugendliche, die sich weigerten und das eben deutlich zu erkennen gaben, dass sie nicht arbeiten wollten oder absichtlich nicht das machten, was ihnen befohlen worden war, die erhielten Stockschläge. Diese Stockschläge wurden allerdings erst in Moringen vollzogen und dann also immer vor dem ganzen Schlafraum. Das heißt, das Ganze sollte abschreckend auf die anderen Kameraden wirken.. Dann ist mir auch bekannt, dass als Strafe Jugendliche Häftlinge über den gepflasterten Hof auf allen Vieren, robben mussten, was natürlich sehr schmerzhaft und sehr anstrengend war, vor allem weil eben die ganzen Strafen immer nach einem 10 Std. Arbeitstag, den sie hier in Volpriehausen verbracht hatten, vollzogen wurden .

Ingeborg Lüdtke:

Welcher Inhaftierte ist für Sie jetzt besonders erwähnenswert?

Detlev Herbst:

Im Laufe der Jahre habe ich sehr viele ehemalige Häftlinge kennengelernt anlässlich von Besuchen hier bei uns im Kalibergbaumuseum bzw. bei den alljährlichen Treffen der ehemaligen Moringer Häftlinge in Moringen. Besonders ist mir eigentlich seit dieser Zeit seit mehr als 20 Jahren Antoni Rakocz ans Herz gewachsen mit dem ich auch heute noch korrespondiere. Antoni Rakocz ist 1921 in Katowice geboren. Nach der Volksabstimmung kam Katowice zu Polen und Antoni Vater, ein Deutscher Grenzaufseher verließ den Ort. Er ließ Mutter und Sohn zurück. Die Mutter war Polin. Antoni Rakocz bekam dann auch die polnische Staatsangehörigkeit. 1938 kurz nach Beginn des 2. Weltkrieges meldete sich Antonie, das ist mir nicht ganz verständlich warum, freiwillig zu den Hermann-Göring-Werken in Salzgitter, um dort zu arbeiten. Er wurde als Maler eingestellt. Antoni hatte wohl Angst, dass er zur Wehrmacht eingezogen werden könnte, weil eben ein Elternteil Deutsch war. Und dem wollte er eben durch seinen Beschluss zuvorkommen. Während der Arbeit in Salzgitter kam es zu einem Arbeitsunfall. Dieser Arbeitsunfall wurde als ein Sabotageakt von der Betriebsleitung und den Vorarbeitern gewertet. Antoni und mehrere seiner Arbeitskameraden wurden also dort wochenlang verhört und man wollte ihnen unbedingt nachweisen, dass sie Sabotage geplant hatten. Und bei diesen Untersuchungen in die natürlich auch das Elternhaus mit einbezogen wurde, stellte man fest, dass Antoni eben einen deutschen Vater hatte und dadurch eigentlich als Reichsdeutscher galt und wahrscheinlich in Polen irgendwie verdorben worden war. Man wollte ihn zu einem guten Reichsdeutsche erziehen. Man wollte ihn bessern und brachte ihn deshalb nach Moringen in das 1940 gegründete Jugend-KZ für männliche Jugendliche. Er sollte dort durch Arbeit für die Gemeinschaft und durch Studium nationalsozialistischer Schriften usw. sollte er zu einem guten reichdeutschen erzogen werden. 1941 kurz nach seiner Einlieferung in Moringen kam Antoni dann auch nach Volpriehausen und wurde zur Zwangsarbeit hier untertage eingesetzt. Er war sehr oft für Sondereinsätzen vorgesehen z.B. das hat er mir öfter erzählt, musste er den Grundstoff für Tränengas, der auch in Volpriehausen lagerte, Azin, von Fässern, die beim Transport beschädigt waren in neue Fässer, in andere Fässer um füllen. Was also sehr sehr schmerzhaft war, weil dieses Azin unheimlich die Schleimhäute und da vor allem die Augen reizte. So dass das immer ein furchtbare Arbeit war und Antone immer mit einem total verquollenen Gesicht aus diesem Raum wieder herauskam. Es muss aber trotzdem möglich gewesen sein, bei aller Schwere dieser Arbeit untertage doch auch unbeobachtete Augenblicke genießen zu können. Antoni lernte nämlich untertage bei einer Frühstückspause seine zukünftige Frau kennen. Eine Frau, die aus Polen gekommen war und dort auch zur Zwangsarbeit verurteilt worden war und zwar in der Form, dass sie verschieden Munitionsteile zu fertigen Granaten zusammensetzten musste. Die beiden lernten sich lieben untertage. Und es passierte dann das Julia, so heißt seine Frau, schwanger wurde und sie deshalb von ihre Arbeit untertage entbunden wurde und in ein Krankenhaus nach Blankenburg im Harz entlassen wurde. Nach dem 4. April 1945 als die Muna in Volpriehausen aufgelöst wurde, machte sich Antoni auf den Weg nach Polen. Glücklicherweise machte er eine Rast in Blankenburg, das an seinem Wege lag und dort traf er seine Frau wieder und erfuhr, dass sie einen gesunden Sohn geboren hatte. Antoni ist dann wieder nach Katowice zurückgegangen und hat dort wieder im Bergbau gearbeitet und lebt dort schwer krank in Katowice.

(c) Ingeborg Lüdtke

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Gesendet im StadtRadio Göttingen am 01.10.2008, 23.9.2009 und 8.9.2013

Weitere Informationen:

Martin Guse über Jonathan Stark

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Wie entsteht ein Hörspiel?

Kleiner Studioraum mit Blick zum RegieraumBericht über den Workshop „Hörspiel“ in Berlin „Auraton Studio“ am 24. /25. September 2011

Es ist 5.15 Uhr und ich habe leider keine Chance, das Aufstehen noch weiter hinauszuschieben. Schnell gefrühstückt, die letzten Sachen in dem Koffer verstaut und dann fahre ich mit dem Auto zum Bahnhof. Der Zug fährt pünktlich ein. Auch Berlin erreichen wir mit nur fünf Minuten Verspätung. Die erste Etappe ist geschafft, die richtige S-Bahnlinie zum Zoologischen Garten habe ich auch gefunden, doch leider ist es mit dem Anschluss zum Ernst-Reuter-Platz verzwickter. Die S-Bahnnummern, die Peter E. aufgeschrieben hat verwirren mich und führen mich erst in die Irre. Auf dem Bahnsteig befrage ich den netten Herrn, der die Ansage macht. Ich kann nur die U-Bahn benutzen und die wurde von U 2 in U 12 umbenannt. Na super! Aber ich finde am Ernst-Reuter-Platz zum Glück den richtigen Ausgang und bin nun in der Hardenbergstraße. Warum dürfen ICE´s eigentlich nicht mehr am Bahnhof Zoo halten? Alles wäre viel einfacher für mich!

Vorstellungsrunde

Statt um 10 h komme ich 10:10 Uhr im Studio an. Die Vorstellungsrunde ist in vollem Gange. Gerade ist Holger dran: TV-erfahren bei Sat1, Tele 5, Autor, Schauspieler und Sprecher. Ein Profi. Die beiden Teilnehmer daneben sind glücklicherweise keine Profis. Neben ihnen sitzt Peter, ebenfalls ein Profi mit langjähriger Erfahrung als Sprecher beim ARD, dem NDR, Schauspieler, Sänger und vieles mehr. Zwei weitere Mitstreiter stellen sich vor, keine Profis. Claudia, ist wiederum eine Profisprecherin. Insgesamt sind wir 12 Teilnehmer (fünf Frauen, sieben Männer).

Nun bin ich an der Reihe und habe eigentlich nur 13 Jahre Bürgerfunk im StadtRadio Göttingen entgegenzusetzen. Außerdem habe ich pro Jahr selten mehr als 6 Sendungen produziert. Trotzdem kann ich auch auf zwei mit viel Herzblut produzierte Hörbücher verweisen.

Einführung in das Genre Hörspiel

Kleiner Studioraum mit Blick zum RegieraumUnser Kursleiter Peter E. (steht für Eckardt) führt uns kurz in das Genre Hörspiel ein und erklärt uns anschließend, was uns in dem zweitägigen Workshop erwartet. Wir werden aus dem Text von Edgar Allen PoeHopp Frosch“ ein Hörspiel produzieren. Peter E. hat den Text bereits in mehreren Phasen hörspielgerecht gekürzt und umgeschrieben. Er darf dies, denn der Text ist laut Urheberrechtsgesetz gemeinfrei. Der Autor ist bereits über 70 Jahre tot und auch das 70. Todesjahr ist längst abgeschlossen. Für mich ist das alles sehr vertraut, denn die letzten Monate habe ich mich beruflich sehr mit dem Urheberrecht auseinandergesetzt.

Wir legen nun fest, wer welche Personen spricht. Da nur wenige Frauenstimmen erforderlich sind, bleibt für mich kein Text übrig, was mir sehr entgegen kommt.

Verteilung der Sprecherrollen und Textinterpretation

Peter übernimmt die Rolle des „Erzählers“ und hat den längsten Text zu sprechen. Er hat eine sehr angenehme Stimme und seine Art zu sprechen, gefällt uns sehr. Wir können uns lebhaft die Geschichte vorstellen. Er setzt die Latte für die anderen Sprecher sehr hoch. Tröstlich ist für mich aber, dass er auch einige Passagen mehrfach spricht, sei es als „Sicherheitskopie“ (wegen eventueller Zwischengeräusche), weil er selbst nicht zufrieden ist oder weil Peter E. eine andere Vorstellung vom Text hat. Peter gefällt es, dass er auch ein direktes Feedback aus der Regie bekommt.

Die Rolle des „Königs“ übernimmt Lutz. Er spielt in einer Band, aber als Sprecher hat er heute seine Premiere. Wir erleben, wie er sich langsam in seine Rolle hineinfindet. Anfangs spricht er sehr gepresst und wird am Ende lockerer. Da es aber schon 18:00 Uhr ist, machen wir für heute Schluss. Ich fahre zu meiner Unterkunft und gehe zeitig schlafen. Berlin hat sehr viel zu bieten, aber dieses Wochenende ist mir mein Schlaf lieber.

Ausgeruht stehe ich morgens wieder auf und schaffe es diesmal als erste beim Studio zu sein.

König und Hopp Frosch

Zuerst sprechen wir das ganze Stück in der jeweiligen Rollenbesetzung durch. Lutz hat sich überlegt, dass er die meisten Passagen neu sprechen will und gibt „seinem König“ nun einen leicht weinseligen Touch. Dies trägt sehr zu unserer Heiterkeit bei und versüßt uns die Wartezeit. Er geht so richtig in seiner Rolle auf.

Hopp Frosch“ wird von Holger gesprochen, der den Text als Schauspieler interpretiert. Mich erinnert dies sehr stark an „Puck“ aus einer modernen Fassung des „Sommernachtstraum“ von William Shakespeare. Peter E. bittet ihn, den Text noch einmal etwas spielerischer zu sprechen.

Erinnerungen an erste Sprechversuche in einem Tonstudio

Inzwischen kam jemand auf die Idee, dass doch eigentlich jeder etwas gesprochen haben sollte. Auch ich muss also ins Studio. So schaue ich mir den Text an und gehe auf den Balkon, um ihn laut zu sprechen. Ich fühle mich zurückversetzt in die Zeit, als ich während eines VHS-Kurses den Text probte, den ich vor laufender Videokamera lesen sollte. Das Ergebnis war damals grausam, viel zu schnell und die Stimme ohne Volumen. Auch denke ich an meine ersten Sprechversuche in einem Tonstudio. Der Tontechniker hatte Mühe meine leise Stimme ohne Verzerrung hörbar zu machen. Ich wollte nur weg vom Mikrofon, weg von meinen Zuhörern und schnell den Kopfhörer abnehmen. Auch muss Kleiner Studioraum mit Blick zum Regieraumich an ein „Hörfunk-Seminar“ während meines Journalistenstudium denken. Nils-Holger interviewte mich und fing plötzlich im Studio an zu lachen. Wir konnten vor lauter Lachen nicht mehr weitermachen.
Nun soll ich in der Sprecherkabine meinen Satz als erste Kammerzofe sprechen. Das Studio empfinde ich als angenehm. Es ist hell, neu und modern ausgestattet. Kopfhörer gibt es nicht, aber ein riesiges Sprecherpult mit einem Deckchen auf dem ich mein Manuskript ablege. Über dem beleuchteten Pult schwebt das Mikrofon. Jakob, einer der Höflinge spricht zuerst. Peter E. ist mit meinem Satz nach dem 2. Versuch zufrieden. Ich bin es auch und überlasse Eugenie den Platz.

Tripetta, Minister, Zofen, Höflinge und die Hofgesellschaft

Eugenie spricht Ihre Bitte als „Tripetta“ mit lieblicher Stimme und russischem Akzent. Ihre Anweisung an die Zofe ist da aber schon energischer.

Lustig wird es auch, als Luisa als Kammerzofe Jacob herunterputzt, er solle sich nicht so anstellen, schließlich wäre es ja die „königliche Unterhose“, die mit Teer anzustreichen sei.

Claudia wirkt sehr elfenhaft, als sie dem König die Kette um den Bauch legt.

Inzwischen sind auch die Parts aller Höflinge, Kammerzofen, Minister und die der Hofgesellschaft aufgenommen und wir machen erst einmal Pause.

Auswahl der Tonwerke, der Musik und Geräusche

Peter E.´s Frau bereitet uns wieder leckeres vegetarisches Essen zu. Anschließend hat Patrick alle Hände voll zutun, unsere Tonwerke zu bearbeiten. Später sitzen wir gruppenweise abwechselnd im RegieraumRegieraum und hören zu, welche Version unserer Tonwerke von Peter E. und ihm ausgewählt werden. Auch Musik und Geräusche fügt er ein. Eigentlich muss jetzt noch der Klang bearbeitet werden. Da es aber zu lange dauert, bitten wir ihn, uns die derzeitige Fassung vorzuspielen.

Beifall für unser „Kunstwerk“

Wir sind doch sehr angenehm überrascht, wie sich so mancher Part so harmonisch in das Hörspiel einfügt und es mit Leben füllt. Unsere Interpretation ist sehr heiter und nicht so düster, wie Edgar Allan Poe sie sich gedacht haben mag. Wir sind begeistert von unserem „Kunstwerk“ und klatschen am Ende Beifall. Dann kommen noch die Dankeswort an unseren Kurleiter Peter E, dem Tontechniker Patrick und natürlich lobende Worte für die gute Küche.
Unsere „Küchenfee“ bedankt sich stilvoll mit einem Hofknicks.

Eugenie und ich verlassen schnell die Gruppe, da wir zum Zug müssen. Schade, dass wir die Gruppe in der Formation wohl nicht wieder treffen werden. Wir waren ein gutes, lustiges und harmonisches Team. Alle, auch die Profi-Sprecher, fügten sich gut ein.

Damit ich nicht wieder so viel Zeit zum Hauptbahnhof benötige, laufe ich diesmal bis zur S-Bahn-Station „Zoologischer Garten“. Der Zug ist pünktlich. Ich arbeite die Seminarunterlagen durch und muss bald aussteigen.
Zuhause angekommen, werde ich gefragt: „Wie war es in Berlin?“ Schön war´s!

© Ingeborg Lüdtke

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http://www.words-and-music.de/
Veranstalter (Leitung)
Peter Eckhart Reichel
Hohenzollernstrasse 31
14163 Berlin
Tel: +49 (0)30 883 1978
Fax: +49 (0)30 885 0302
Mail: info@words-and-music.de
www.words-and-music.de

Veranstaltungsort:

auraton studio
Hardenbergstraße 6
10623 Berlin
Ansprechpartner: Patrick Ehrlich
Tel: +49 (0)30 3151 8683
E-mail: info@auraton-studio.de
www.auraton-studio.de

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Nach dem Hörspiel-Workshop aufgenommene Version:

Ausschnitt aus Edgar Allan Poe, Hopp-Frosch gelesen und interpretiert von Peter Bieringer

http://www.peter-bieringer.de/hoerspiel

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KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora – neue Ausstellung wird eröffnet (2006)

Die Sendung wurde am 9. September 2006 im StadtRadio Göttingen ausgestrahlt

Interview anlässlich der Eröffnung der ständigen Ausstellung „Konzentrationslager Mittelbau-Dora 1943-1943 am 10. September 2006 mit dem KZ-Gedenkstättenleiter [Anm.: bis Herbst 2014] Dr. Jens-Christian Wagner

Ingeborg Lüdtke:

Warum heißt die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora?

Dr. Jens-Christian Wagner:

Mittelbau-Dora in dieser zusammengesetzten Form ist eigentlich kein Quellenbegriff. Dora war zunächst ein Außenlager von Buchenwald, das im Herbst 1943 Mittelbau-Doragegründet wurde. Im Jahr darauf, im Herbst 1944 wurde das Lager Dora mit anderen Buchenwalder Außenlagern im Südharz zum selbstständigen KZ Mittelbau, das heißt es wurde aus der Verwaltung Buchenwalds herausgenommen. Es wurde das letzte eigenständige Konzentrationslager der Nationalsozialisten.

Ingeborg Lüdtke:

Wodurch unterscheidet sich das KZ-Mittelbau-Dora von anderen KZ´s ?

Dr. Jens-Christian Wagner:

Es unterscheidet sich zum einen erstmal dadurch, das es erst sehr spät gegründet wurde. Es hat ja nur 1 ½ Jahre existiert. Es wurde mit dem Ziel gegründet, die Arbeitskraft seiner Insassen in der Rüstungsindustrie auszubeuten. Das heißt wir verstehen Mittelbau-Dora als Modellfall der KZ-Zwangsarbeit. Diese KZ-Zwangsarbeit hatte diverse Folgen: unter anderem dass überall im Reich Außenlager in der Nähe von Rüstungsbetrieben gegründet wurden, in denen KZ-Häftlinge Zwangsarbeit verrichten mussten. Durch diese vielen Außenlager drang das KZ-System immer stärker in die Gesellschaft ein, das heißt die deutsche Kriegsgesellschaft war in den letzten 1-2 Kriegsjahren durchdrungen vom KZ-System.

Ingeborg Lüdtke:

Warum wurde eine neue Dauerausstellung notwendig?

Dr. Jens-Christian Wagner:

Eine umfassende Gesamtschau zur Geschichte des KZ Mittelbau-Doras hat es bis lang noch nicht gegeben. Es gab eine alte DDR-Ausstellung, die natürlich in dem Geschichtsbild der SED verhaftet war. Sie wurde 1993 geschlossen. 1995 wurde sie durch eine immer nur als MittelbauDora 054provisorisch verstandene Ausstellung in einer Baracke zum 50. Jahrestag ersetzt.
Die Ausstellung beruhte weder auf neuen Forschungen noch auf Recherchen für neue Exponate. In den folgenden 10 Jahren haben wir erhebliche Forschungen in internationalen Archiven angestellt und viele neue Exponate auf der Welt recherchiert. Auf Grundlage dieser völlig neuen Quellenlage haben wir diese Ausstellung völlig neu bearbeitet. Im Grunde ist es jetzt so, dass wir das erste Mal eine ständige Ausstellung eröffnen, die einen gesamten Überblick auf die Geschichte Mittelbau-Doras vermittelt.

Ingeborg Lüdtke:

Was wird in der Ausstellung gezeigt?

Dr. Jens-Christian Wagner:

Wir versuchen auch die KZ-Zwangsarbeit übergreifend zu zeigen. Es ist keine Regionalausstellung im engeren Sinne, sondern eine Ausstellung, die das Spezifikum Mittelbau-Doras – nämlich das Modell KZ-Zwangsarbeit – exemplarisch ausbreitet und damit auch für Besucher aus Süddeutschland, Norddeutschland oder aus den Vereinigten Staaten interessant ist. Insgesamt haben wir eine narrative Struktur über Biografien und zwar nicht nur in Bezug auf ehemalige Häftlinge, sondern auch gerade in Bezug auf die Täterschaft. Es ist ohne hin einer unserer zwei Schwerpunkte, dass wir versuchen die Menschen zu zeigen, die mit dem Konzentrationslager zutun hatten, die einen freiwillig und die anderen gezwungenermaßen. Die Biografien der Häftlinge geben einen mehr oder weniger repräsentativen Querschnitt durch die Bandbreite der Verfolgung. Es werden politische Häftlinge vorgestellt: deutsche, französische Häftlinge, polnische, russische, jüdische Häftlinge. Es werden aber auch Häftlinge vorgestellt, die aus anderen Gründen verfolgt wurden, zum Beispiel weil sie vermeintlich kriminell waren. Der dritte Punkt ist, dass wir uns ganz stark thematisch der Täter- und Mittäterschaft widmen. Das ist ein Novum in Ausstellungen in deutschen KZ-Gedenkstätten, die bislang immer sehr stark, berechtigter Weise natürlich, opferzentriert gewesen sind. Die Häftlinge wurden in den Mittelpunkt gestellt, was aus moralisch ethischer Sicht gerechtfertigt ist. Das bringt aber aus historiografischer Sicht eine Schieflage. Meines Erachtens muss sich die Post-Tätergesellschaft, denn das ist die deutsche Gesellschaft, mit den Tätern auseinandersetzen. Das versuchen wir ganz stark in der neuen Ausstellung zu machen.

Ingeborg Lüdtke:

Die Dauerausstellung beschäftigt sich aber auch mit den Deutschen, die in der Umgebung der Lager gewohnt haben und den Häftlingen nicht halfen. Welche Fragen werden in der Ausstellung gestellt?

Dr. Jens-Christian Wagner:

Was war die Motivationsstruktur erstens Häftlingen feindselig gegenüber zu treten, zweitens das NS-System tatsächlich bis zum letzten Tag weitgehend zu stützen? Das sind Fragen, die meines Erachtens einen starken Aktualitätsbezug haben, denn es geht ja zum Teil um mentale und auch politische gesellschaftliche Strukturen von heute. Diese können zwar nicht direkt mit dem Nationalsozialismus verglichen werden, aber es gibt gewisse Ähnlichkeiten. Nehmen wir nur den Rassismus, der natürlich ein wesentlicher Beweggrund gewesen ist Häftlingen gegenüber feindselig aufzutreten. Einen latenten, häufig auch einen aggressiven Rassismus erleben wir auch heute noch. Das sind meines Erachtens Fragen, die sehr viel stärker geeignet sind einen Aktualitätsbezug zu heute herzustellen, als sich in KZ-Gedenkstätten mit dem Völkermord in Ruanda auseinander zu setzten. Wir geraten da sehr schnell in die Gefahr ein singuläres Verbrechen zu relativieren.

© Copyright Ingeborg Lüdtke

Literaturhinweis:

Jens-Christian Wagner, Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora. Hrsg. Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Wallstein Verlag 2001

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Konferenz „Topographie der Erinnerung“ – Gedenken und Erinnern in Südniedersachsen

Die Sendung wurde am 21. April 2009 im StadtRadio Göttingen ausgestrahlt.

ehemaliges KZ Moringen

ehemaliges KZ Moringen

Am 21. März 2009 fand in Moringen in der LKH Moringen [Anm.:Landeskrankenhaus] die Konferenz „Gedenken und Erinnern in Südniedersachsen“ statt.

Gefördert wurde die Konferenz von der Amadeu-Antonio-Stiftung und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Das Ziel der Konferenz „Gedenken und Erinnern in Südniedersachsen“ war es Initiativen und Einzelpersonen zusammen zu führen, die sich mit den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinandersetzen.

Einzelne Projekte wurden den Teilnehmer vorgestellt.

Dr. Dietmar Sedlaczek, der Leiter der KZ Gedenkstätte Moringen und seine Kollegin Julia Braun begrüßten die Konferenzteilnehmer.

Auch Dr. Nader von der Amadeu-Antonio Stiftung übermittelte einige Grußworte.

Danach wurde es erstmal recht wissenschaftlich.

Dr. Habbo Knoch referierte über die veränderten Aufgaben der Gedenkstätten. Seine Ausführungen standen unter dem Motto „Vom Ort der Tat zum Raum des Erinnern.“

Marc Czichy stellte das Göttinger Aktions Bündnis „Gedenken an die Opfer des NS 27. Januar“ vor. Er war einer der Mitbegründer des Bündnisses. Das Bündnis „Gedenken an die Opfer des NS 27. Januar” war eine Reaktion auf die Einsetzung des „Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus“ am 27. Januar von dem damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog im Jahre 1996.

Dr. Hilko Linnemann von der Kreisvolkshochschule Holzminden stellte die geplante Ausbildung zum Geschichtsmoderator im Landkreis Holzminden vor.

Jutta Henze von der Realschule Delligsen sprach über die Schüler-AG Spurensuche im Hils.

Aufgelockert wurde das Programm durch Dr. René Mounajed. Er überraschte mit einem Plädoyer für Comics im Geschichtsunterricht.

Der Historiker Günther Siedbürger von der Geschichtswerkstatt Duderstadt berichtete über ein internationales EU-Projekt. Das Projekt ist eine Wanderausstellung mit dem Arbeitstitel “Europäische Dimensionen der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus“ – Eine Fallstudie über Südniedersachsen – Region Göttingen und Northeim” [Anm.: endgültiger Titel „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit – Südniedersachsen 1939 – 1945]. Die Geschichtswerkstätten Göttingen und Duderstadt e.V. sind daran beteiligt.

Firouz Vladi rundete mit seinem Beitrag die Konferenz „Gedenken und Erinnern in Südniedersachsen“ ab. Er befasste sich mit dem geplanten Rad-Wander- und Gedenkweg zur Helmetalbahn. Firouz Vladi vertrat Arbeitgemeinschaft Spurensuche in der Südharzregion.

Diese Arbeitsgemeinschaft hat sich inzwischen aufgelöst. Die Arbeitsergebnisse wurden der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora übergeben.

Zwischen den einzelnen Beiträgen gab es auch genug Zeit für Diskussionen und Gespräche.

In der Abschlussrunde wurde vereinbart, dass eine gemeinsame Internetseite eingerichtet werden soll. Diese Internetseite soll die einzelnen Projekte der Teilnehmer aufzeigen.

Außerdem wurde angeregt, sich 1-2 Mal im Jahr zu treffen.

Soweit zu der Moringer Konferenz „Gedenken und Erinnern in Südniedersachsen“ am 21.März 2009.

(c) Ingeborg Lüdtke

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KZ Neuengamme

Das Interview mit dem KZ-Gedenkstättenleiter Dr. Detlef Garbe von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme wurde am 24.11.2003 im StadtRadio Göttingen ausgestrahlt.

Ingeborg Lüdtke:

Dr. Detlef GarbeHerr Dr. Garbe, von wann bis wann bestand das KZ Neuengamme und welche Häftlingsgruppen gab es?

Dr. Detlef Garbe:

Das Konzentrationslager Neuengamme ist im Dezember 1938 als Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen in der Nähe Hamburgs, in den Hamburger Landgebieten eingerichtet worden. Im Januar 1940 kam der Reichführer der SS Heinrich Himmler hier her und beschloss bei dieser Besichtigung, dass Neuengamme zu einem großen, zentralen Konzentrationslager für den norddeutschen Raum erweitert werden sollte. Es wurde dann im Laufe des Frühjahrs 1940 selbstständiges KZ-Hauptlager und bestand bis zur Auflösung im Mai 1945.

Über 100.000 Menschen waren hier inhaftiert. Es waren Menschen, die in das Lager kamen, weil sie in den von der Deutschen Wehrmacht besetzten Ländern Widerstand geleistet hatten. Sie hatten sich gegen die ihnen auferlegte Zwangsarbeit gewehrt. In das Lager kamen auch Menschen, die KZ Gedenkstätte Neuengamme Bearackenmarkierungaus politischen, rassistischen und religiösen Gründen verfolgt worden waren. Unter den über 100.000 Häftlingen befanden sich zu über 90% Menschen aus dem Ausland. Sie kamen vor allem aus der damaligen Sowjetunion, aus Polen, aus Frankreich und dann auf Grund der Lage Neuengammes im Norden Deutschlands, auch aus Belgien, Niederlande und Dänemark.

Ingeborg Lüdtke:

Was war nun das Besondere an dem KZ Neuengamme?

Dr. Detlef Garbe:

Der Zweck des Konzentrationslagers Neuengamme war die Ausnutzung der Arbeitskraft der Häftlinge und zwar unter Bedingungen, die keinerlei Rücksicht auf das Leben nahm. Das heißt, die Menschen wurden sehr schlecht versorgt, ernährt und untergebracht. Aber gleichzeitig wurden sie zu mehr als 12 Std. täglich zu sehr schwerer Arbeit eingesetzt. Sie arbeiteten vor allem im Abbau von Ton und in der Produktion von Klinkersteinen. Das war anfangs der Hauptzweck des Konzentrationslagers Neuengamme. Ab Mitte des Krieges kam die Rüstungsproduktion hinzu. Zunächst arbeiteten sie in Fabriken, die auf dem Gelände des KZ selbst entstanden. Die Häftlinge waren vor allem aber für die Waffenfirma Walther tätig. Später mussten sie aber auch im Bereich der U-Boot-Teile-Fertigung arbeiten und auch Zünder für Flakgranaten herstellen.

Ab 1942 entstanden eine Vielzahl von Außenlagern in den industriellen Ballungsgebieten Norddeutschlands, wie in Hamburg, Bremen, Braunschweig, Salzgitter. In den Außenlager sind die Häftlinge vor allem bei Firmen und auf Werften zu Zwangsarbeiten in der Rüstungsproduktion eingesetzt worden. Insgesamt zählten zum KZ Neuengamme 86 Außenlager.

Ingeborg Lüdtke:

Warum ist das KZ Neuengamme weniger bekannt als zum Beispiel das KZ Bergen-Belsen und wie ging es nach 1945 weiter?

Dr. Detlef Garbe:

Das Konzentrationslager Neuengamme ist, obwohl es mit über 100.000 Häftlingen und über 80 Außenlagern eines der großen Konzentrationslager auf deutschen Boden ist, weniger bekannt als Buchenwald, DachauHaupteingang KZ Neuengamme und Bergen-Belsen.

Der Grund dafür ist, dass hier am 5.Mai 1945, als britische Truppen das Lager betraten, das Lager vollständig geräumt war. Von Neuengamme gibt es also nicht die Aufnahmen von zu Skeletten abgemagerten Menschen und Leichenbergen, die es von Buchenwald, Bergen-Belsen oder Dachau bei der Befreiung gibt. Und diese Aufnahmen haben sehr stark das Bild und die Bekanntheit der jeweiligen Lager geprägt. Denn von Neuengamme waren die letzten 30.000 Häftlinge vor allen in die Sterbelager Bergen-Belsen, Sandbostel und Wöbbelin transportiert worden. Die letzten über 10.000 Häftlinge des Stammlagers kamen auf Schiffe, die als schwimmende Konzentrationslager genutzt worden. Das bekannteste Schiff ist die „Cap Arcona“, die dann tragischerweise am 3. Mai 1945 durch britische Jagdbomber versenkt worden ist, weil sie dieses Schiff für einen Truppentransporter hielten. Das Lager Neuengamme konnte, da es die Verbrechen verbarg, die sich an diesem Ort zugetragen hatten, ungeachtet moralischer Bedenken sehr bald weitergenutzt werden. Zunächst brachten die britischen Besatzungsbehörden hier Kriegsgefangene und dann Internierte unter, also vor allem Funktionsträger der Nazi-Partei und anderer Nazi-Organisationen. Ab September 1948 befand sich auf dem Gelände, nach Rückgabe an die Stadt Hamburg, ein Gefängnis. Dieses Gefängnis bestand fast 55 Jahre und erst im Juni des Jahres 2003 wurde der Gefängnisbetrieb eingestellt und die zahlreichen noch erhaltenen KZ-Gebäude an die Gedenkstätte übergeben.

© Ingeborg Lüdtke

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Bilder: mit freundlicher Genehmigung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme

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Frauen gegen Hitler – Interview mit Dr. Martha Schad

Am 19. November 2001 las die Historikerin Dr. Martha Schad in der Deuerlichschen Buchhandlung am Campus aus ihrem Buch “Frauen gegen Hitler“.

Vor der Lesung beantwortete Frau Dr. Schad noch einige Fragen.Deuerlich am Campus S760>

Ingeborg Lüdtke:

Frau Dr. Schad, Sie haben das Buch „Frauen gegen Hitler“ geschrieben. Was ist das Besondere an dem Buch?

Dr. Martha Schad:

Das Besondere an dem Buch ist, dass meine Zeitzeuginnen, die ich noch befragen konnte, inzwischen doch ältere oder sogar sehr alte Damen sind und das es ganz wichtig war, diese Frauen, die soviel Schreckliches erlebt haben, noch einmal zu Wort kommen zu lassen.

Ingeborg Lüdtke:

Welche Frau ist Ihnen denn ganz besonders an Herz gewachsen?

Dr. Martha Schad:

Also wenn ich ehrlich bin, ist es beim Schreiben oder auch bei den Forschungen in den Archiven immer die Frau, über die ich forsche oder über die ich schreibe. Und dann kristallisieren sich natürlich einige Sachen heraus. Ich würde mal eine Frau nennen, deren Leben bisher wenig beachtet wurde: Die Elisabeth von Thadden. Eine junge Frau, die aus einem pommerschen Gut stammt und die sich zur Lehrerin ausbilden lässt und in Wieblingen bei Heidelberg ein Mädchenlanderziehungsheim gründet. Eine Frau, die anfänglich dem Nationalsozialismus gar nicht so abgeneigt war. Die durchaus bereit war, sich damit mal auseinander zu setzen. Ihre Gedanken waren sogar mal dahingehend in die Partei einzutreten. Sie lernt aber dann eine der großen Frauen gegen den Nationalsozialismus kennen: Ricarda Huch. Und das Ende ihres Lebens ist für Elisabeth von Thadden die Hinrichtung in Plötzensee.

Ingeborg Lüdtke:

Sie werden heute Abend auch etwas über die Kommunistin Hilde Coppi lesen. Was können Sie uns denn über sie berichten?

Dr. Martha Schad:

Die Hilde Coppi ist auch eine Frau, die mir sehr an Herz gewachsen ist. Sie gehört zur Widerstandsgruppe um Harro Schulze-Boysen, die von der Gestapo „Die Rote Kapelle“ genannt wurde. Ich habe in meinem Buch ein Kapitel, in dem ich mich [mit den Fragen] auseinandersetze: „Wieweit geht die Mutterverehrung in der NS-Zeit? Was geschieht mit Frauen, die sich nicht regimegetreu verhielten?“ Diese Frauen wurden nämlich nicht mit dem Mutterkreuz ausgezeichnet, sondern die wurden hingerichtet. Das ist ein Schicksal das mich sehr berührt hat: Eine junge Frau hochschwangere Kommunistin wird mit ihrem Mann zusammen verhaftet. Ihr Mann wird hingerichtet und sie wird [zu Tode verurteilt]. Sie hatte im Gefängnis ihr Kind zur Welt gebracht, ihren Hans. Das Todesurteil hatte den Zusatz, dass sie solange leben darf, wie sie ihr Kind stillen kann. Ich denke, es kann nichts Schlimmeres für eine junge Mutter geben, als zu wissen: „Wenn ich mein Kind nicht mehr ernähren kann, wird es mir weggenommen und ich muss sterben.“

Ingeborg Lüdtke:

Wissen Sie auch, was aus dem Jungen geworden ist?

Dr. Martha Schad:

Ja, es war mir ein großes Anliegen herauszufinden, was aus „Hänschen“ geworden ist. So nennt Hilde Coppi ihren Sohn in einem Brief an ihre Mutter. Ich habe dann versucht – es war ein Geistesblitz – in dem Telefonverzeichnis in Deutschland den Namen Hans Coppi zu finden. Und da stand tatsächlich unter Berlin der Namen Dr. Hans Coppi. Eines Tages habe ich ihn dann angerufen und ich habe mich ihm vorgestellt und ihm gesagt, dass ich ein Buch schreibe. Und da hat er mir geantwortet: „Sie haben mich gefunden. Ich bin das Hänschen.“ Er ist ein Historiker geworden und er hat mir dann erzählt, wie sein Leben weiterging, nachdem ihn seine Großmutter aus dem Gefängnis geholt hat. An die Mutter hat er natürlich keinerlei Erinnerung, aber es gibt ein Foto von ihm als 3- oder 4 Jährigen auf dem Arm seiner Großmutter. Das Bild hat er mir für mein Buch zur Verfügung gestellt. Dafür bin ich ihm sehr, sehr dankbar.

Ingeborg Lüdtke:

Sie berichten ihn Ihrem Buch ja über sehr viele Grausamkeiten. Erleben Sie jetzt beim Schreiben diese Schicksale der Frauen mit oder haben Sie auch einen gewissen Abstand?

Dr. Martha Schad:

Also einen Abstand kann ich nie zu den Personen wahren, über die ich schreibe. Auch wenn ich etwas Schönes, etwas Hübsches schreibe, ich lebe immer mit den Frauen mit, über die ich schreibe. Und es gab Zeiten beim Schreiben, da konnte ich nicht mehr weiterschreiben, weil mich das Schicksal dieser Frauen so berührt hat. Und wieder auf Hans Coppi zurückzukommen: Ich war dieses Jahr [2001] im September in Amerika als dieses schreckliche Unglück am Flughafen in Washington war. Ich wusste nicht, ob ich wieder nach Deutschland zurückkomme. Dieses Erlebnis hat mich sehr traumatisiert. Ich hatte dann anschließend eine Lesung und da konnte ich zum Beispiel die Briefe der Hilde Coppi an ihre Eltern und Schwiegereltern nicht lesen, weil mir die Tränen herunter liefen. Also, ich kann nicht auf Abstand gehen. Und ich will das auch nicht. Es ist manchmal dann schon so, das dieses Schreiben natürlich auch mit in den Schlaf beziehungsweise in die Träume geht. Das nächste Buch, ist ein Buch, das nicht so traurig ist und das ist gut so, weil man sonst [die Last] doch mitträgt. Aber bei dem Buch „Frauen gegen Hitler“, bei diesen Schicksalen denke ich, da muss man mitfühlen und mitleiden, wenn man das in Etwa erfassen möchte, was diese Frauen durch ihren Widerstand auf sich genommen haben. Nicht nur die Frauen, die namentlich genannt wurden, sondern auch die vielen unbekannten Frauen haben vieles auf sich genommen. Sie spielen ja in meinem Buch auch eine Rolle. Über die kann nicht geschrieben werden, weil sie selber kein Zeugnis hinterlassen haben. An die Frauen, die im Volk humanitäre Hilfe, nennen wir das einfach mal so, geleistet haben, an die ist ja auch zu denken. Die brachten ja durch ihre Nächstenliebe, sich, ihre Familie und ihre Kinder auch in Gefahr.

(c) Copyright Ingeborg Lüdtke

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Die Sendung wurde im StadtRadio Göttingen am 7. Dezember 2001 ausgestrahlt

Literaturhinweis:

Frauen gegen Hitler
Vergessene Widerstandskämpferinnen im Nationalsozialismus

Ergänzte und überarbeitete Neuauflage 2010, 272 Seiten mit Abb.

Herbig

Weitere Bücher von Dr. Martha Schad:

– Sie liebten den Führer, München 2009
– Gottes mächtige Dienerin, Schwester Pascalina und Papst Pius XII. , 3-Auflage 2010
– 50 bedeutende Frauen: Von der Antike bis zum 17. Jahrhundert . Wiesbaden 2007
– „Komm und setz dich, lieber Gast“ – Zu Tisch bei Bertolt Brecht und Helene Weigel, München 2005
– Stalins Tochter. Das Leben der Swetlana Allilujewa, Bergisch Gladbach 2005
– Mozarts erste Liebe – Marianne Thekla Mozart. Mozarts Bäsle, Augsburg 2004

Weiterführende Links zum Thema „Widerstand von Frauen“:

http://www.chbeck.de/Geyken-standen-abseits/productview.aspx?product=13040848

http://geschichtsverein-goettingen.de/fileadmin/pdf/neuerscheinungen/2014_Geyken_Buchbesprechung.pdf

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/wir-waren-nicht-viele

http://www.staatsanwaltschaften.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=31001&article_id=106904&_psmand=165

http://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_von_Scheliha

http://de.wikipedia.org/wiki/Rote_Kapelle

http://de.wikipedia.org/wiki/Cato_Bontjes_van_Beek

http://de.wikipedia.org/wiki/Annedore_Leber 

http://www.gdw-berlin.de/index.php

http://www.fembio.org/biographie.php

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„Die Besserung“ – Ein Theaterstück der „Stillen Hunde“

Interview mit dem Schauspieler Stefan Dehler von der Theatergruppe „Stille Hunde“ über das Theaterstück „Die Besserung

Da die Zeitzeugen des Jugend-KZ Moringen aussterben, versucht die KZ-Gedenkstätte MoringenKZ Gedenkstätte Moringen S760>
neue Wege der Erinnerung zu gehen. Jugendlichen soll vermittelt werden, dass im Jugend-KZ Moringen ganz normale Jugendliche inhaftiert waren, die mit dem damaligen politischen System aus unterschiedlichsten Gründen nicht konform gingen. Die Jugendlichen sollen sich bewusst werden, dass die ehemaligen Inhaftierten zum Teil noch leben, auch wenn sie schon sehr alt und krank sind.

Das Theaterstück „Die Besserung“ handelt von zwei Jugendlichen, die in das Jugend-KZ Moringen
ehemaliges KZ Moringenkamen und in ihrem späteren Leben nie mit ihren Söhnen über das Lagerleben gesprochen haben. Franz, einer der beiden ehemaligen Inhaftierten, ist schwer krank und wird sterben. Er schreibt einen Brief an seinen Freund, mit dem er im Jugend-KZ war. Sein Sohn soll den Brief überbringen. Er trifft auf den Sohn des Freundes, der ihm erzählt, dass sein Vater verstorben ist. Dieser öffnet zögernd den Brief an seinen Vater und erfährt zum ersten Mal von der Inhaftierung seines Vaters im Jugend-KZ Moringen.

Das Stück zeigt in einen Rückblick die Gründe, die zur Inhaftierung dieser beiden
Jugendlichen führten, aber auch etwas über die Ausbeutung der Jugendlichen durch Zwangsarbeit, die tägliche Gewalt, die Strafen und über die kriminalbiologische Selektion des Dr. Dr. Robert Ritters.

Die Theatergruppe „Stille Hunde“ hat in Kooperation mit der KZ Gedenkstätte Moringen auf Grundlage von Zeitzeugenberichten dieses Theaterstück entwickelt und für die Aufführung im Klassenzimmer konzipiert.

stille_hunde_PRESSEFOTO_Die_Besserung_4Das Zwei-Mann-Stück wird von Christoph Huber und Stefan Dehler gespielt.

Stefan Dehler war bereit einige Fragen zu beantworten.


Ingeborg Lüdtke:

Warum haben Sie sich entschieden dieses Theaterstück zu spielen?


Stefan Dehler:

Ja, wie immer oder so oft im Leben gibt es Gründe und Anlässe. In diesem Fall gab es zwei gute Gründe ein solches Theaterstück zu produzieren und einen Anlass, der das Ganze dann tatsächlich auch ins Rollen gebracht hat. Der erste Grund, den ich nennen möchte ist, dass die Existenz dieses ehemaligen Konzentrationslagers in Moringen erstaunlicher Weise auch hier in der Region gar nicht so bekannt ist. Also ich haben mit einer Reihe von Geschichtslehrern und -lehrerinnen gesprochen, die von der Existenz dieses sogenannten Jugendschutzlagers in Moringen nichts wussten. Ich selbst bin vor neun Jahren nach Göttingen gekommen und hatte auch noch nie von Moringen gehört. Das heißt, ich wusste, dass es eine Stadt dieses Namens gibt, aber mehr auch nicht. Also dieser besondere Fall, diese Geschichte Moringens, die kannte ich nicht. Also es ging jetzt darum ein Stück Regionalgeschichte wieder bekannt, wieder erlebbar zu machen. Das ist das Eine. Das Andere ist, da spreche ich jetzt sicherlich eher im Namen der Gedenkstätte, dass neue Wege der Gedenkstättenpädagogik begangen werden müssen, weil die Zeitzeugen langsam so alt werden, dass sie eben nicht mehr mitarbeiten können. Auf der Mitarbeit der Zeitzeugen basiert natürlich ein Großteil der pädagogischen Arbeit der Gedenkstätte. Also gab es von Seiten der Gedenkstätte auch Interesse, etwas Neues zu finden, was anstelle dieser Augenzeugenberichte treten kann. Diese Lücke, dadurch entsteht, dass Leute einfach zu alt sind, um an diesen Foren teilzunehmen und in die Schulklasse zu kommen, die wird nie ganz geschlossen werden können. Das ist klar und deshalb suchten wir nach einem Weg, der diese Art von Arbeit eben so halbwegs plausibel und auch funktionierend ersetzen kann. Der Anlass war: Der Landschaftsverband Südniedersachen hat einen Förderschwerpunkt ausgeschrieben in der Jugendbildung. Da ging es darum, dass eine Bildungseinrichtung mit Künstlern zusammen arbeiten sollte, um ein Projekt für Jugendliche anzuschieben. Wir haben uns dann zusammengesetzt, also Christoph Huber und die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von der Gedenkstätte, allen voran die Annegrit Berghoff und der Dietmar Sedlaczek und dieses Projekt erfunden.


Ingeborg Lüdtke:

Was empfinden Sie als Schauspieler, wenn Sie in die Rolle des Dr. Ritter schlüpfen? Ist das jetzt auch ein Stück mit dem Sie sich in dem Moment identifizieren oder wie läuft das?


Stefan Dehler:

Das ist eine sehr interessante und recht schwierig zu beantwortende Frage. Es ist sicherlich so, dass weder der Christoph Huber etwas mit diesem Vater zutun hat oder auch zutun haben möchte, noch ich mit dem sehr sehr fragwürdigen Dr. Ritter. Es sind nicht unsere Worte. Es sind nicht unsere Gedanken. Es spiegelt auch überhaupt nicht unsere Einstellung. Also das ist uns tatsächlich sehr fremd. Das ist aber im schauspielerischen Beruf gar nicht so selten. Also man wird mit vielen Rollen, Lebensentwürfen, Gedanken, Situation konfrontiert mit denen man in seinem persönlichen Bereich nichts zutun hat. Also Dinge, die man auch überhaupt nicht mit seiner Lebenserfahrung überein bringen kann. Das ist einfach so. Das ist auch gut so. Natürlich muss eine solche Figur dann schon auch verstehen. Also man muss wissen, warum sagt eine Figur wie der Vater: „Ich werde dich totschlagen, wenn es nottut.“

Warum sagt der Dr. Ritter: „Ich mag dich Franz. Es tät mir Lied, wenn das genetische Material verschwendet würde.“ Was sind die Gedanken dahinter. Es ist aber tatsächlich so, dass man sich mit diesen Ideen, diesen Motiven beschäftigt, wie man sich mit etwas völlig Fremden beschäftigt. Man geht mit einer gewissen Neugier daran, mit einer gewissen, ich sag mal, Unbefangenheit auch, weil man weiß. Für den Moment ist es wichtig, dass das auch überzeugend klingt. Selbstverständlich distanzieren wir uns als Privatperson von diesen Äußerungen. Das ist klar. Im Rahmen der Berliner Festspiele gibt es ein Jugendforum und dorthin kam ein koreanischer Theatermacher, der auch als Ausbilder arbeitet. Der sagte während des zweiwöchigen Seminars einen schönen Satz: „Ein richtig guter Schauspieler muss auch lügen können, mit der Lüge leben oder die Lüge akzeptieren können.“ Das trifft es natürlich schon auch. Also natürlich lügt man eine Moment lang [lacht], wenn man in eine Rolle schlüpft und überzeugend verkörpert: „Ich denke jetzt so, deswegen rede ich so, deswegen handle ich so.“ Mich als Privatperson gefragt, muss ich sagen: „Ich empfinde eher Abscheu vor einer solchen Figur, wie die des Dr. Ritter.“

Ingeborg Lüdtke:

Wie reagieren denn die Schüler, wenn Sie so mitten im Klassenzimmer Ihre Rollen spielen? Das ist ja quasi auf engsten Raum, was da passiert?

Stefan Dehler:

Wir haben unterschiedliche Reaktionen. Es gab jetzt gerade in einer der zurückliegenden Vorstellungen mal einen Moment lang scheinbar bei den Schülern das Gefühl, dass es sich um etwas handelt, woran sie teilnehmen könnten. Also die reagierten auf das Klopfen an der Tür, was den Beginn der Handlung darstellt, mit „Herein“ [lacht], also noch bevor ich das sagen konnte. Oder „Guten Morgen“ oder so etwas wurde dann auch gesagt. Den meisten war noch nicht klar, dass es sich um einen Kunstvorgang handelt, in den sie gar nicht eingeweiht sind. Also können sie logischerweise gar nicht richtig mitmachen, aber das war so eine spontane Reaktion. Das haben wir allerdings sehr selten. Im Nachgespräch haben uns oft Schüler und Schülerinnen gesagt, dass sie sich manchmal angesprochen gefühlten, wenn zum Beispiel der Vater des Franz hinter ihrem Rücken sehr laut und sehr aggressiv agiert, dass sie sich angesprochen fühlen, wenn zum Beispiel der Heimleiter oder nachher der Dr. Ritter sie anschaut bzw. mit den Blick nur streift. Dass sie sich unbehaglich fühlen bei dem Gedanken, dass solche Menschen plötzlich eine Urteil über sie fällen und ihre weitere Zukunft bestimmen könnten. Ansonsten zeigt unsere Erfahrung, dass die Schüler sehr konzentriert sind, sehr ruhig sind und schon auch differenzieren können, ob sie gemeint sind und wann sie gemeint sind und dann auch doch recht damit viel zutun haben die Dramaturgie dieses Stückes zu verstehen. Ich will das nicht als Schwierigkeit beschreiben, aber es ist so, dass es die Aufmerksamkeit der Schüler und Schülerinnen sehr in Anspruch nimmt. Man muss ja doch diesen vielen Schauplatzwechseln, diesen Zeitsprüngen folgen und das zwingt einen auch immer ein bisschen in die Distanz. Das verhindert eine totale Einfühlung. Das ist allerdings auch ein Effekt, den wir schon bei Konzeption des Stücks mit bedacht haben. Wir wollen sicherlich Empathie für die Opfer, aber wir wollen keine Einfühlung, die dann den Blick auf das große Ganze, also beispielsweise den geschichtlichen Ablauf verhindert.

Ingeborg Lüdtke:

Welche Reaktion auf das Theaterstück hat Sie besonders bewegt?

Stefan Dehler:

Diese Frage ist leicht zu beantworten. Es hat sehr viele sehr unterschiedliche Reaktionen gegeben, zumeist positive. Die Reaktionen bezogen sich allerdings immer auf besondere Aspekte. Für mich waren sicherlich die bewegensten Reaktionen, die wir nach der Vorstellung erfahren haben, sie wir vor den überlebenden Häftlingen gespielt haben anlässlich des letztjährigen Treffens [2009] der Lagergemeinschaft. Diese Vorstellung war für uns ohne hin mit einer sehr großen Anspannung verbunden, weil wir diese Aufführung als Prüfungssituation empfunden haben. Wir waren ja sicher, dass wir keinen Unsinn erzählen. Wir waren auch überzeugt davon, dass wir die Zeitzeugenberichte angemessen verarbeitet haben. Aber uns war schon auch klar, es ist einfach eine Unterschied, ob man vor Leuten spielt, die noch nie etwas davon gehört haben, die uns also mehr oder weniger unbesehen glauben müssen oder vor Leuten deren Geschichte das ist. Die im Fall Moringen die kompetentesten Zuschauer sind. Da hat mich die herzliche Zustimmung, so würde ich das mal beschreiben, sehr berührt. Natürlich mischt sich da eine Erleichterung in das Gefühl hinein, aber ich hatte auch das Gefühl oder das Empfinden, dass die ehemaligen Häftlinge, die sich da nach der Vorstellung geäußert haben, uns ihre Geschichte sozusagen als Erbe anvertraut haben: „Das dürft ihr machen, weil es in unserem Sinne ist. Das ist nicht ganz unsere Geschichte“. Einer sagte auch: „ Das war viel, viel schlimmer als eine Theaterstück das beschreiben kann, aber es ist wichtig, dass es jemand tut und da wir es nur noch ein paar Jahre lang machen können, muss es andere Menschen geben, die diese Erzählungen weitertransportieren und wenn es halt mit den Mitteln des Theaters ist.“ Das hat mich insofern eben angerührt, dass ich dachte: Das hat das Theater tatsächlich noch eine ganz besondere existenzielle Bedeutung für jemand. Also nicht nur für uns als Darsteller, sondern auch für Menschen deren Geschichte da erzählt wird [Ende des Interviews].

Auch die Zeitzeugen waren sichtlich von dem Theaterstück „Die Besserung“ bewegt. Alfred Grasel aus Österreich sagte nach der Aufführung:

„Ein grandioses Werk und es erinnert sehr stark. Zu Beginn habe ich Tränen gehabt. Sie haben mich wieder soweit gebracht, dass ich mich erinnere. Es war eine furchtbare Zeit.

Hans Becker: „Da sind Sachen, die wohl nicht in dem Stück vorkommen. Das Stück war sehr sehr gut. (Das) hat jeder von uns selbst erlebt, nur war es viel viel schlimmer. Die Stockhiebe, ich kann mich entsinnen waren 25.“

© Ingeborg Lüdtke

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Literaturhinweise und weiterführende Links:


Hans Hesse, Das frühe KZ Moringen (April – November 1933). ”…ein an sich interessanter psychologischer Versuch…”, hrsg. von der Lagergemeinschaft und Gedenkstätte Moringen e.V., Moringen 2003, ISBN 3-8334-0429-9

http://www.gedenkstaette-moringen.de/geschichte/geschichte.html

http://www.hans-hesse.de/html/publizierte_forschungen.html

http://www.martinguse.de/jugend-kz/moeinfuerung.htm

http://www.martinguse.de/jugend-kz/moselektion.htm

http://www1.uni-hamburg.de/rz3a035//robertritter.html

http://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Ritter

http://www.einbecker-morgenpost.de/interessantes-nachricht/items/theaterstueck als-geschichtsunterricht.html

(Fotos: Mit freundlicher Genehmigung der Theatergruppe “Stille Hunde”)

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