Über den Tod …

gesendet im StadtRadio Göttingen amt 29. September 2005

Ein guter Bekannter von mir verstarb vor wenigen Wochen ganz plötzlich und unerwartet.Friedhof
Niemand dachte an diesem Abend an den Tod.
Vielleicht haben Sie ja in Ihrer Familie oder im Freundeskreis Ähnliches erlebt.

Was geschieht eigentlich nach dem Tod?
Das ist eine oft gestellte Frage.

Nun wenn man Kardinal Meissners Äußerung auf dem Weltjugendtag in Köln glauben darf, dann ist zumindest Papst Johannes Paul II im Himmel. Er war ein guter Mensch.
Wenn gute Menschen in den Himmel kommen, was passiert dann aber mit den schlechten Menschen?

Kommen sie wirklich alle in die Hölle? Ist es in der Hölle wirklich heiß?
Gibt es tatsächlich die Zigarettenpause in der Hölle, die in Witzen erwähnt wird?

Martin Luther hat das hebräische Wort Scheol mit Hölle übersetzt und dies steht für das menschliche Grab. In Prediger 9:5, 10 (Luther, 1905) heißt es auszugsweise: „Die Toten aber wissen nichts, … denn in der Hölle, da du hinfährest, ist weder Werk, Kunst, Vernunft, noch Weisheit“.

Von einem Ort der Qual ist hier also nicht die Rede.

Was versteht man aber unter dem Begriff Fegefeuer? Es ist der Ort oder Zustand der Seelen, die geläutert werden von ihren Sünden. Nachdem sie geläutert worden sind, kommen sie gemäß der katholischen Lehre in den Himmel.

Anfang des 16 Jahrhunderts musste man Ablässe bezahlen, um einen nahestehenden Menschen aus dem Fegefeuer zu befreien, damit seine Seele in den Himmel kommt.
Der Dominikaner Tetzel reiste umher und prägte den Satz: „ … denn sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt.“
Von diesen Geldern wurde allerdings u.a. der Bau von Klöstern, Krankenhäusern, einer Elbbrücke und sogar die Peterskirche in Rom finanziert.
Martin Luther prangerte dieses Verhalten der katholischen Kirche an. Für ihn hatte das Bezahlen des Ablasses keinen Wert.

Gibt es die unsterbliche Seele aber wirklich?
Was ist die unsterbliche Seele?
Ist es wirklich ein Teil von einem Menschen, der beim Tod in den Himmel geht?
Öffnen nicht deshalb einige das Fenster nach dem Tod, damit die Seele entweichen kann?
Allerdings sagte schon der Pathologe Prof. Rudolf Virchow, er habe schon viele Leichen seziert, aber er habe nie eine Seele entdeckt.

Der Glaube an eine unsterbliche Seele ist nicht neu.

Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele war schon in Babylon bekannt. Babylon wird als der Geburtsort der Lehre bezeichnet.

Auch die Ägypter glaubten an ein Weiterleben nach dem Tod. Sie gaben ihren Königen nicht nur Essen, sondern auch lebende Sklaven mit in das Grab. Die Sklaven wurden eingemauert, damit sie dem Toten dienen könnten.

Auf ägyptischen Holzsärgen wurden sogar Landkarten und Augen gemalt, um Verstorbene zu leiten.
Werkzeuge und persönliche Wertgegenstände wie Schmuck wurden dem Toten mitgegeben.
Man nahm an, die Toten würden sich in einem künftigen Leben darüber freuen.
Leider haben sich nicht nur die Archäologen, sondern auch die Grabräuber über diese Wertgegenstände gefreut.

Auch in der alten chinesischen Mythologie kannte man den Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod.
Man stellte sich die Ahnen als mächtige Geister vor, die sehr am Wohl ihrer lebenden Nachkommen interessiert waren. Sie konnten äußerst zornig werden, wenn ihnen etwas missfiel.
Man wollte den Toten alles so angenehm wie möglich machen. Einige Könige der Shang-Dynastie bekamen deshalb 100 bis 300 Personen als Diener mit ins Grab. Diese Diener wurden zuvor geopfert und mit begraben.

Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele führte also auch noch zu Menschenopfern.

Von früherer Zeit an lehrte man im Hinduismus ebenfalls, dass beim Tod die Seele überlebt.
Auch hier findet man den Brauch, den Toten Lebensmittel mit ins Grab zu legen. Später kam noch der Glaube an die Seelenwanderung dazu.
Je nach dem, ob man gute oder schlechte Taten in einem Leben vollbrachte, wurde man im nächsten Leben bestraft oder belohnt.
Später kam noch eine neue Variante dazu. Das höchste Ziel eines Hindus war die Befreiung vom Kreislauf der Seelenwanderung, um mit dem sog. Allgeist eins zu werden.
Dieses erreicht man durch das Streben nach gesellschaftlich akzeptiertem Verhalten und besonderem hinduistischen Wissen.

Die Lehren des Buddhismus sind in vieler Hinsicht dem Hinduismus ähnlich.
Auch hier findet man den Gedanken wieder, dass die Stellung des Einzelnen von den Taten in seinem früheren Leben abhängig ist.
Im Buddhismus gibt es keine persönliche Seele, die beim Tod überlebt. Es wird vielmehr ein Zustand oder eine Kraft aus einem Leben in das nächste Leben weitergegeben.
Das Endziel ist das Erreichen des Nirwanas. Es ist verkürzt gesagt, die Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten und ein Zustand der Nichtexistenz.
Es gibt aber im Buddhismus auch noch diverse Unterschiede in der Lehre.

Im Islam gibt es die Lehre, dass es nach dem Tod einen Gerichtstag geben wird, an dem der Tote vor Allah kommt. Allah bewertet das Leben und entscheidet, ob der Betreffende in das Paradies oder in die Feuerhölle kommt.

Heute wird die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und der Wiedergeburt selbst von den verschiedenen Gruppen des Judentums weitestgehend anerkannt. Diese Lehren gelangten erst in nachbiblischer Zeit durch den Einfluss von griechisch-philosophischem Gedankengut in das Judentum.

Im Judentum kannte man ursprünglich nicht die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. Es gab keine Trennung zwischen Körper und Seele. Die Person wurde als Ganzes betrachtet. Man glaubte an die Auferstehung der Toten als ganze Person.

Die Lehre von der Auferstehung der Toten auf der Erde findet man auch heute noch in der Bibel.

Über den Zustand der Toten heißt es wie bereits vorhin erwähnt in Prediger 9:5,10 (Luther, 1905): „Die Toten aber wissen nichts, … denn in der Hölle, da du hinfährest, ist weder Werk, Kunst, Vernunft, noch Weisheit“.

Ich hoffe diese vielen Gedanken – zugegeben keine einfachen Gedanken – helfen Ihnen beim Nachdenken über das Leben nach dem Tod und spenden Ihnen ein wenig Hoffnung und Trost.

© Ingeborg Lüdtke

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Die Unterdrückung der Frau von Gott gewollt?

– Ein Brief an eine Freundin –

Liebe Dina,

es war richtig schön wieder mal mit Dir so ausführlich reden zu können. Wir sehen uns ja so selten.
Leider musstest Du am Mittwoch so schnell weg. Ich hätte mich gerne noch weiter mit Dir über die Unterdrückung der Frau unterhalten.
Auch war die Frage, ob Gott die Unterdrückung der Frau wollte, höchst interessant.
Die Frage ließ mir keine Ruhe und so habe ich einige Nachforschungen angestellt.
Da ich annehme, dass Dich dieses Thema auch interessiert, dachte ich mir, ich könnte Dir meine Erkenntnisse in Briefform zukommen lassen.

Beginnen möchte ich mit dem oft zitierten Bibeltext aus 1. Mose 3:16.
Ach, Du hast momentan keine Bibel in der Nähe, weil Du gerade gemütlich auf dem Sofa liegst und keine Lust hast aufzustehen?
Kein Problem. Ich lese Dir die Stelle einfach mal aus der Scofield-Bibel vor.

Im 2. Teil der Bibelstelle heißt es: „Nach Deinem Mann wird dein Verlangen sein, er aber wird über dich HERRSCHEN.“
Die Interlinear-Übersetzung von Steurer sagt: “Er wird herrschen über Dich“.
Die Lutherbibel sagt „und er soll Dein HERR sein“.
Zu dieser Übersetzung erhielt ich vor 11 Jahren mal einen Brief eines Doktors der Mathematik. Ich lese Dir die Passage aus seinem Brief am besten vor:

Er schreibt: „Übrigens, im ersten Buch Mose, Kapitel 3,16 am Schluss steht ein berühmter Satz, der die Frau eines Buchdruckers im Mittelalter so wurmte, dass sie heimlich an den Setzkasten schlich und aus dem Satz den oft wahreren machte:“ Er soll dein Narr sein“. Niemand merkte das rechtzeitig, der Texte wurde gedruckt, und nun zählt die „Narrenbibel“ zu den bibliophilen Seltenheiten.“

Bisher habe ich noch keine Bestätigung aus Fachkreisen erhalten, dass es tatsächlich eine Narrenbibel gab.
Wie dem auch sei, die Reaktion der Frau des Buchdruckers ist durchaus verständlich.

“Er wird über dich herrschen“. Ist dieser Satz wirklich ein Befehl Gottes über die Frauen zu herrschen?
Bestimmt NICHT.
Vielmehr wird zum Ausdruck gebracht, dass Gott voraussah, wie Männer Frauen später behandeln würden.
Es war niemals der Vorsatz Gottes, dass Männer über Frauen herrschen sollten.

Aus 1. Mose 2:18 erfahren wir, dass Gott Eva Adam als Gehilfin und Gegenstück gab. Andere Übersetzungen sprechen auch von einer Hilfe, die ihm entspricht.
Ein Gegenstück ist gleichwertig, auch muss es nicht unbedingt dieselbe Form haben.
Hm, das Wort Gehilfin bereitet Dir Probleme? So abwertend, wie Du dies verstehst, kann es gar nicht sein.
Das hebräische Wort, das hier mit „Gehilfin“ übersetzt wird, kann auch mit „Helfer“ übersetzt werden.
Oft bezieht sich dieser Begriff auch auf Gott. (Hosea 13:9)

Interessant ist die Stellung der Frau im Alten Israel:

Ach, nun klingelt das Telefon, ich werde nachher weiterschreiben..

(Unterbrechung durch Musik TRACK 11:2:45 Min)

Nun bin ich wieder da:

Also noch einmal:

Interessant ist die Stellung der Frau im Alten Israel:

In dem “Theologischen Begriffslexikon zum Neuen Testament“ heißt es u.a.: “Die Frau …ist, im Unterschied zu ihrer Einstufung in der übrigen orientalischen (Religions)-Welt als Person und als Partnerin des Mannes anerkannt.“

Das hört sich doch wohl schon einmal gut an oder?

Die Art der Stellung der Frau kommt im letzten Buch der Hebräischen Schriften zum Ausdruck, wo der Prophet Maleachi in Kapitel 2: 14 die Frau eines Mannes als „Gefährtin“ oder als seine „Mitgenossin“ bezeichnet.
Na liebe Dina, nun bleibt Dein Auge sicher bei dem Wort „Mitgenossin“ hängen .Jetzt denkst du sicher: “Genossin?Das klingt eher politisch.“
Laut dem „Herkunftswörterbuch“ vom Duden wurde das Wort „Genosse“ bis zum Ausgang des 19.Jhdts. im wesentlichen im Sinne von „Gefährte oder Gleichgestellter“ verwendet. Später wurde dieser Begriff nur noch rein politisch verwandt.

Auch durch das mosaische Gesetz blieb die Würde der Frauen gewahrt und sie hatten viele Rechte und Vorrechte.
Vielleicht kennst Du Sprüche Kapitel 31, da wird nämlich ein Loblied auf die Frauen gesungen,
Der Wert einer Frau wurde weit mehr über den Wert von kostbaren Korallen (also Schmuckstücke) geschätzt.
Aus diesem Kapitel der Bibel erfahren wir auch, das die Israelitin im alten Israel bei weitem „kein Heimchen am Herd“ war. Zur ihrem Aufgabenbereich zählte nicht nur der Haushalt und die Kinderziehung.
Sie konnte auch Grundstücke kaufen und verkaufen, ein Feld bewirtschaften und ein kleines Geschäft führen.
Sie war auch für Worte der Weisheit bekannt.

Wenn man das mit heute vergleicht, war sie doch recht emanzipiert. Sie verdiente dieses Loblied mit Sicherheit!!

Gemäß dem Gesetz mussten Frauen geachtet werden. In den 10-Geboten heißt: “Du sollst Vater und Mutter ehren“(2.Mose 20:12).
Selbst König Salomo ehrte seine Mutter Batheseba.
Von ihm wird in der Bibel berichtet, dass er sich vor ihr erhob und sich vor ihr nieder beugte. Ferner ließ er einen 2. Thron holen, damit sie sich zu seiner Rechten setzen konnte (1.Könige 2:19).

Jetzt fragst Du Dich vielleicht, wie es sich aber verhielt, wenn die Frau einen Vorschlag machte oder einen Rat gab?

Nun klingelt es an der Tür. Heute bin ich anscheinend sehr gefragt!

(Unterbrechung mit Musik Track12 Dauer 2:42 Min.)

So, auf ein Neues: Wie verhielt es sich, wenn die Frau einen Vorschlag machte oder einen Rat gab?

Nun der Rat von gottgefälligen Frauen wurde sicherlich geschätzt und sogar befolgt.
Neben wir zum Beispiel Abraham, der wollte allerdings den Rat seiner Frau, nicht befolgen. Gott ließ ihn aber wissen: „Höre auf ihre Stimme.“(1.Mose 21:10-12)
David wurde sogar durch Abigail dringende Bitte davon abgehalten Blutschuld auf sich zu bringen.
Erhörte auf sie, obwohl er (designierter) König war.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Abigail in Eigeninitiative handelte, weil sie nicht mit dem schlechten Benehmen ihres Mannes einverstanden war.

Ein weiteres Beispiel war der König Josia. Er ließ Gott durch eine Frau befragen, nämlich die Prophetin Hulda. (2. Könige 22:11-15)

Ja, und dann gab es noch die Prophetin Debora, die einen Teil eines israelitischen Siegesliedes schrieb. Dies kannst Du in Richter Kapitel 5 nachlesen.

Du siehst liebe Dina, es gibt so viele Anhaltspunkte in der Bibel. dass Gott nicht wollte, dass Männer Frauen unterdrücken.

Ich habe mich heute nur mit dem Alten Testament befasst. Sicher ist es auch noch interessant zu erfahren, wie Jesus Christus, die Frauen behandelte.

Falls Dich dieses Thema interessiert, kann ich mich ja weiter als Bücherwurm betätigen.

Ich hoffe Du meldest Dich bald bei mir.

Tschüß Inge

(c) Ingeborg Lüdtke

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Das Verhalten Jesus Christi gegenüber Frauen gemäß dem Neuen Testament

– Ein Brief an eine Freundin –

Liebe Dina,

schön, dass Dir mein letzter Brief gefallen hat.
Du schreibst: „Es war bestimmt viel Mühe damit verbunden, diesen Brief zu schreiben.“
Wem sagst Du das!
Nun bist Du also ganz gespannt, was ich als Bücherwurm zu dem Thema „Jesus Christus und die Frauen“ herausgefunden habe.
Ich muss zugeben: Ich war auch gespannt!
Du fragst, ob ich auch etwas über die These schreiben werde, dass Jesus Christus verheiratet war und auch Kinder hatte?

Weißt Du liebe Dina, es steht jedem frei zu glauben, dass Jesus Christus verheiratet war und Kinder hatte, aber ich persönlich halte von dieser These nichts, weil ich gläubig bin.
Natürlich habe ich mich damals als ca. 1993 der Wirbel um die Schriftrollen von Qumran begann, mit dem Thema auseinander gesetzt und wohl auch das bekannteste Buch darüber gelesen.
Mir hat der Schreibstil nicht gefallen. Es wurden Behauptungen aufgestellt, aber nicht begründet. Frei nach dem Motto: „So ist es nicht; es ist so.“
Leider hatte ich mir das Buch nur ausgeliehen. Ich hätte mich sonst bestimmt mit Randbemerkungen und Fragezeichen ausgetobt.
Der Ausgewogenheit wegen, habe ich dann noch ein Buch von einem evangelischen und eins von einem katholischen Theologen gelesen. Beide brachten gut fundierte Gegenargumente.
Die meisten Theologen lehnen die These ab, dass Jesus verheiratet war und Kinder hatte.

So weit zu dieser Frage.

Bevor ich mich aber nun dem Verhalten Jesu gegenüber Frauen gemäß dem Neuen Testament widme, möchte ich noch schnell meine Teemaschine anschalten.

(Unterbrechung durch Musik)

So da bin ich wieder.

Ja, was war denn nun das Besondere an dem Verhalten Jesu gegenüber den Frauen?

Die Einstellung der Juden zu den Frauen hatte sich in der Zeit zwischen der Niederschrift des Alten Testaments und dem Auftreten Jesu völlig verändert.
Es hatte sich eine jüdische Religion entwickelt, die mehr auf mündlichen Überlieferungen beruhte, als auf dem geschriebenen Gesetz Gottes.
Vom 4. Jahrhundert vor unserer Zeit an übernahmen die Juden vieles aus der griechischen Philosophie.
Die griechische Philosophie schenkte den Rechten der Frau nur wenig Beachtung und das Ansehen der Frau sank unter den Juden.
Im 3. Jahrhundert vor unserer Zeit trennte man die Frauen in der Synagoge von den Männern.
Dadurch wurde Frauen eine aktive Teilnahme am Gottesdienst verwehrt.
Dies führte dann dazu, dass nur wenige Frauen gebildet waren.

Joachim Jeremias schreibt auszugsweise in seinem Buch „Jerusalem zur Zeit Jesu“.
„Im ganzen wird die religionsgesetzliche Stellung der Frau am Treffendsten ausgedrückt durch die immer wieder begegnende Formel: ,Frauen, (heidnische) Sklaven und (minderjährige) Kinder´… Nimmt man zu alledem hinzu, dass es an missachtenden Urteilen und Stimmungen gegenüber der Frau nicht fehlt, … so hat man den Eindruck, dass auch im Judentum der Zeit Jesu sich die geringe Wertung der Frau auswirkte.“
Er schreibt auch, dass Unterhaltungen mit einer Frau das Missfallen erregte und es als Schimpf für einen Gelehrtenschüler galt, wenn er auf der Straße mit einer Frau sprach.

Wie anders verhielt sich da doch Jesus!

Einen kleinen Moment, ich hole mir nur meinen Tee.

(Unterbrechung mit Musik)

So, da bin ich wieder.

Jesus verhielt sich gegenüber Frauen ganz anders. Er unterhielt sich auch öffentlich mit Frauen, auch wenn dies das Missfallen erregte.
Im Johannesevangelium im Kapitel 4 wird berichtet, dass er sich mit der Samariterin am Brunnen unterhielt. Selbst seine Jünger fanden dies ungewöhnlich. Sie wunderten sich über sein Verhalten. (Johannes 4:27)
Jesu Verhalten gegenüber Frauen muss zu seiner Zeit wirklich revolutionär gewesen sein!!!

Jesus unterhielt sich nicht nur mit Frauen, sondern er lehrte sie auch hochgeistige Dinge. (Johannes 4:7,25,26)
Die Samariterin war zum Beispiel die erste Person, die von ihm erfuhr, dass er der Messias war.
Er sagte dies nicht einem Mann, sondern einer Frau. Dies zeigt, dass er Respekt vor Frauen hatte.
Für ihn war es auch vollkommen in Ordnung, dass eine Frau sich religiös weiterbilden wollte und dabei ihren Herd verließ.

Als er seine Freunde Lazarus, Maria und Martha besuchte, beschwerte sich Martha beim ihm, weil Maria ihr nicht im Haushalt half und ihm lieber zuhörte.
Er sagte Martha aber, Maria habe das „gute Teil erwählt“. (Lukas 10:38-42)
Ein anderes Mal führte er mit Martha ein hochgeistiges Gespräch über die Auferstehung. (Johannes 11:20-27)

Bevor ich nun über Jesu Mitgefühl mit Frauen schreibe, hole ich mir noch eine Tasse Tee.

(Unterbrechung mit Musik).

Der Tee war lecker, die Kekse auch!

Jesu hatte Mitgefühl mit Frauen. Ich denke da an die Frau, die 12 Jahre an einem Blutfluss litt. Sie war deshalb rituell unrein. Trotzdem hielt sie sich in der Menge um Jesus auf und berührte unerlaubt sein Gewand. Für sie war es die letzte Möglichkeit gesund zu werden.
Beschimpfte Jesus sie aber, als er merkte, dass sie ihn als „Unreine“ berührte und auch unerlaubt in der Menge war?
Nein, sondern er sagte mitfühlend und freundlich: „Tochter, dein Glaube hat dich gesund gemacht.“
Das ist übrigens das einzige Mal, dass er eine Frau direkt als Tochter anredete. (Matthäus 9:18-22)
Jesus zeigte bei dieser Gelegenheit bestimmt Mitgefühl und Barmherzigkeit mit Frauen.

Zum Abschluss möchte ich noch auf einen interessanten Gedanken hinweisen.

Gemäß rabbinischer Tradition konnten Frauen nicht als Zeugen vor Gericht aussagen.
Doch wer waren die ersten Zeugen der Auferstehung? Es waren Frauen!!!!

Jesus forderte die Frauen auf seinen Jüngern von der Auferstehung zu berichten.
Wie reagierten die Jünger aber darauf?
Lukas 24:11 berichtet: “Ihnen erschienen diese Reden wie Unsinn und sie wollten den Frauen nicht glauben.“
Vermutlich waren die Jünger auch von der jüdischen Tradition beeinflusst und wollten das Zeugnis der Frauen deshalb nicht glauben.

Jesus dagegen wies die rabbinische Tradition zurück, die den Frauen die Würde nahm.
Er behandelte die Frauen mit Ehre Respekt und Mitgefühl.

So liebe Dina, dies war heute nur ein kleiner Einblick in das Verhalten Jesu gegenüber Frauen.

Mir war früher nie so bewusst gewesen, dass sein Verhalten doch sehr von der Tradition abwich. Ich hatte noch so die emanzipierte Stellung der Frau aus dem Alten Testament im Sinn, als ich begann mich mit dem Neuen Testament zu beschäftigen.

Ich freue mich schon auf Deinen Besuch nächste Woche!

Bis bald.

Tschüß Inge

(c) Ingeborg Lüdtke

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“Marktplatz” im “Bürgerfunk Göttingen” gesandet im StadtRadio Göttingen am 16. Oktober 1998

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Kirchentag der anderen Art in Braunschweig (2003)

10.000 Christen beim Kongress von Zeugen Jehovas (2003) in Braunschweig erwartet.

Was die evangelische Kirche erst vor 54 Jahren geschafft hat, veranstalten Zeugen Jehovas seit 1889: Kongresse, vergleichbar mit dem Evangelischen Kirchentag. Der erste deutsche Kongress fand 1922 in Leipzig statt.

Auch in diesem Jahr (2003) veranstalten Jehovas Zeugen Kongresse in 22 verschiedenen Städten unter dem Motto „Verherrlicht Gott.“ Circa 10.000 Gläubige werden in Braunschweig vom 11. bis 13. Juli 2003 im Stadion an der Hamburger Straße erwartet. Jeweils zu Programmbeginn und Programmende singen die Gläubigen ein Lied und sprechen ein Gebet. Das Programm umfasst Vorträge und Erfahrungsberichte von Gläubigen. Im Mittelpunkt steht die Bibel und die Anwendung der Lehren im täglichen Leben.

Taufe
Besondere Highlights sind die Taufe am Samstagmorgen und das biblische Drama Sonntag früh. Es gibt Taufekeine Kleinkindtaufen mit wenigen Tropfen Wasser, sondern die Täuflinge werden ganz untergetaucht, doch zuvor gibt es noch eine Taufansprache. Das biblische Drama oder Theaterstück spielt meist in alter Zeit und entsprechend sind auch die Kostüme. Dazu bringt „Radio Okerwelle“ eine Sendung. Sie beinhaltet weniger die religiösen Lehren, sondern zeigt die Veränderungen der Kongressorganisation. Früher waren Tausende Helfer für die Verköstigung der Gläubigen in der Cafeteria in Zelten zuständig. Heute bringt sich jeder sein Essen mit. Auch sind die Anfahrtswege zu den Kongressen nicht mehr so weit und die Transportmittel haben sich doch sehr geändert. Früher reisten die Zeugen mit Sonderzügen nach Hamburg oder München, heute fahren sie mehr per Auto oder Bus nach Braunschweig.

Die meisten Gläubigen übernachten heute zu Hause im eigenen Bett, in Hotels oder der Jugendherberge, nur wenige zelten oder campen. In den 60er Jahren war es üblich auf Stroh in Zelten, Tanzsälen oder Schulen zu schlafen, später kam die Ära der Luftmatratzen in Messehallen. Die Kongresse dauerten früher oft eine Woche, heute nur drei Tage.

Das Programm ist kürzer und kompakter geworden, was viele bedauern, ist der Kongress doch dazu da, Freunde zu treffen. Dafür bleibt jetzt weniger Zeit.

In der Sendung erzählen einige Zeitzeugen über ihre Erlebnisse auf Stroh und Luftmatratzen zu schlafen oder welche freiwilligen Tätigkeiten sie so für ihre Glaubensgeschwister ausführten.

Zwei Gläubige berichten über den Besuch von internationalen Kongressen in den USA und Ghana.

Alles in allem ist es für die Gläubigen immer wieder ein Anlass zur Freude, diese Kongresse zu besuchen

© Ingeborg Lüdtke

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Die Sendung wurde am 6. Juli 2003 bei Radio Okerwelle ausgestrahlt

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Leopold Engleitner: „100 Jahre ungebrochener Wille“ (Kurzform)

“Mix Up”- Magazin im StadtRadio Göttingen ausgestrahlt am 11. April 2006

Sprecherin:

EngleitnerKönnen Sie sich vorstellen 100 Jahre alt zu werden?

Und angenommen Sie wären jetzt 100 Jahre alt, auf welchen Lebenslauf könnten Sie jetzt zurückblicken?

Der Österreicher Leopold Engleitner wurde am 23. Juli 2005 hundert Jahre alt.

Er stammt aus St. Wolfgang im Salzkammergut.

Der 100 Jährige stellte am 21. Januar 2006 an der Universität Innsbruck den Film und das Buch “100 Jahre ungebrochener Wille” von Bernhard Rammerstorfer vor.

Der Film „100 Jahre ungebrochener Wille“ zeigt einige Stationen des Lebens von Leopold Engleitner.

Leopold Engleitner ist Kaiser Franz Joseph I. als Kind mehrfach begegnet. Er berichtet:

(O-Ton aus dem Film „100 Jahre ungebrochener Wille“ von Bernhard Rammerstorfer):

„Anlässlich eines Sommerbesuches wollte der Kaiser noch einmal alle Schulkinder von Bad Ischl sehen. Wir mussten daher Spalierstehen vom Bahnhof bis zur Kaiservilla.“ (O-Ton Leopold Engleitner)

Sprecherin:

Im Sommer 1930 nahm der arbeitslose Leopold Engleitner eine Statistenrolle an:

Filmsprecher:

„Im Sommer 1930 war Sankt Wolfgang Schauplatz von Dreharbeiten für den Film ‚Liebling der Götter’. Der Kammersänger, Albert Winkelmann dargestellt von Emil Jannings, kehrte nach einer Südamerika Tournee in seine Heimat zurück. Leopold Engleitner musste ihn als Statist in der jubelnden Menge einen feierlichen Empfang bereiten. Dabei brillierte Hans Moser als Komödiant, während Engleitner in den hinteren Reihen seine Statisten Rolle erfüllte.“ (Film-O-Ton)

Sprecherin:

Aufgrund seiner religiösen Überzeugung als Zeuge Jehovas verweigerte er während des

Nazi-Regimes den Dienst in der deutschen Wehrmacht.

Er kam deshalb in die Konzentrationslager Buchenwald, Niederhagen und Ravensbrück.

Über die erste Zeit im KZ-Buchenwald berichtet er:

„In dem Wachzimmer hat mir das Aufsichtsorgan Fragen gestellt, die unmöglich zu seiner Zufriedenheit beantworten hätte können. Also musste ich mich jetzt über eine Bank hinüber beugen. Dann hat er mich mit einem spanischen Stock kräftig auf den Rücken und Hintern geschlagen. Dabei nahm

er das dünne Ende des Stockes in die Hand und mit dem dicken Ende drosch er auf mich ein. Und weil ihm das auch nicht ausreichte, hat er gesagt: “Ich muss dich erschießen.” Aber er erlaubte mir, noch eine Abschiedskarte nach Hause zu schreiben. Jetzt hat er mir eine Karte hergelegt und wie ich schreiben wollte, hat er mich am Ellbogen immer wieder gestoßen, sodass die Karte voller Gekritzle war. Dann schrie er: „Schau dir diesen Trottel an, nicht einmal schreiben kann er, aber Bibellesen kann er.“ Dann zog er die Pistole ganz umständlich heraus, dass ich Zeit zum fürchten hätte und schließlich setzte er sie mir an die Stirn an und fragte mich: „Jetzt ziehe ich ab, bist du gefasst.“ „Jawohl, ich bin gefasst“, habe ich gesagt. „Nein”, hat er gesagt “Du bist zum Erschießen auch zu blöde.“ (O-Ton Leopold Engleitner)

Sprecherin:

Auch im KZ-Niederhagen in Wewelsburg wurde er schlecht behandelt:

Wewelsburg NordturmFilmsprecher:„Am Bahnhof Wewelsburg, wo er in einem Außenkommando Werkzeug verpacken musste, bekam er die Brutalität der SS wieder am eigenen Leib zu spüren. Am Heimweg musste er sich einem anderen Kommando anschließen. Da er nicht Schritt halten konnte, entstand zwischen ihm und dem Vordermann ein kleiner Abstand. Ein Posten bemerkte das, wurde deshalb wütend und trat ihm von hinten mit dem Stiefel brutal in den Unterleib. Engleitner brach zusammen, krümmte sich vor Schmerzen und konnte sich nicht mehr bewegen.“ (Film-O-Ton)

„Ich konnte nicht mehr gehen. Die anderen Häftlinge mussten mich direkt ins hinein tragen. Beim Appell wurde ich daneben hingelegt. Erst später stellte sich heraus, dass mir dieser Wachtposten den Hoden zertreten hatte.“ (O-Ton Leopold Engleitner)

Sprecherin:

Das KZ- Niederhagen wurde im April 1943 aufgelöst.

Leopold Engleitner kam in das KZ- Ravensbrück.

Ravensbrück Kommandantur„Die Lagerverhältnisse waren in Ravensbrück ganz schlecht. Der Wäschewechsel war sehr selten, sodass wir am ganzen Körper voller Läuse und ganz zerfressen waren und die anderen Häftlinge waren gegen uns Bibelforscher so gehässig, schlimmer wie die SS.“ (O-Ton Leopold Engleitner)

Sprecherin:

Aufgrund der Fürsprache des Bürgermeisters in seiner Heimat wurde er am 15. Juli 1943 aus dem Konzentrationslager Ravensbrück entlassen.

Allerdings musste er sich zur „lebenslangen Zwangsarbeit in der Landwirtschaft“ verpflichten.

Kurz vor Kriegsende – am 17. April 1945 – bekam er noch den Einberufungsbefehl in die Deutsche Wehrmacht.

Leopold Engleitner floh in das Gebirge des Salzkammerguts und versteckte sich in einer Almhütte und in einer Höhle. Wochenlang wurde er von den Nazis gejagt, aber nicht gefunden.

Am 5. Mai 1945 konnte Leopold Engleitner nach Hause zurückkehren

Filmsprecher:

„Diese abenteuerliche Flucht bewahrte ihn vor dem sicheren Tod, denn am Stützpunkt Krummau, wohin er einberufen war, gab es nach einem Angriff der Tschechen keine Überlebenden. Es hatte sich für Leopold Engleitner bezahlt gemacht, dass er selbst unter Todesgefahr nicht von gerechten Grundsätzen abgewichen war. ER ging einen andeeren Weg und konnte so sein Gewissen bewahren. Engleitner stellte mit seinem Leben unter Beweis, dass es möglich war, sich als einfacher Mensch Hitlers Terrorregime zu verweigern. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts wäre in der Tat anderes geschriben worden, hätten mehr Menschen genauso couragiert gehandelt wie Leopold Engleitner. (Film-O-Ton )

© Ingeborg Lüdtke

Der Abdruck der Texte aus dem Film „100 Jahre ungebrochener Wille“ wurde freundlicherweise von Bernhard Rammerstorfer genehmigt.

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Leopold Engleitner verstarb am 21. April 2013.

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Frauen-KZ Moringen, Teil 1

Die Sendung wurde am 26.Januar 2001 im StadtRadio Göttingen ausgestrahlt.

Moringen. Dieses kleine Städtchen liegt einige Kilometer nördlich von der Universitätsstadt Göttingen in Norddeutschland entfernt.“ (Hans Hesse)

(Anfangsgeräusche)

Sprecherin:

Moringen. Auf den ersten Blick eine ganz normale Kleinstadt.

Bei näherem Hinsehen stellt man fest: Moringen hat eine ungewöhnliche Geschichte. Diese Geschichte wird von vielen Bürgern immer noch verdrängt. Nur wenige mögen sich daran erinnern, dass es in Moringen ein KZ gegeben hat. Einmal im Jahr treffen sich ehemalige Inhaftierte in der KZ-Gedenkstätte in Moringen.
So auch wieder im September letzten Jahres (2000).

Die Kommunistin Hilde Faul, eine ehemalige Inhaftierte, sagte über das Erinnern:

„Ja, eigentlich große Erinnerungen an Moringen hat man freilich. Obwohl Sie müssen sich einmal vorstellen wie viele Jahre dazwischen sind und man ist alt, 85 Jahre, da funktioniert die Erinnerung nicht mehr so. Und wenn es funktioniert, dann braucht man lange Zeit bis sich die Erinnerung wieder entwickelt. Nein so schnell geht das nicht mehr.“

Sprecherin:

„Andererseits ist es auch ein Schutz für einen selber, das man viele schlechte Dinge vergessen kann.“

Hilde Faul:

„Ja, das ist ganz automatisch. Aber das was einem wirklich sehr kaputt gemacht hätte, das schaltet man aus, ohne sich das bewusst zu machen. Das schaltet das Gehirn scheinbar sowieso aus.

Sprecherin:

Der 27.Januar wurde von Roman Herzog zu einem Gedenktag erklärt. Der 27. Januar ist ein „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“. Ich möchte Sie deshalb einladen, sich gemeinsam mit mir an das Frauen-KZ Moringen zu erinnern. Erinnern möchte ich durch Gespräche mit Zeitzeuginnen, Historikern und Dokumenten.

(Musik: Eleni Karaindrou „Eternity and a Day“)

Sprecherin:

Werkhaus MoringenIn dem Werkhaus Moringen, mitten in der Stadt gab es seit dem 11.April 1933 ein frühes Konzentrationslager. Eigentlich waren es drei aufeinander folgende Konzentrationslager:

Der Historiker Jürgen Harder bemerkt in seiner Magisterarbeit dazu:

„Die Konzentrationslager in Moringen sind nicht alleine zu betrachten. Sie wurden im Provinzialwerkhaus in Moringen gegründet. Dieses war ein Werkhaus welches bereits lange Jahre zuvor bestand, so dass im April 1933 ein sogenanntes frühes KZ eingerichtet werden konnte. Dieses KZ bestand bis November 1933. Bereits im Sommer desselben Jahres wurden die ersten weiblichen Ravensbrück 039sogenannten Schutzhäftlinge in ein eigens für sie eingerichtete Frauenschutzhaftabteilung inhaftiert. Von Ende 1933 bis Anfang 1938 wurden im den Gebäuden des Werkhauses ein Frauen-KZ unterhalten. Es folgte von 1940 bis zum Ende des sogenannten Dritten Reiches ein Jugend-KZ für männliche Jugendliche. Ein Pendant sozusagen für weibliche Jugendliche bestand in Uckermark bei Ravensbrück.“

Sprecherin:

Wie bereits erwähnt, möchte ich Ihnen speziell über das Frauen-KZ Moringen berichten.

Der Historiker Hans Hesse erklärte zum Frauen-KZ folgendes:

„Dieses erste Frauen-KZ unterschied sich noch ganz erheblich von späteren wie z.B. Ravensbrück oder auch Auschwitz. So gab es in Moringen beispielsweise noch keine Häftlingskleidung und noch keine Winkel…. Und die SS bewachte dieses KZ auch noch nicht. In dieses erste Frauen-KZ kamen aber bereits Frauen, die wir bereits von den späteren Häftlingskategorien kennen. Insgesamt ca. 1350 Frauen in 5 Jahren von 1933 bis 1938.“

(Musik:Lied 171 Siegeslied)

Sprecherin:

Mit Jürgen Harder sprach ich über Gründe, die zur Verhaftung führten.

Sprecherin:

Und warum ist man jetzt als Frau in ein KZ gekommen?

Jürgen Harder:

Dafür gab es vielerlei Gründe. Es waren vielfach Übertretungen gegenüber den nationalsozialistischen Gesetzen und Verordnungen. Aber es konnte auch viel subtiler geschehen. Es reichte bereits in Gegenwart von anderen Personen gegen das Herrschaftssystem dem Führer oder Angehörigen ihres Machtapparates sich negativ zu äußern. Weitere Gründe waren die Verweigerung der Kriegsdienstes bzw. die Unterstützung des Mannes in seiner Intension. Weitere für die Inhaftierung in ein Schutzhaftlager war die politische Betätigung als Kommunistin z.B. oder Sozialdemokratin, grundsätzliche Verweigerungshaltung gegenüber den Machtansprüchen des Staates z.B. den Bibelforscherinnen, die Verweigerung des Luftschutzdienstes. Es gab sogenannte Luftschutzbeauftragte, in jedem Block, der zudem noch durch Blockwarte kontrolliert wurde. Wohnblock ist hiermit gemeint. Da sind verschiedene Arbeiten mit verbunden, die sind rein organisatorischer Art. Das z.B. Wassereimer bereitgestellt werden mussten. Es mussten Übungen abgehalten werden. Als Vorbereitung auf den kommenden Krieg und das bereits viele Jahre bevor der Krieg offiziell wurde. Weitere Gründe für eine Inhaftierung waren Weigerungen zu spenden. Offiziell waren das freiwillige Spenden, aber inoffiziell war es eine Zwangsmassnahme, z.B. für das Winterhilfswerk zu arbeiten und zu spenden, für die verschiedenen Massenorganisationen und der finanziellen Nöte so zu sagen einzutreten. Viele Gründe für die Inhaftierungen leiten sich auch aus den sogenannten Häftlingsgruppen ab.

(Musik: Daniel Kempin, Jüdische Musik)

Sprecherin:

Welche Häftlingsgruppen gab es im Frauen-KZ Moringen?

Jürgen Harder:

„Also in Moringen speziell gab es Kommunistinnen, Sozialdemokratinnen, sogenannte Remigrantinnen, dass waren Jüdinnen und in männlichen Lagern auch Juden, die erst emigriert waren und nach einer gewissen Zeit dachten, die Verhältnisse in Deutschland hätten sich beruhigt und sie könnten zurück in ihre alte Heimat. Die wurden in Haft genommen und in Schutzhaftlager, sprich KZ eingewiesen bis sie entweder wieder abgeschoben bzw. die Abschiebung erkaufen konnten oder halt später in andere Lager mitunter auch in Vernichtungslager abgeschoben wurden. Weitere sind Rassenschänderinnen.“

Sprecherin:

Rassenschänderinnen waren Frauen, die mit Juden verheiratet waren oder eine außerehelichen Beziehung mit ihnen eingingen.

Jürgen Harder:

„Des weiteren kamen Prostituierte dazu, sogenannte Berufsverbrecherinnen, das waren Frauen, die mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt gerieten, die nationalsozialistische Gesetze waren, sprich mehrfache kleinere Übertretungen konnten zu einer Stigmatisierung und Kriminalisierung als Berufsverbrecherinnen führen. Des weiteren eine sehr defuse Gruppe, die sogenannten Staatsfeindlichen, sprich die sich difitistisch oder staatsfeindlich geäußert hatten, und von Bekannten oder auch persönlichen Feinden denunziert worden waren. Die sogenannten Staatsfeindlichen waren eine erhebliche Gruppe. Dabei muss man auch sagen, dass es oft nicht klar zu trennen ist. Kategorisierungen wurden vielfach von den Nationalsozialisten vorgenommen und somit muss man sie mit äußerster Vorsicht betrachten. Besonders bei den sogenannten Asozialen. In Moringen waren mehrere minderjährige Frauen inhaftiert, die nicht in die Fürsorge sollten, weil sie als sogenannte Asoziale von denen abgelehnt wurden. Einige von ihnen wurden später sterilisiert. Zwangssterilisiert wohl bemerkt. Weiterhin waren in Moringen Lesbierinnen. Wobei sie aber nicht offiziell als Lesbierinnen inhaftiert waren, sondern unter einem anderen Vorwand verhaftet oder inhaftiert wurden. Bei der einen Frau war es so, dass sie kommunistischer Umtriebe sozusagen beschuldigt wurde. Eine andere war zusätzlich noch eine Halbjüdin und damit doppelt und dreifach unter Verfolgungsdruck.“

Sprecherin :

Laut Dr. Hans Hesse gab noch eine weitgrößere Häftlingsgruppe:

Die größte Gruppe stellten die Zeuginnen Jehovas. Die Zahlen schwanken allerdings ganz erheblich, so sind für die Jahre 1933 und 1934 noch keine Einlieferungen bekannt. doch im Dezember 1937 stellten die Zeugen Jehovas plötzlich mit nahezu 90% aller Häftlinge, die weitaus größte Zahl.“

(Musik: George Bizet, Carmen, Suite 1 Les Toreadors)

Sprecherin:

Vier Zeitzeuginnen berichten nun über Ihre persönlichen Haftgründe.

Die Kommunistin Hilde Faul berichtet:

„Verhaftet bin ich worden am 15.8.33. Also ich war noch nicht ganz 18 Jahre. Bin ich verhaftet worden und zwar weil ich im kommunistischen Jugendverband war. Wir haben Plakate … geklebt gegen die Faschisten und alles weitere auch noch. Wir haben eine kleine Demonstration gemacht …Dann war ich bis 1934 in Schutzhaft, dann war ein großer Prozess gegen Jugendliche, alles Mitglieder des kommunistischen Jugendverbands. Der Prozess war 1934 und da bin ich zu 8 Monaten Gefängnis verurteilt worden, wegen Vorbereitung zum Hochverrat und die 8 Monate hab ich dann in der Strafanstalt Eichach verbüßt und nach der Strafverbüßung bin ich wieder in Schutzhaft gekommen und zwar war ich da im Landgerichtsgefängnis Landshut und von dort aus bin ich dann ins KZ-Moringen gekommen. Also das war Ende 1935/Anfang 1936 so genau weiß ich dass nicht mehr. Bis zu meiner Entlassung am 2. Mai 1937, war ich im KZ Moringen.“

Sprecherin:

Die Kommunistin Anni Pröll war 1936/37 in Moringen inhaftiert:

„ Ich hatte schon eine Haftstrafe von 21 Monaten hinter mir, wegen Vorbereitung zum Hochverrat und es war damals schon so üblich, dass die Gestapo die Häftlinge von den Haftanstalten abholten und dann nach Moringen brachten.“

Sprecherin:
Gedenktafel Änne Dickmann
Die Zeugin Jehovas Änne Dickmann kam im Herbst 1937 nach Moringen. Hören wir mal in das Gespräch mit Hans Hesse rein:

Hans Hesse:

„Wie ist es denn zu ihrer Verhaftung gekommen?“

Änne Dickmann:

„Ich habe meinen Mann Wäsche gebracht und dabei haben sie mich festgehalten.“

Hans Hesse:

„Warum?“

Änne Dickmann:

„Ja, wir hatten doch vorher 1936 den Offenen Brief verteilt und im Juni 1937 auch einen Brief an die Öffentlichkeit und die wurden bei uns Zuhause zurecht gemacht und aus den verschiedenen Versammlungen wurden sie bei uns abgeholt.Aber wir kannten uns nicht so ganz genau gegenseitig und ich hab wohl ein bisschen Kaffee eingeschenkt und dergleichen und der neben mir gesessen hat, der hat uns nachher verraten. Aber dann wurde er mir gegenüber gestellt und da meinte er: ‚Ich weiß nicht, ob sie das ist. Ich meine sie wäre größer und dicker gewesen.’ Und ich habe so getan, ob ich ihn nicht kenne. Ich habe ihn wohl angekuckt und habe mich nicht mehr dran gestört, was er gesagt hat und daraufhin hatten sie keinen Grund mich jetzt vor Gericht zu bringen. Nein, weil sie nicht beweisen konnten, dass ich jetzt wirklich dabei gewesen bin oder dass sie bei uns gewesen waren und da kam ich sofort ins KZ.!

Sprecherin:

In dem Film „Fürchtet Euch nicht“ von Fritz Poppenberg wird über die Verhaftung der Zeugin Jehovas Erna Ludolph berichtet:

„Eine der Zeuginnen Jehovas, die im Sommer 1937 unter großer Gefahr diese Flugblätter verteilte, war die Hausangestellte Erna Ludolph: ‚Und dann sehe ich mit einem Mal auf der Srraße 2 Männer stehen. Mit Rädern und da schoss mir durch:´ Die stehen für Dich da. Was machst Du?`Da war ich nicht mehr in der Lage noch ein Haus aufzusuchen und hab erst gedacht: `Fährst Du entgegengesetzt? Nein. Nicht fliehen, dass ist eine unnötige Jagerei. Die sind Dir überlegen. Du fährst geradeaus. Du wirst sehen, entweder stehen sie für Dich da und lässt es an Dich herankommen.’ Entweichen konnte ich nicht und hab den Tatsachen ins Angesicht geschaut. Hieß es von Rad absteigen und hat ich ja noch einige bei mir und jetzt, war ja jetzt in Sichtweite. Und dann wurde ich gefragt, ob ich da oben gewesen wäre. Ja, der Pastor hat Meldung gemacht. Somit wusste ich dann, dass es der Pastor war, der mich da möglicherweise gesehen hat.“

(Musik-instrumental „Lied 29 Vorwärts Ihr Zeugen“ im KZ von Willi Frost komponiert)

Sprecherin:

Die Zeugin Jehovas Änne Dickmann erinnerte sich im Gespräch mit Hans Hesse an den Sammeltransport nach Moringen und an ihren ersten Eindruck vom Frauen-KZ.

Hans Hesse:

„Wann sind Sie denn nach Moringen gekommen?“

Änne Dickmann:

„Im Oktober 1937 über Kassel per Sammeltransport. Zuerst im Gefangenenwagen. Dann habe ich übernachtet in Kassel, wo es sehr sehr schmutzig war. Unglaublich schmutzig.“

Hans Hesse:

„Sie waren nicht alleine?“

Änne Dickmann:

„Nein, es waren mehrere und als wir abends ankamen in Kassel, da waren hohe Betten übereinander. Da lagen welche am Boden im Stroh und da bin ich reingekommen und habe geguckt. … was das hier wohl werden soll. Ich habe mich auch nicht hingelegt und so eine Weile später fragte jemand, wer ich wäre, warum ich da wäre. Da hab ich gesagt: ‚Ich bin ein Zeuge Jehovas.’ ‚Ich auch.’ ‚ Ich auch’. ‚Ich auch.’ Da waren etliche. Und dann kamen wir zusammen nach Moringen.“

Hans Hesse:

„Was war so ganz spontan Ihr erster Eindruck?“

Änne Dickmann:

„Ja, was soll ich da sagen. Man kommt einfach in einen großen Raum, wo schon viele sind, viele Zeugen Jehovas, nich? Alles war eng zusammengepfercht und auf Stühlen oder Kisten lagen Bretter.“

(Musik: Filmmusik aus „Comedian Harmonists“)

Sprecherin:

Wie sah nun der „normale“ Alltag der Frauen aus? Was gab es zum Beispiel zu essen?

Jürgen Harder schreibt:

„Das Essen war dürftig. Geprägt von Eintopf und Mangelwirtschaft.“

Sprecherin:

Dies wird auch durch eine Aussage von Anni Pröll bestätigt:

„Ich war dann mit 17 verhaftet, hatte dann wenig zu essen, da braucht man ja auch etwas zum Aufbau und das hatte ich nicht..“

Sprecherin:

Änne Dickmann erzählte, das Essen:

„…war kalt und schmeckte nach Soda.“

Hans Hesse:

„Konnten Sie sich was zu den Lebensmitteln dazukaufen?“

Änne Dickmann:

„Damals ja, wer Geld hatte konnte sich etwas kaufen.“

(Musik-Akzent)

Sprecherin:

Jürgen Harder berichtet weiter über die Haftbedingungen:

„Die Haftbedingungen im KZ Moringen waren noch nicht so schlimm wie in den späteren Vernichtungslagern der späteren Phase. Die Unterbringung der Frauen erfolgte in überfüllten Räumen, die aufgrund der Enge teils klaustrophobische Anfälle bei den Frauen hervorrief. Bedeutete dass die Frauen sehr unter der Enge, unter der steten Präsenz von anderen Menschen litten. Psychisch war es eine sehr schwere Situation für sie. Zu dem kam im Winter erhebliche Kälte. Sie wurden unterm Dach des Gebäudes untergebracht. teilweise konnten sie die Sterne sehen, es schneite herein, die Decken waren nicht ausreichend. In den Zimmern standen Latrinenkübel, die nur einmal ausgeleert wurden am Tag. Im Tagesraum, wo sie den ganzen Tag über sitzen mussten, hatten sie einen festen Platz, den sie nicht verlassen durften. Daraus leitet sich auch der Begriff der sogenannten Lehne ab. Die Stühle der Frauen hatten keine Rückenlehnen, (sondern) sie mussten jeweils Rücken an Rücken sitzen. Die hinter ihr sitzende Frau war die sogenannte Lehne.“

Sprecherin:

Dieses wurde auch von Anni Pröll bestätigt:

„… das war eine sehr starke Beengung. Wir saßen eng nebeneinander, das Lager wurde ja dann zu klein für die vielen Einlieferungen.“

Sprecherin:

Änne Dickmann erinnerte sich gegenüber Hans Hesse::

Hans Hesse:

„Zu wievielt waren Sie da in dem Raum?“

Änne Dickmann:

„70, 80 denke ich.“

Hans Hesse:

„Was waren das für Frauen, mit denen Sie zusammen waren?“

Änne Dickmann:

„Alles, Alte und Junge.“

Hans Hesse:

„Waren das überwiegend ältere Frauen?“

Änne Dickmann:

„Ja, so Mittelalter: 50, 60 waren viele. Es waren auch viele Junge.“

(Musik: Filmmusik aus „Comedian Harmonists“)


Sprecherin:

Fast alles spielte sich im Tagesraum ab: essen, frisieren, handarbeiten, ausziehen und anziehen.

Die Frauen trugen noch ihre Privatkleidung.

Jürgen Harder:

„In Moringen wurde noch keine Häftlingskleidung getragen. Die Frauen konnten ihre Privatkleidung tragen. Die Häftlingskleidung kam erst in späteren Lagern.“

Sprecherin:

Werkhaus MoringenWie gesagt: Fast alles spielte sich in den Tagesräumen ab. Doch es gab für die meisten Häftlinge auch einen täglichen Rundgang auf dem Hof.

Jürgen Harder berichtet:

„Zweimal am Tag wurden sie für eine halbe Stunde zum Rundgang auf den Hof geführt.“

Sprecherin:

Änne Dickmann erinnerte sich:

„Ich weiß nur, dass wir immer im Kreis gelaufen sind und ziemlich schnell, damit wir ein bisschen Bewegung hatten.“

Sprecherin:

Nicht jeder durfte an diesem Rundgang teilnehmen:

Jürgen Harder:

„Von Gertrud Keen habe ich hier ein Zitat über ihre Haftzeit in Moringen, worin klar wird, dass ihr selbst der kurze Hofgang verwehrt wird: ‚Und ich bin in der ganzen Zeit, in der ich da war nur einmal rausgekommen. Also ich hab von Moringern gehört, dass sie täglich eine halbe Stunde einen Spaziergang auf dem Hof hatten. Das habe ich nie erlebt. Wir sind nie auf den Hof gekommen. Ich habe diese beiden Räume, nämlich einen Schlafsaal und einen Esssaal -und Aufenthaltssaal habe ich nur gesehen. Ich hab da nichts gesehen, wir haben immer nur zum Fenster rausgekuckt.’“

(Musik:Comedian Harmonists“Ein neuer Frühling wird in die Heimat kommen“)

Sprecherin:

Natürlich gab es auch in Moringen Zwangsarbeit. Allerdings unterschied sie sich in diesem KZ von den späteren Frauen-KZ´s.

Jürgen Harder:

Der Alltag war besonders geprägt von Monotonie. In der Anfangszeit des KZ Moringen waren kaum Arbeiten vorhanden, da in der Region kaum Betriebe waren, wo größere Mengen von Häftlingen untergebracht werden konnten. Dennoch mussten sie arbeiten und zwar für das Winterhilfswerk Kleidung ausbessern und teilweise Arbeitseinsätze auf den Feldern rundherum in der Landwirtschaft. Diese Arbeiten wurden sogar teilweise als Befreiung empfunden, zumindest 1 oder 2 Std. am Tag aus diesen Räumlichkeiten herauszukommen.“

Von solchen Arbeitseinsätzen auf dem Feld berichtet Hilde Faul:

„Für die Bibelforscher (Zeuginnen Jehovas) hat es überhaupt nichts gegeben, überhaupt gar nichts. Sie haben ja noch nicht einmal lesen dürfen. Sie haben ja keine Zeitung gekriegt und nichts. Und für die übrigen Häftlinge nun ja erstens einmal im Sommer waren wir draußen. Wir haben auf dem Feld mitgearbeitet. Ich weis gar nicht mehr was da für Schonungen waren. Maulbeerbäume glaube ich waren das. Die mussten gepflegt werden und so weiter. Es gab da Seidenraupenanlagen. So genau weiß ich das auch nicht heute. Es hat viele bei gehabt, die die nicht mehr weiterarbeiten konnten. Und so weiter und unter denen war nämlich auch ich und die halt nicht draußen mitarbeiten konnten, die mussten sich halt drinnen selber beschäftigen. Nein und das naben wir ja auch weidlich gemacht. Wir haben Handarbeiten gemacht und was anders konnten wir ja nicht mehr. Wir haben viel gelesen … die Winterhilfsklamotten, die haben sie dann im Spätherbst gebracht und wir haben schon dran arbeiten müssen.“

Sprecherin:

Später mussten sich die Häftlinge selbst beschäftigen:

Anni Pröll und Änne Dickmann berichteten:

Anni Pröll:

„Wir konnten noch zusammen sprechen, wir hatten das Leidliche, das wir zu meiner Zeit sehr wenig beschäftigt wurden. Und es waren noch Frauen auf dem Feld draußen zur Feldarbeit eingeteilt, die dann aber auch eingestellt wurde und meine Vorgängerinnen, die hatten noch fürs Winterhilfswerk mit den Kleidern zu tun, aber das wurde dann auch eingestellt. Also für uns Häftlinge gab es dann keine Arbeit. Wir mussten uns oder konnten uns noch mit eigenen Handarbeiten versorgen.“

Änne Dickmann:

„..alles eng zusammengepfercht und auf Stühlen oder Kisten lagen Bretter und saßen wir wie die Hühner auf der Stange den ganzen Tag auf dem Brett und dann wir sind zwischendurch mal in Hof mal um den Baum herum gelaufen. Wir durften Handarbeiten machen. Wir konnten uns Material von zu Hause schicken lassen und durften sie auch wieder zurückschicken.“

Änne Dickmann berichtete aber auch:

„Wir haben auch auswendig dann Bibelsprüche gelernt, ganze Psalmen auswendig gelernt.“

(Musik: Filmmusik „aus Comedian Harmonists“)

Sprecherin:

Tagsüber wurden die Frauen bewacht.

Anni Pröll bemerkte dazu:

Wir hatten keine SS. Wir hatten nur diese Frauen, die uns bewachten von der NS-Frauenschaft. Wir hatten ziemlich intelligente Frauen auch da und diese Bewachungen, die haben uns eigentlich nichts anhaben können.

Sprecherin:

Abends wurden sich die Frauen selbst überlassen. Dieses nutzten die Frauen auch einmal, um sich zu vergnügen. Hilde Faul erzählte:

Fasching haben wir uns mit die Winterhilfsklamotten einmal alle maskiert, aber erst abends im Schlafsaal, als keine Aufseherin mehr da war, sonst nicht.“

(Musik: Comedian Harmonist: Ein bißchen Leichtsinn kann nicht schaden)

Sprecherin:

Der gemeinsame Schlafsaal befand sich in der oberen Etage. Änne Dickmann und Hilde Faul äußerten sich dazu wie folgt:

Änne Dickmann:

„Zum Schlafen waren wir oben.“

Sprecherin:

„Kommunisten, ZJ und SPD waren alle im gleichen Schlafraum?“

Hilde Faul:

„Ja, aber tagsüber die Aufenthaltsräume, die waren getrennt. Da waren die politisch Verfolgten, denn es waren nicht bloß Kommunisten. Wir haben ja auch SPD-Frauen gehabt und später ist ja alles möglich noch dazugekommen: Asoziale und sowas, das hat man ja systematisch dann gemacht, das war später dann. Aber am Anfang waren wir bloß wirklich die SPD-Genossinnen und wir Kommunisten. Das war anfangs und dann später hat sich das irgendwie gemischt und für die Bibelforscher war extra ein Raum da. Und für die jüdischen Häftlinge war auch ein Extra-Raum. Das dürfte es gewesen sein. Und dann war da in Moringen noch ein Raum. Ein Haftraum so als Strafraum.“

Sprecherin:

Über die Zustände in dem Schlafraum schrieb Hanna Elling:

(Zitat Hanna Elling): „ Die Nächte waren schwer zu ertragen, wir schliefen in je zwei übereinander gestellten Betten unter dem Dach. Der Raum war nicht heizbar und in der Mitte stand ein großer Kübel.“

(Musik: Mozart, Kleine Nachtmusik)

Sprecherin:

Wie war das Verhältnis der Häftlinge untereinander?

Die Kommunistin Hilde Faul berichtete folgendes:

Sprecherin:

„Und wie war so das Verhältnis untereinander. War das ein freundschaftliches Verhältnis?“

Hilde Faul:

„Sie müssen die Zusammensetzung sehen, damals als ich nach Moringen gekommen bin, da waren wir alles fast nur politische Häftlinge. Und da haben wir 3 Genossinnen von der SPD gehabt und die anderen waren alles Kommunisten. Und bei uns war der Kontakt kameradschaftlich. Da hat es überhaupt bei uns kein Diskussion gegeben und wir konnten ja auch von unsern Angehörigen wir Geld geschickt kriegen nach Moringen und ein Pakete kriegen und das war so selbstverständlich, dass das alles aufgeteilt wurde.

Es waren ja viel Frauen dabei, deren Männer waren in Dachau, die hatten natürlich nie ein Paket oder etwas gekriegt, auch keinen Pfennig Geld, also das ist gut organisiert worden, dass jeder etwas hatte.“

Sprecherin:

„Und das find ich also sehr schön, dass man auch geteilt hat.“

Hilde Faul:

„Ich zum Beispiel alle paar Wochen 3 Mark gekriegt, das war damals ein Haufen Geld für meine Leute. Und habe alle 14 Tage ein Paket gekriegt.“

Sprecherin:

„Aber das war damals ja noch möglich.“

Hilde Faul:

„Ja, das war erst später nicht mehr drin. In diesem Fall unterscheidet sich ja Moringen grundsätzlich von den nachfolgenden Lagern. Und da hatten wir eine Kameradschaft, wirklich kameradschaftliche Verhältnisse hatten wir da.


Sprecherin:

Auch die Zeugin Jehovas Änne Dickmann bestätigte dies:

„Ja die nächste Gemeinschaft hat dann immer was abgekriegt“.

(Musik: Filmmusik aus „Comedian Harmonists“)

Sprecherin:

Unter den Häftlingen gab es eine starke Gruppenidentität und Solidarität.

Jürgen Harder:

„Ja, die Gruppe der Zeugen Jehovas zeichnete sich durch eine starke Gruppenidentität aus, die für das Leben in den Lagern unabdingbar war. Ähnliche Verhaltensweisen oder eine ähnliche Gruppenidentität lässt sich bei den politischen Häftlingen zum Beispiel finden.

Sprecherin:

Dies bestätigt die Kommunistin Anni Pröll:

„Im Bayernsaal hatten wir ein gutes solidarisches Verhältnis untereinander. Eine hat der anderen geholfen und auch wenn jemand traurig war, dort konnte man sich aussprechen, untereinander, das hat vielen in Moringen geholfen.“

Sprecherin:

Anni Pröll erinnerte sich weiter:

„Ich saß ja im Bayernsaal, dort waren auch Frauen, die Mündnerinnen, Sie waren wegen ihren Männern drin, die auch sich politisch eingesetzt hatten, die teilweise in Dachau oder anderswo waren. Und es war so bei der Frau Maria Götz von München, deren Mann war in Dachau schon getötet worden. Also es waren für uns Zustände, dass wir uns gegenseitig getröstet haben, das wir einen ganz starken Zusammenhalt hatten. Und ich war damals eine der Jüngsten. Ich glaube als ich eingeliefert wurde, sogar die Jüngste und wurde von den Frauen sehr betreut.“

Sprecherin:

Einige Frauen kamen mit der gesamten Situation nicht zurecht.

Über sie sagt Jürgen Harder:

„Aber die physische Situation der Frauen war anscheinend sehr bedrückend. So gab es mehrere Selbstmordversuche, wo wir allerdings nicht genau wissen wie viele davon erfolgreich waren.“

(Musik-Akzent:Comedian Harmonists aus „Am Brunnen vor dem Tore..“:“ich möcht´s am liebsten sterben, da wär´s auf einmal still…“)


Sprecherin:

Wie war aber die Situation der Familien zu Hause?
Wie kam die Familie ohne die Mutter und Ehefrau aus?
Welche Entlassungsgründe gab es ?
Welche Strafen gab es im Frauen-KZ Moringen?
Dies uns vieles mehr erfahren Sie in dem 2. Teil der Sendung in einer Woche

(Filmmusik aus „Commedian Harmonists“)

© Ingeborg Lüdtke

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Frauen-KZ Moringen, Teil 2

Die Sendung wurde am 2. Februar 2001 im StadtRadio Göttingen ausgestrahlt.

Moringen. Dieses kleine Städtchen liegt einige Kilometer nördlich von der Universitätsstadt Göttingen in Norddeutschland entfernt.“ (Hans Hesse)
(Stimmen und Verkehr)

Sprecherin:

Ich möchte Sie auch heute wieder einladen sich mit mir an die Opfer des Nationalsozialismus in dem Frauen-KZ Moringen zu erinnern.
Auch für die Frauen im KZ-Moringen wurde der 27.Januar zu einem „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ erklärt.

Heute nun wie angekündigt der zweite Teil der Sendung.
Der erste Teil der Sendung ließ noch viele Fragen offen, z. B.:

Wie war die Situation der Familien zu Hause?
Welche Entlassungsgründe gab es?
Werkhaus MoringenWelche Strafen gab es im Frauen-KZ Moringen?
Gab es unterschiedliche Strafen für die einzelnen Häftlingsgruppen?
Wer verhängte die Strafen?
Und wer war der Lagerdirektor?

(Musikakzent: Comedian-Harmonists aus „Am Brunnen vor dem Tore“: „ … mein Liebchen ist verschwunden, das dort gewohnet hat…“ )

Sprecherin:

Die inhaftierten Frauen litten unter der Trennung von den Familien.

Wie kamen aber die Familien ohne die Mütter aus?
Wer kümmerte sich zum Beispiel um die Kinder?

Katharina Thoenes war 1936/1937 in Moringen.
Sie war eine Zeugin Jehovas oder Bibelforscherin, wie man die Zeugen Jehovas damals nannte. Katharina Thoenes war Mutter von einem Sohn.

Hans Thoenes antwortete mir auf die Frage, wer sich um ihn gekümmert hat:

Hans Thoenes:

„Ich erinnere mich, dass viele leibliche Schwestern meiner Mutter, sich um uns
kümmerten. Aber da Vater ja auch schon von Krupp entlassen war, weil er ein Zeuge
Jehovas war und keinen Beitrag zur deutschen Arbeitsfront leisten wollte, war es uns ja möglich, unsere eigenen Angelegenheiten, in Ordnung zu bringen. Sooft habe ich wohl kaum Sozialarbeiter des damaligen Systems bei uns gesehen, die nachforschen wollten, ob ich gut behandelt würde, ob ich mein eigenes Zimmer habe und ob ich regelmäßig mein Essen bekäme.“

Sprecherin:

Hat er sich als Kind von seiner Mutter vernachlässigt gefühlt, weil sie nicht bei ihm war?

Hans Thoenes:

„Solange ja mein Vater zu Hause war, haben wir wohl sehr viel darüber gesprochen, was wohl mit Mutter sein würde, aber mein Vater war ebenfalls ein treuer Zeuge Jehovas, der ja auch zuletzt in Buchenwald im KZ war. Er hat schon immer wieder darauf hingewiesen, dass wir mit Aggression zu rechnen haben und das wir einfach versuchen müssen, mit diesen Problemen fertig zu werden. Was die Vernachlässigung betrifft, natürlich als 9 oder 10 Jähriger vermisst man die Mutter. Aber das war ja nicht Schuld der Mutter, sondern der Behörden.“

(Musikakzent)

Sprecherin:

Die Zeuginnen Jehovas verweigerten Arbeiten für das Winterhilfswerk auszuführen. Hugo Krack, der Lagerdirektor verhängte deshalb eine Post- und Paketsperre für die Zeuginnen Jehovas.

Der Historiker Jürgen Harder berichtete über die Strafen im KZ-Moringen:

In Moringen wurden noch keine Körperstrafen im Sinne der späteren Konzentrationslager angewandt, jedoch waren die Strafen sehr wirksam. Es wurde Isolationshaft angewendet sprich einzelne oder auch Gruppen von Frauen wurden von ihren Zusammenhängen getrennt und meist verbunden mit Essensentzug, Post- und Paketsperre, sowie Kontaktsperre und Geldsperre, in Einzelzellen im Keller untergebracht. Die Geldsperre hatte in sofern noch eine Bedeutung, da man im Lager in der Anfangszeit noch etwas dazu kaufen konnte und damit die karge Kost aufbessern konnte. Die Post- und Paketsperre, sowie die Kontaktsperre wurden als eine der härtesten Strafen empfunden. Teils über Monate wurde diese Strafe aufrecht erhalten, d.h. die Angehörigen, als auch die Frauen selbst erfuhren nichts von Schicksal des anderen. So kamen Briefe von Angehörigen ins Lager, in dem sich die Person über den Verbleib Ihrer Mütter und Geschwister erkundigten. Der Lager Direktor Hugo Krack meinte darauf in der Regel nur, den Frauen ginge es gut. Sie hätten sich der Lagerordnung widersetzt und würden deswegen in Isolationshaft gehalten.

(Musik-Akzent:Ingeborg Hallstein:“Ich bin die Christl von der Post“:“…..Nur nicht gleich und auf der Stelle, denn bei der Post gehts nicht so schnell…“)

Sprecherin:

Die Kommunistin Hilde Faul erinnerte sich an eine Postsperre für die Zeuginnen Jehovas.

„Eines Tags sind sie ja gekommen und haben uns ja Winterhilfsklamotten gebracht. Das heißt, das was gesammelt worden ist von der Bevölkerung , die alten Kleider und Sachen und die mussten umgeändert werden oder mussten ausgebessert werden. … Ob sie gewaschen werden mussten … dass weiß ich nicht mehr, kann mich nicht mehr so erinnern. Aber auf jeden Fall war es dann so, dass die Bibelforscherinnen das abgelehnt haben und zwar, weil das mit eine militärische Handlung sein kann, irgendwie haben sie es damit begründet. … So wie ich es in Erinnerung habe, hätten auch die Bibelforscherinnen Strümpfe bzw. Herrensocken stricken sollen. Und ist dann die Frage kommen: Für wen sind die Herrensocken? Für das Militär. Und das haben sie abgelehnt. Für das Militär machen sie nichts und daraufhin hat man sie dann isoliert. Man hat sie in etwa schon bestraft, sie haben mit uns kein Hofgang mehr gehabt, sondern getrennt von uns und haben, ich glaube sogar, sie haben keine Pakete mehr kriegen dürfen. Mit dem Geld wird es genauso gewesen sein, aber das kann ich nicht genau behaupten. Dadurch war ja auch praktisch der Kontakt zu den Bibelforschern unterbrochen.

(Musik: Eleni Karaindrou „Eternity and a Day“)

Sprecherin:

Auch für Katharina Thoenes galt die Post- und Paketsperre. Hans Thoenes und sein Vater waren über das Schweigen der Mutter beunruhigt und wandten sich an den Lagerdirektor Hugo Krack.

Mit Hans Thoenes sprach ich über die Postsperre:

Sprecherin:

Ich habe (aber) in dem Buch von Hans Hesse „Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas …“ gelesen, dass Sie versucht haben mit Ihrer Mutter in Kontakt zu kommen und Sie auch einen Brief an den Lagerleiter Herrn Krack in Moringen geschrieben haben. Was können Sie uns darüber berichten?

Hans Thoenes:

„Ja, das stimmt. Denn einige Wochen vorher hatte mein Vater schon versucht über die Lagerleitung zu erfahren, was wohl mit meiner Mutter geschehen sei und aufgrund dessen, dass wir keine Nachricht bekamen, habe ich nochmal in ähnlicher Weise einen Brief an die Lagerleitung geschrieben, der wie Sie ja sagten in dem Buch von Herrn Hesse veröffentlicht worden ist. In etwa antwortete mir der Herr Krack, dass den Zeugen Jehovas  eine Postsperre auferlegt worden sei, sodass sie keinen Kontakt mit ihrem Angehörigen zu Hause pflegen konnten. Denn bis dahin war es ja noch möglich, den Gefangenen Pakete oder Geld zuzuschicken.“

Sprecherin:

Ich habe jetzt auch in dem Buch von Hans Hesse gelesen, dass er Sie als Kind gesiezt hat. Wie haben denn Sie auf diesem Brief reagiert?

Hans Thoenes:

„Also, wenn ich das heute noch wüsste, also in direkt haben wir uns nur an geschaut, mein Vater und ich, weil wir jetzt erst einmal wussten, dass die Mutter noch lebte. Eine Reaktion? Es war einfach schockierend für uns, dass er nicht persönlich auf diesen Brief eingegangen ist, sondern nur einfach mitteilte, was ich Ihnen eben schon sagte.“

(Musik: Eleni Karaindrou „Eternity and a Day“)

Sprecherin:

Katharina Thoenes hatte rötliches Haar. Es ist daher anzunehmen das Hilde Faul von ihr sprach, als sie berichtete:

“Aber da war eine Frau dabei, die muss aus Nordrheinwestfalen gewesen sein. Eine stattliche Frau. Sie hatte rötliches Haar und die hat uns immer Mordsvorträg gehalten. Na ja gut, dass war ihre Sache.. Über ihre Religion usw., aber darum hat es keine Diskussionen gegeben. „

Der Historiker Matthias Kuse berichtet über das Verhältnis des Lagerdirektors Hugo Krack zu Katharina Thoenes:

„Mit Katharina Thoenes hat er einen regelrechten Kampf ausgefochten. Über sie schrieb Krack ausgesprochen negative Führungsberichte, und er hat überdies noch ihren Mann bei der Gestapo angezeigt.

Sprecherin:

Katharina Thoenes kam im Februar 1937 aus dem KZ-Moringen nach Moers zur Gerichtsverhandlung.
Nach der Verhandlung kam sie zurück nach Moringen.
Sie unterschrieb am 19.6.1937 eine der vielen Varianten der Verpflichtungserklärungen.
Nun wurde sie aus dem KZ-Moringen entlassen.
Anschließend musste sie ihre 10-monatige Haftstrafe im Zuchthaus absitzen.

Sie kam erst im Mai 1938 wieder nach Hause.
Ihr Sohn Hans wurde bereits im Februar 1938 aus der Schule verschleppt und in eine Erziehungsanstalt gebracht.
Katharina Thoenes hatte sich von ihrem Glauben nicht abgewandt, trotz Unterschrift einer Verpflichtungserklärung.
SiemenslagerSie wurde noch einige Male verhaftet und kam später in das KZ-Ravensbrück.
Sie überlebte.

Katharina Thoenes und ihr Sohn Hans waren erst im Frühjahr 1945 wieder vereint.

(Musik:Nabucco-Chor der Gefangenen „Flieg Gedanke“ in ital. Sprache)

Sprecherin:

Katharina Thoenes hatte eine Verpflichtungserklärung unterschrieben.
Was hatte es mit diesen Verpflichtungserklärungen auf sich?

Jürgen Harder erklärt:

„Bei den besagten Verpflichtungserklärungen handelte es sich in der Anfangszeit der Konzentrationslager zunächst lediglich um ein Formblatt, welches von jedem Schutzhäftling unerheblich welcher Kategorie bei der Entlassung aus dem Lager unterschrieben werden musste. In der Regel unterschrieben auch die Zeugen Jehovas zu dieser Zeit noch die ihnen vorgelegten Erklärungen, da sie im Text des Formblattes keinen Widerspruch zu ihrem Glauben sahen. Der Text der … Verpflichtungserklärung lautete anfangs folgendermaßen:

‚Ich verpflichte mich nach meiner Entlassung aus der Schutzhaft mich jeder umstürzlerischen staatsgefährdenden Tätigkeit zu enthalten. Ich bin darüber belehrt, dass ich keine Ersatzansprüche gegenüber dem Staat aufgrund der erfolgten Inschutzhaftnahme habe.’ In gerade zynischerweise fährt dieses Formular fort: ‚Falls meine Sicherheit bedroht erscheint, kann kann ich mich freiwillig in politische Haft begeben.’ Hierauf erfolgt die Ortsangabe des jeweiligen KZ sowie Datum und Unterschrift des Häftlings. Ab Ende 1937 wurde dieser allgemeinen Floskel bei der anstehenden Entlassung von Zeugen und Zeuginnen Jehovas eine weitere Erklärung beigefügt, in welcher eine völlige Abkehrung von ihrer Glaubensgemeinschaft gefordert und auf die zu erwartenden Konsequenzen eingegangen wurde, falls sie weiterhin ihre religiöse Überzeugung leben wollten. Aus einer formalen Erklärung, die bis auf wenige Ausnahmen anfangs viele Häftlinge bei seiner Entlassung aus dem KZ ohne schwerwiegende Bedenken unterschrieben, wurde eine Loyalitätserklärung gegenüber dem Staat und seinen Forderungen. Mit diesen Änderungen von Inhalt und Zweck des Verpflichtungsscheins veränderte sich hierzu auch die Einstellung der Zeugen und Zeuginnen Jehovas, so dass sie künftig in der Regel die Unterschrift verweigerten.“

Sprecherin:

Die Zeugin Jehovas Änne Dickmann sagte im Gespräch mit dem Historiker Hans Hesse:

Hans Hesse:

„Als sie verhaftet wurden, hat man Ihnen da eine Verpflichtungserklärung vorgelegt?“

Änne Dickmann:

„Ja, eben was ich vorher schon sagte. Da habe ich gesagt: „Kommt nicht in Frage.
Wenn man gesagt hat: ‚Ich bin und bleibe ZJ.’ Dann war die Sache erledigt.“

(Musik: Sergio Avila „Frozen“ – instrumental)

Sprecherin:

Welche Entlassungsgründe gab es?

Matthias Kuse schrieb seine Magisterarbeit über die Entlassungen in Moringen. Er erklärte:

„So etwas wie einen schriftlich fixierten Katalog von Gründen, wann ein Häftling wieder entlassen werden konnte, gab es für die Konzentrationslager nicht. Die Schutzhaft sollte die Leute ja gerade durch ihre Unbestimmtheit verunsichern und in Schach halten.

Das übliche Procedere der Schutzhaft war, dass nach der Festnahme nur noch eine Bestätigung durch die Gestapo nötig war, um den Festgenommenen erst einmal für drei Monate im Lager verschwinden zu lassen. Diese drei Monate konnten dann jeweils um nochmals drei Monate verlängert werden und immer so weiter. Die Verlängerung oder Aufhebung der Schutzhaft hing von dem Haftprüfungstermin ab, zu dem der Lagerkommandant einen Führungsbericht an die einweisende Gestapostelle und an das Gestapoamt in Berlin anzufertigen hatte. In Berlin wurde dann letztlich entschieden ob und wer entlassen werden sollte. Oder bei wem die KZ-Haft verlängert werden sollte.

Bei den Entlassungen einiger des Gefangenen spielte auch die Unterschrift unter einen Verpflichtungsschein eine Rolle, mit der er versichern sollte, dass er sich nicht mehr staatsfeindlich betätigen würde oder dass er sich von seiner Glaubengemeinschaft distanziere.“

Sprecherin:

Es gab zum Beispiel Entlassungen aufgrund eines Himmler-Besuches.
Die Kommunistin Anni Pröll erzählte:

„Ich bin im Juni 1937 entlassen worden. Und zwar war da der Himmler da und der hat ein bisschen gefilzt. Der Direktor Krack hat mich (aus)geschimpft, weil ich eine freche Antwort gegeben hab(e) und hat er gemeint, ich sollte Himmler, um meine Entlassung bitten. Aber er ist mit anderen Frauen, die vor mir befragt worden sind, so schrecklich umgegangen. In mir hat sich alles verschlossen und ich war dann natürlich etwas widerspenstig. Aber trotzdem hat meine Entlassung dann draufgestanden.“

Sprecherin:

Einige jüdische Frauen wurden entlassen, wenn sie sich verpflichteten auszuwandern:

Hierzu Matthias Kuse:

„Die jüdischen Frauen, die im Lager waren, waren überwiegend sogenannte Remigrantinnen, die Deutschland schon einmal verlassen hatten. Sie waren meist aus persönlich-familären Gründen oder auch, weil sie auf Dauer kein Exil im Ausland fanden, nach Deutschland zurückgekehrt. Diese Häftlingsgruppe stand gewissermaßen unter dem Generalverdacht sich im Ausland deutschfeindlich zu betätigen. Ab Januar 1935 wurden solche Personen verhaftet und als sogenannte „Schulungshäftlinge“ ins Lager eingewiesen. Die Situation für diese Frauen verschärfte sich noch einmal ab 1937, als die Auswanderung aus Deutschland zur Bedingung für die Entlassung gemacht wurde.“
(Musik: Daniel Kempin/Dimitry Reznik)

Sprecherin:

Grundlage für alle Entlassungen waren die Beurteilungsschreiben des Lagerdirektors Hugo Krack.
Über die Beurteilungsschreiben oder Führungsberichte sagte Jürgen Harder:

„Die erwachsenen Frauen wurden in Anlehnung an die Einteilung der Jugendlichenfürsorgezöglinge in den Besserungsanstalten und Heimen vom Direktor in verschiedene Kategorien eingeordnet. Hierbei unterschied er zwischen Bibelforscherinnern von denen er keine Erfolgsaussicht für eine Schulung sah und anderen bei denen durch seine Bemühungen ein Gesinnungswechsel erwartet werden konnte. So plädierte er beispielsweise für die Verlängerung einer Bibelforscherin in seinem Lager, da sie trotz guter Führung noch fanatisch an ihren religiösen Überzeugungen festhielt und sich bisher noch keine Besserung bei der Frau gezeigt hatte. Ich zitiere: „Die hier untergebrachte Schutzhaftgefangene Hermina K. – ich habe hier anonymisiert – hat sich bisher im Lager gut geführt. Sie hängt aber noch fanatisch den Ideen der IBV an. Ich kann daher ihre Entlassung noch nicht befürworten.“ Wie auch den meisten anderen Beamten der verschiedenen Verfolgungsinstanzen blieb dem Leiter des Frauen-KZ in Moringen die religiöse Motivation der Verweigerung der Zeuginnen und Zeugen Jehovas völlig unverständlich, da sie nicht in die Kategorie der politischen Ideologie des Nationalsozialismus einzuordnen waren. So sah der Lagerleiter Hugo Krack in der Beharrlichkeit mit der viele Bibelforscherinnen an ihrem Glauben festhielten Anzeichen einer Geisteskrankheit, die in seiner Institution nicht behandelt werden konnte. Von daher hielt er es in besonders hartnäckigen Fällen, die Unterbringung von Frauen in Nervenheilanstalten für sinnvoller.
So auch im Fall von Frau K. Ihre Entlassung aus dem KZ, da er sie, ich zitiere ‚für religiös, geistig verwirrt’ hielt.“

Sprecherin:

Nicht immer waren die Führungsberichte so negativ.
Es gab auch einige Zeuginnen Jehovas, die sich von ihrem Glauben lossagten. Über eine solche Zeugin Jehovas schrieb Hugo Krack (zitiert von Matthias Kuse):

„Sie hat sich von den Ideen der IBV (Bibelforscher, heute Zeugen Jehovas) vollkommen losgesagt, sie verspricht sich in Zukunft völlig auf den Boden des nationalsozialistischen Staates zu stellen. Sie will den deutschen Gruß anwenden und an Luftschutzübungen teilnehmen, sowie ihre sonstigen vaterländischen Pflichten erfüllen.“

(Musik: Lied 29 Willy Frost „Vorwärts Ihr Zeugen“)

Sprecherin:

Wer war Hugo Krack?

Matthias Kuse berichtete:

Hugo Krack war ursprünglich Lehrer, vor seinem Wechsel nach Moringen bekleidete er in Clausthal-Zellerfeld eine Rektorenstelle und er verfügte über sozialpsychologische Kenntnisse. Das scheint auch einer der Gründe dafür gewesen zu sein, dass er im Jahr 1930 zum Direktor des Provinzial-Werkhauses Moringen ernannt wurde, das man landläufig als „Arbeitshaus“ bezeichnet.

Seit 1919 gehörte er der Deutschen Demokratischen Partei an, für die er sich auch als Wahlkämpfer engagiert hat.
Dann wurde 1933 auf Veranlassung der hannoverschen und Hildesheimer Innenbehörden in einem Teil des Arbeitshauses ein Konzentrationslager eingerichtet. Zunächst nur für männliche Gefangene, und hier stand Krack zwar das Hausrecht zu, er hatte jedoch keinerlei „Befehlsgewalt“ über die Gefangenen. Das änderte sich erst, nachdem das ‚Männer-KZ’ wieder aufgelöst worden war und zum Ende des Jahres 1933 – ebenfalls in einem separaten Teil des Arbeitshauses – ein ‚Frauenkonzentrationslager’ eingerichtet wurde, dessen Leitung ausschließlich ihm unterstand.“

Sprecherin:

Jürgen Harder bemerkt:

Hugo Krack war ein aus der wilhelminischen Tradition stammender Beamter, der die rigiden Erziehungsmaßnahmen der Nationalsozialisten durchaus befürwortete … Er sah sein Lager als eine Art Erziehungslager. Mit den Strafen sollte ein Erziehungserfolg erzielt werden, d.h. die Frauen sollten sich von ihrer jeweiligen Ideologie sprich politisch oder auch religiös lösen, um sie dann in die sogenannte Volksgemeinschaft wieder eingliedern zu können. Ob und in wie weit diese Erfolge haltbar oder nachweisbar waren, steht auf einem ganz andern Blatt. Viele der Frauen, die entlassen worden sind, beteiligten sich später wieder an Widerstandaktionen unter den Bedingungen der Illegalität und kamen mit unter auch wieder in Haft. Nicht wenige von ihnen kamen in dieser Zeit ums Leben.“

Sprecherin:

Matthias Kuse bemerkt auch:

„Hugo Krack hat sich eigentlich immer als Zivilist verstanden, und unterschied sich damit deutlich von dem einschlägigen Bild eines „typischen“ KZ-Kommandanten. „Zivil“ ist er auch im KZ-Lager Moringen aufgetreten. Krack war kein Nationalsozialist. Er ist „erst“ im Mai 1933 der NSDAP beigetreten, das war verhältnismäßig spät. Darüber hinaus war er Mitglied in der eher unbedeutenden Reiter-SA. Salopp formuliert: Er hat sich nicht „überschlagen“, was sein Engagement in der NS-Bewegung betraf.

Es wäre falsch, wollte man aus ihm einen Mann des Widerstands machen. Das war er ganz sicher nicht. Allerdings hat er sich für eine Reihe von Gefangenen, vor allem des Frauen-KZ, eingesetzt, indem er versucht hat, ihnen bei der Entlassung aus dem Lager behilflich zu sein.

Er war sehr sozial beeinflusst von den Ideen Friedrich Naumanns.“

(Musik: Eternity and a Day)

Sprecherin:

Die Kommunistin Hilde Faul sagte über Hugo Krack:

„Er hat sich uns gegenüber jedenfalls tolerant verhalten, wenigstens soweit wie ich das einschätze. Es gibt natürlich andere, die sagen: „Uns gegenüber war er nicht so tolerant.“ Das glaube ich ohne weiteres. Aber ich kann da nichts dagegen … nichts darüber sagen. Und die Bibelforscher, die werden nicht so begeistert gewesen sein, dass sie dann abgeschirmt worden sind von den anderen und nicht mehr einkaufen konnten und halt so eine Behinderung gehabt haben. Sie haben keine Post mehr kriegen dürfen und haben eine Zeit lang keine Post mehr rausgeben dürfen. … Für uns war auch mal eine Postsperre. Ich glaube, dass war sogar in dem Zusammenhang, dass weiß ich aber nicht.“

Sprecherin:

Hilde Faul sagte auch:

„Er war ja Direktor. Er ist zu uns gekommen und hat uns seine Befehle erteilt, … Er hat mit uns gesprochen, was grade im Moment angefallen ist. Und ich kann mich noch erinnern, dass er mal gekommen ist und hat gesagt: „ Wie ist dies? Ich hab einen Anschnauzer von der Gestapo Berlin bekommen und ein Häftling hat gesagt: Was wollen Sie denn mit Moringen, der Direktor, der macht doch sowieso alles, was die Gefangenen wollen.“ So ähnlich sinngemäß. Und da er sich dann bei uns beschwert, ob er da schon irgendwie uns schon zunahe getreten ist. Aber das war ja nicht der Fall. Sie müssen das anders sehen, der Krack, der war ein alter Beamter und die alten Beamten, die waren nicht so, wie die Faschisten. Der Krack, der war mehr so deutsch-national, so etwas war der mehr, ich weiss es nicht, aber ich nehme es an, so aus seinem ganzen Ding und so hat er auch gehandelt, also wenig willkürliche Akte. So wie in den übrigen KZ das war das nicht der Fall. Nein, sondern er hat wirklich seine Vorschriften (gehabt ? undeutlich).“

Sprecherin:

Matthias Kuse bemerkt auch:

„Für das Frauen-KZ sind mindestens zwei Fälle belegt, in denen er die Sterilisierung von Frauen vorgeschlagen hat. Auch in seiner Eigenschaft als Direktor des Arbeitshauses hat er mehrere Anträge auf die Sterilisation von Anstaltsinsassen gestellt, was offenbar zur Praxis solcher Einrichtungen gehört hat. Auch Krack scheint dieser Praxis nicht grundsätzlich abgeneigt gewesen zu sein.“

Sprecherin:

Der Historiker Dr. Hans Hesse schreibt in seinen Forschungsergebnissen über das KZ-Moringen über Hugo Krack:

„Bei allem darf jedoch nicht vergessen werden, dass Hugo Krack, der zwar nicht als überzeugter Nazi gelten kann und sicherlich nicht in einer Reihe mit den KZ-Kommandanten gesehen werden darf, sich mit dem NS-System zu arrangieren versuchte, wie viele seiner Zeitgenossen damals. Er tat dies an verantwortlicher Stelle. Darin besteht seine Mitschuld.“
Sprecherin:
Es bleiben noch einige Fragen offen.
Doch die Antworten hat Hugo Krack mit ins Grab genommen.

(Musik: Lied 102 Lazaruslied – instrumental)

Hans Hesse:
Im Dezember 1937 begann dann die Lagerleitung das Frauen-KZ Moringen aufzulösen.Werkhaus Moringen
Die Frauen kamen in ein größeres KZ: die Lichtenburg in Thüringen.

Sprecherin:

Das Leiden hatte für die Frauen dadurch kein Ende. Im Gegenteil.

Hierzu Matthias Kuse:

„1938 wurde das Frauenkonzentrationslager Moringen geschlossen und die gefangenen Frauen kamen in das KZ Lichtenburg, das für etwa ein Jahr bis zur Inbetriebnahme des KZ Ravensbrück das zentrale Frauen-KZ war. Unter den Frauen, die dorthin verlegt wurden, befand sich auch eine Reihe von Zeuginnen Jehovas. Die Lebensbedingungen im KZ Lichtenburg waren sehr viel schlechter als in Moringen – nicht zuletzt, weil die Bewachung dort von der SS übernommen wurde. Verschiedene Zeuginnen Jehovas sind noch vor der Verlegung entlassen worden, viele befanden sich aber noch im Moringer Lager und wurden dann mit den übrigen Frauen ins KZ Lichtenburg geschickt. Ein Grund dafür, dass relativ viele Zeuginnen Jehovas in das KZ Lichtenburg überstellt wurden war, dass sich die Verfolgungspolitik während dieser Zeit explizit gegen die Zeugen Jehovas richtete.“

Sprecherin:

Hilde Faul erinnerte sich an eine Zeugin Jehovas:

„Die Esther ist mir bis heute ein Begriff, weil die von Fürtau (?) war. Die Esther war bis so an die Dreißig damals und wie man mir dann später erzählte, haben sie die umgebracht, aber ich weiß nicht genau, ob das in Ravensbrück war. … Ich weiß bloß, dass die Gestapo sie richtig als Beispiel gebraucht hat.“

Sprecherin:

Moringen kann als Grundlage für spätere KZ´s betrachtet werden.
Jürgen Harder bemerkt dazu:

„Moringen wird vielfach in der historischen Forschung nicht weiter betrachtet, aber es wird dabei vergessen, dass für sehr viele Frauen besonders in früheren Lagern, den Anfangspunkt einer langjährigen Verfolgung darstellt. In Moringen wurden Grundlagen gelegt, die später in anderen Lagern wie Lichtenburg und Ravensbrück weiter verschärft und weiter differenziert wurden. So etwa das Spitzelsystem, das Haftsystem und das Beurteilungssystem.“

(Stimmen und Verkehr)

Sprecherin:

Moringen. Auf den ersten Blick eine ganz normale Kleinstadt.
Bei näherem Hinsehen stellt man fest:
Moringen hat eine ungewöhnliche Geschichte.
Diese Geschichte wird von vielen Bürgern immer noch verdrängt.
Nur wenige mögen sich daran erinnern, dass es in Moringen ein KZ gegeben hat.

Es würde mich freuen, wenn sich nach diesen beiden Sendungen mehr Menschen an das Leid der Frauen im KZ-Moringen erinnern würden.

(Musik: Endless Journey-James Last -Instrumental)

© Ingeborg Lüdtke

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Bibelübersetzungen vor der Lutherbibel – „Das Jahr der Bibel 2003“

Die Sendung wurde am 10.Januar.2003 im StadtRadio ausgestrahlt

„Suchen. Und Finden. 2003. Das Jahr der Bibel“.

Die christlichen Kirchen, die Deutsche Bibelgesellschaft, das Katholische Bibelwerk sowie christlicheBibeln Vegelahn Werke und Verbände haben das Jahr 2003 zum Jahr der Bibel erklärt.

Diese Initiative hat drei Ziele:

Sie möchte:

1.) Die Bibel in die Öffentlichkeit tragen.
2.) Das Leben der Gemeinden stärken.
3.) Menschen für die Bibel begeistern.

In meiner heutigen Sendung möchte ich Sie gern für Bibelübersetzungen und Bibelausgaben besonders vor der Übersetzung von Martin Luther interessieren.

Besonders in Göttingen und Wolfenbüttel fand ich kompetente Gesprächspartner:

Zum einen habe ich mit Prof. Dr. Robert Hanhart über die Septuaginta-Übersetzung gesprochen:
Frau Dr. Christine Wulf berichtet über deutsche vorlutherische Bibelausgaben.
Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer berichtet über das Evangeliar Heinrichs des Löwen
und Dr. Helmut Rohlfing kann Interessantes über die Göttinger Gutenbergbibel berichten:

(Musikakzent)

Als erstes sprach ich mit Prof. Dr. Dr. Robert Hanhart über die Septuaginta-Übersetzung. Robert Hanhart war viele Jahre der Leiter des Göttinger „Septuaginta-Unternehmens“.

Die Septuaginta ist eine griechische Übersetzung.

Meine erste Frage an ihn lautete:

Was verbirgt sich hinter dem Begriff der „Septuaginta“?

Prof. Dr. Dr. Robert Hanhart:

Der Begriff „Septuaginta“ gleich 70 beruht auf der Entstehungslegende der „Septuaginta“, dem sogenannten „pseudepigraphischen Aristeasbrief“. Darin wird erzählt, dass 72 Älteste aus Jerusalem nach Alexandria befohlen worden sind, um das hebräische Alte Testament ins Griechische zu übersetzen. Aus jedem der 12 Stämme (Israels) waren es sechs Älteste: Das sind eigentlich 72. Die Zahl 70 ist dann als die „heilige Zahl“ legendenhaft gewählt worden. Und in dieser Legende steht, dass diese 70 Übersetzer auf Befehl oder in Vereinbarung zwischen dem Hohenpriester von Jerusalem und dem damaligen Oberherrn von Palästina dem Ptolemäer Ptolemaios Philadelphos II. nach Alexandria auf die Insel Pharos befohlen worden sind, um diese Übersetzung herzustellen. Die Legende ist dann später auch bei christlichen Autoren sehr stark noch weiter legendenhaft ausgebildet worden. So in dem Sinn, dass diese Übersetzung eine Art Inspiration dargestellt hätte. Die 70 Übersetzer hätten unabhängig voneinander übersetzt, trotzdem hätten sie jeden Satz genau identisch übersetzt.

Im ursprünglichen Text des Aristeasbriefes ist einfach von der Übersetzung des hebräischen Alten Testamentes ins Griechische durch diese 70 Übersetzer die Rede.

Ingeborg Lüdtke:

Wann ist die Septuaginta-Übersetzung entstanden?

Prof. Dr. Dr. Robert Hanhart

Das ist eine sehr schwierige Frage, weil wir dafür keine direkte Überlieferung haben. Im Aristeasbrief ist nur Rede von der Übersetzung der sogenannten Tora, also der fünf Bücher Moses und nicht von den übrigen Büchern. Das ist zweifellos ein historischer Kern im Aristeasbrief. … Wenn die Legende historisch-chronologisch stimmt, dann wäre diese Übersetzung des ersten Teils der fünf Bücher Moses zur Zeit des Ptolomaios Philadolphos entstanden und zwar zu Anfang des 3. vorchristlichen Jahrhunderts, so um 280 v. Chr. herum. Und zweifellos war das auch der Anfang. Wie der Reihe nach die späteren Bücher des AT dann entstanden sind, das lässt sich nur noch unter Vorbehalt postulieren, also nicht mehr nachweisen.

Ingeborg Lüdtke:

Warum ist die Septuaginta entstanden?

Prof. Dr. Dr. Robert Hanhart:

Man kann sagen, dass zu dieser Zeit Griechisch im Grunde die Weltsprache war. Zumindest war Griechisch die Reichssprache des mazedonischen Weltreiches und dessen Nachfolger. … Das hatte zur Folge, dass die Hebräische Sprache auch innerhalb von Palästina zurückgedrängt wurde. Es gab schon in Palästina viele Juden, auch in der Diaspora, vor allem in Ägypten, die nur noch das Griechische beherrschten und darauf angewiesen waren, ihre heiligen Texte in der Griechischen Sprache zu besitzen und sie in den Gottesdiensten anzuhören. Die Diaspora war schon sehr groß in dieser Zeit, sodass die Initiative für diese Übersetzung eigentlich von Alexandria ausging, wo schon eine große jüdische Gemeinschaft bestand.

Ingeborg Lüdtke:

Wurde in dieser Übersetzung das Tetragramm für den Namen Gottes benutzt?

Prof. Dr. Dr. Robert Hanhart:

Das ist eine fasst ebenso umstrittene Frage, wie die vorhin besprochene. Das Tetragramm, also der Name Gottes Jachwe in hebräischen Lettern, ist in dieser Form auch in die griechische Tradition übernommen worden und nicht in griechischer Schrift, sondern in einer leichten Transformation der Obere Karsüle Göttingenhebräischen Lettern. Die wenigsten Übersetzungstexte der Septuaginta sind jüdischen Ursprungs, weitaus die meisten, 99% sind aus christlicher Tradition. Alle Texte, die aus jüdischer Tradition stammen und auch sehr alt sind (zum Teil vorchristlich) haben in ihren griechischen Texten das Tetragramm in dieser Form der hebräischen Umschrift. Daraus hat sich die Diskussion entsponnen:

Müssen wir daraus schließen, dass die Ersetzung des Tetragramms durch einen griechischen Begriff, nämlich dem Kyrios erst christlichen Ursprungs ist? Weil er ja nur in christlichen Handschriften nachweisbar ist und dort aber ausnahmslos. Ich glaube das dieser Schluss nicht richtig ist, und zwar aus folgendem Grund: Der Name Kyrios als Bezeichnung von Israels Gott war in griechischen jüdischen Schriften der hellenistischen Zeit schon sehr verbreitet, etwa in der Weisheit Salomos, in den Makkabäerbüchern und bei Philo. Er war schon eigen eingebürgert, als Gottes Name für den Gott Israels und wir haben einen zweiten Anhaltspunkt: Der Name Jachwe, durfte von einer bestimmten Zeit an wegen seiner Heiligkeit nicht mehr ausgesprochen werden, darum finden wir in hebräischen Handschriften an Stellen, wo ursprünglich dieser Name Jachwe stand in den masoretischen Handschriften als Ersatz den Namen Adonai. Diese Furcht vor dem heiligen Namen gab es selbst auch schon sehr früh. Wir können ihn in der sogenannten Damaskusschrift nachweisen, die wahrscheinlich ins 2. vorchristliche Jahrhundert fällt. Und für mich ist es völlig eindeutig, dass dieses hebräische Theologomen der Ersetzung von Jachwe durch Adonai die Vorstufe war und von daher der Kyrios-Name von Anfang an in der Septuaginta gewesen ist; und dass die in den griechisch jüdischen Handschriften vorkommende Transposition in das Tetragramm bereits ein Sekundärstadium darstellte. Aber da sind andere Kollegen anderer Meinung….

Ingeborg Lüdtke:

Können Sie auch noch etwas zu den Funden am Toten Meer sagen?

Prof. Dr. Dr. Robert Hanhart:

Zum allergrößten Teil sind es ja hebräische oder aramäische Funde, aber es sind auch griechische dabei, und unter diesen ist einer ganz besonders wichtig. Er wird ungefähr in die Zeit des Apostels Paulus Mitte des ersten christlichen Jahrhunderts gesetzt. Es ist ein großer Teil des Septuaginta-Text des 12-Prophetenbuches, aber nicht vollständig erhalten. Und was an diesem Text hoch interessant ist, ist dass er zum großen Teil die Septuaginta überliefert, wie wir sie aus den vollständigen christlichen Handschriften … kennen. Er enthält zahlreiche Stellen, die diesen Septuaginta-Text gegenüber Rezensionselemente enthalten. Diese Rezensionselemente sind immer Angleichungen an den hebräischen Text, der in der vorangehenden Übersetzung frei oder vom hebräischen Text, wie wir ihn aus den masoretischen Handschrifen kennen, abweichend übersetzt worden war. Darum ist dieser Text für die Textforschung an der Septuaginta äußerst wichtiger Text, weil er uns zeigt, dass schon in jüdischer Zeit, in der Zeit des hellenistischen Judentums, ein älterer Text aus der Septuaginta nach dem hebräischen korrigiert worden ist. Also genau, das was wir immer schon als die große Arbeit des Kirchenvaters Origenes kannten. Das ist schon in ähnlicher Weise von Juden in vielleicht vorchristlichen (Stadium) gemacht worden.

Ingeborg Lüdtke:

Wozu wird die Septuaginta heute noch benutzt?

Prof. Dr. Dr. Robert Hanhart:

Hierzu müsste man zwei sehr unterschiedliche Dinge ansprechen. Das eine ist der Kanon der Septuaginta und das andere ist die Septuaginta an den Stellen, wo sie einen besseren Text überliefert als im Hebräischen. Die Septuaginta ist heute unentbehrlich aus dem Grund, weil sie einige Bücher enthält, die nur in ihr enthalten sind und nicht im hebräischen Kanon der Masoreten und das sind die sogenannten Apokryphen, die etwas in der Lutherbibel drinstehen mit dem schönen Satz: … „Das sind Bücher so der heiligen Schrift nicht gleichgehalten und doch nützlich und gut zu lesen“, nämlich: Judith, Sabiecia, Tobit, Sirach, Baruch, Maccabaer und die Stücke in Esther und Daniel. Die sind nur in der Septuaginta und das zum großen Teil nur in Griechisch überliefert, zum Teil auch von Haus aus Griechisch entstanden und beruhen nicht auf einer hebräischen Vorlage. Sie gehören dem alexandrinischen Kanon der Septuaginta an. Das ist die eine Seite, die einfach zeigt, dass die Septuaginta neben dem hebräischen Text eine Bedeutung hat, die über das hinausgeht, was in dem hebräischen Text enthalten ist.

Und der 2. Aspekt der Bedeutung der Septuaginta liegt darin, dass die Septuaginta oft nachweisbar den älteren und besseren Text überliefert als die hebräische Überlieferung. Wir müssen dabei auch bedenken, dass die hebräischen Handschriften heute das vollständige Alte Testament enthalten. Sie sind später (entstanden) als die ältesten vollständigen Handschriften, die wir von der Septuaginta besitzen, Die sogenannten masoretischen Handschriften, aus denen unser hebräischer Text besteht, stammen aus dem 8. Jahrhundert. Die älteste Septuaginta-Handschrift Vaticanus stammt aus dem 4. Jahrhundert nach Christus. Von daher ist es ja auch zu erwarten, dass es Überlieferungen in der Septuaginta gibt, die besser sind als die Hebräischen, obwohl der hebräische Text als Ganzes die Vorlage für die Übersetzung der Septuaginta ist. Ich möchte an einem Beispiel erläutern, wie aus welchem Grund die Septuaginta für die Übersetzung für die Exegese der Gegenwart sehr wichtig ist. Eines der sogenannten Gottesknechtslieder im Buch Jesaja enthält eine Stelle, wo es darin heißt: “Aus der Mühsal seiner Seele wird er sehen, wird er satt werden“. (Hebräisch Zitat).

Man hat immer darüber gestritten und es nicht verstanden, was es bedeutet hier: “Er wird sehen“. Man erwartet doch, dass ein Objekt dazugekommen muss. Was wird er sehen? Und in der Septuaginta steht an dieser Stelle: „Epidei … Ihm das Licht zu zeigen“, das heißt: „Er wird das Licht sehen.“ Und nun ist der hebräische Text anstelle vom masoretischen überlieferten: „Jir ä (?)“ in Qumram in einer vollständigen Jesaja-Handschrift (wahrscheinlich so aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert) gefunden worden und in diesem steht nun tatsächlich dieses hebräische O. Also die Bedeutung ist: „Aus der Mühsal seiner Seele wird er das Licht sehen.“ Das steht in der Lutherbibel noch nicht, das steht in der Zürcher Bibel noch nicht. Dort heißt es bei Luther: „Er wird seine Lust sehen.“ Das “seine Lust“ ist einfach ergänzt. In der Zürcher Bibel: „Er wird sehen und satt werden. Er wird sich satt sehen, wobei der nächst folgende Begriff ist „Jes bar“ (?) „satt werden“ heißt. Ich habe jetzt in anderen Bibelübersetzungen nachgeschaut und habe in der Jerusalemer Bibel festgestellt, dass dort nun der Text aufgrund dieses neuen Fundes anders lautet nämlich: „Nach der Mühsal seiner Seele wird er Licht sehen.“

Das wären so kleine Verbesserungen, die sich heute durch neue Funde aufgrund der Septuaginta ergeben können. Aber man macht sich da immer zu große Illusionen. Es bleiben immer so kleine ergreifend schöne Erkenntnisse, aber es gibt nie einen Umsturz. Die Bibeltradition im großen und ganzen bleibt auch durch die Fund vom Qumran die gleiche.

(Musik)

Nun folgt ein weiteres Gespräch mit Frau Dr. Christine Wulf. Sie arbeitet an der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Sie arbeitet dort im Bereich Deutsche Inschriften des Mittelalters und der frühen Neuzeit in Niedersachsen. Sie hat ihre Dissertation über vorlutherische Bibeln geschrieben.

Ingeborg Lüdtke:

Das älteste germanische Literaturdenkmal ist eine gotische Bibelübersetzung.Wer hat diese Bibel übersetzt und mit welchen Schwierigkeiten war die Übersetzung verbunden?

Dr. Christine Wulf:

Die älteste Bibelübersetzung in eine germanische Sprache wird auf den westgotischen Bischof Wulfila zurückgeführt, … sie ist im 4. Jahrhundert entstanden und sie ist uns noch in Bruchstücken erhalten und diese Bruchstücke umfassen Texte aus dem NT, Evangelien und die Briefe des Apostels Paulus. … Der Ausgangstext für diese Übersetzung ist eine griechische Bibel. Für die späteren Übersetzungen im Mittelalter ist immer der Ausgangstext Lateinisch. … Die besondere historische Leistung Wulfilas besteht darin, dass er diese komplizierten Glaubensinhalte der Bibel in einer Sprache formulieren musste, die bis dahin überwiegend eine Sprache von Kriegern war, in der solche Sachverhalte, wie sie in der Bibel ausgedrückt sind, nur schwer auszudrücken waren. Deshalb ist Wulfilas Leistung darin zu sehen, dass zunächst einmal eine einheitliche Schriftsprache dafür geschaffen werden musste…

Ingeborg Lüdtke:

Welche vorlutherischen „deutschen“ Bibelübersetzungen gab es?

Dr. Christine Wulf:

Also die deutsche Bibelübersetzung des Mittelalters ist geprägt von einer großen Vielfalt. Grundsätzlich muss man sich klarmachen, dass die Idee eine deutsche Bibel von den Büchern Moses …bis hin zur Apokalypse zu übersetzten in einem Stück, dem mittelalterlichen Übersetzer fremd ist. Wir haben vielmehr eine Fülle von Übersetzungen einzelner Bücher vor allem des Psalters … die Briefe des neuen Testments wurden innerhalb von Perikopenbüchern übersetzt. Perikopenbücher sind solche Bücher, die die Gesamtheit der Lesungen, die in einem Gottesdienst vorkommen umfassen. … Darüber hinaus haben wir immer mit unendlich vielen spontanen Übersetzungen kleinerer und größerer Passagen aus der Bibel zu rechnen, … Diese Übersetzungen im Mittelalter wollten eigentlich nur Hilfen beim Studium der lateinischen Bibel sein. Die deutschen Bibel sollten nur zum Verständnis der lateinischen Bibel helfen.

Es gibt in der Zeit des 8. – 12. Jahrhunderts die Evangelienharmonie des Tatian, außerdem eine kommentierte Psalmenübersetzung Notkers und eine Übersetzung des Hohenliedes und der Psalmen von Williram von Ebersberg. Im 14. Jahrhunderts setzt eine neue Epoche der übersetzerischen Auseinandersetzung mit der lateinischen Bibel ein. Soweit wir die Übersetzungen des 14. Jahrhunderts heute überblicken, hat es zwei Übersetzungen der gesamten Bibel gegeben.

Eine weitere hat nur das AT umfasst und eine vierte nur das NT. Außerdem kommt im 15. Jahrhundert eine Übersetzung der Bibel in niederdeutscher Sprache noch dazu und wahrscheinlich Ende des 15. Jahrhunderts noch eine Zweite, die aber nicht völlig neu übersetzt die alte niederdeutsche Übersetzung nur ein bisschen revidiert.

Ingeborg Lüdtke:

Wann wurden deutsche Bibelübersetzungen gedruckt?

Dr. Christine Wulf:

Die erste deutsche Bibel wurde im Jahre 1466 in Straßburg gedruckt, die erste niederdeutsche Bibel in Köln im Jahre 1478 oder 1479. Die letzte niederdeutsche Bibel ist im Jahre 1522, also ganz kurz vor Erscheinen von Luthers „Septembertestament“ in Halberstadt gedruckt worden. Die letzte gedruckte hochdeutsche Bibel stammt aus dem Jahre 1518 und ist in der Druckerei des Silvan Otmar in Augsburg entstanden.

Ingeborg Lüdtke:

Wer waren die Übersetzer der vorlutherischen Bibeln?

Dr. Christine Wulf:

Die Übersetzer der deutschen Fassungen sind überwiegend anonym. … Das heißt der Druck passiert in relativ großen Abstand von der Entstehung der Übersetzung. Bei der Kölner Bibel wissen wir zumindest in etwa das Profil des Übersetzers. Er kommt wahrscheinlich aus der Gruppe der „Brüder vom Gemeinsamen Leben“, das ist eine Frömmigkeitsbewegung, deren Mitglieder gemeinschaftlich lebten und die sich insbesondere der Verbreitung religiöser erbaulicher Schriften in der Volkssprache widmeten.

Ingeborg Lüdtke:

Wer finanzierte den Bibeldruck?

Dr. Christine Wulf:

Für die hochdeutschen Drucke, also die Bibeln, die in Straßburg, Augsburg und in Nürnberg entstanden sind, wissen wir darüber nichts. Wahrscheinlich haben sie die überwiegend sehr wohlhabenden Druckerherren Koberger, Mentelin, Schönsberger und Otmar auf eigenes Risiko finanziert. Die Auflagen sind relativ gut abgesetzt worden, jedenfalls haben wir keine Nachricht darüber, dass einer von den Bibeldruckern in unmittelbarer Nachfolge eines solchen Bibeldrucks Pleite gegangen wäre. Die Kölner Bibel wurde wahrscheinlich von einem Konsortium finanziert und auch mit dem Know-how der Druckerei Koberger gedruckt. Diesem Konsortium haben wahrscheinlich der Drucker Quentel und ein anderer Kölner Drucker von Unkel angehört und der Kölner Drucker Johann Hellmann. Der Nürnberger Drucker Anton Koberger hat für sein finanzielles Engagement beim Druck der Kölner Bibel die Druckstöcke qualitativ ausgezeichneten Holzschnitte der Kölner Bibel erhalten.

Ingeborg Lüdtke:

Wer waren die Käufer der deutschen Übersetzungen?

Dr. Christine Wulf:

Wer zu ihren Käufern zählte und zu welchem Zweck entzieht sich nahezu vollständig unserer Kenntnis
. Für das Wenige, was wir darüber wissen, sind wir auf … das … angewiesen, was ihre Besitzer in sie hineingeschrieben haben … Frauenklöster und Angehörige der städtischen Oberschicht sind sicherlich die wichtigste Leser- und Käufergruppe für diese Drucke.

Ingeborg Lüdtke:

Wozu wurden diese Bibeln benutzt?

Dr. Christine Wulff:

Auch für diese Frage sind wir im Wesentlichen auf die Eintragungen angewiesen, die die die Käufer in ihrem Exemplaren angebracht haben. Die meisten der Drucke sind sind von ihren Erstbesitzern individuell im Hinblick auf ihren konkreten Gebrauch eingerichtet worden. Handschriftliche Register der Epistel- u. Evangelienlesungen oder Markierungen der gottesdienstlichen Lesungen im Text sind … eingetragen worden. Diese Markierungen zeigen, dass die deutschen Bibelübersetzungen … zur Vorbereitung auf die in der auf lateinischen Messe gelesenen Bibeltexte benutzt worden sind. In anderen Exemplaren stehen am Anfang tabellarische Kapitelinhaltsübersichten, oft ergänzt durch Seitenverweise, die dem Leser eine Orientierung in dem noch nicht durch Hervorhebungen oder inhaltsweisende Kolumnentitel erschlossenen Text der früheren Bibeldrucke erleichterten. Solche Inhaltsübersichten sind auch in einzelnen Bibelhandschriften anzutreffen und sind dort … deutlich mit dem Konzept einer Lesebibel für Laien verbunden. … Hin und wieder ist auch besonders der deutsche Psalter in diesen Drucken so eingerichtet worden, dass man ihn parallel zum lateinischen Psalter als Vorbereitung auf die lateinischen Psalmenlesungen im Gottesdienst verwenden konnte.

(Musik)

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer
ist [Anm.: bis Juni 2015] der Direktor der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Mit ihm sprach ich über das Evangeliar Heinrichs des Löwen.

Ingeborg Lüdtke:

Was ist das Evangeliar Heinrichs des Löwen?

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer:

Also das Evangeliar Heinrichs des Löwen ist eine kostbare Handschrift, die Heinrich der Löwe in Braunschweig in Auftrag gegeben hat. Diese Handschrift gehört zu den kostbarsten und einzigartigen Buchmalereien der staufischen Epoche.

Ingeborg Lüdtke:

Wann und wo ist es entstanden?

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer:

Die Handschrift ist wahrscheinlich in der Zeit um 1188 entstanden, als der Marienaltar im Braunschweiger Dom gebaut worden ist, denn dafür ist diese Handschrift in Auftrag gegeben worden. Diese Handschrift wurde in dem Kloster Helmershausen geschrieben, in einer Reichsabtei, die sich in der Harzgegend befindet.

Ingeborg Lüdtke:

Wer hat es jetzt angefertigt?

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer:

Es gibt am Anfang dieser Handschrift ein Widmungsgedicht und da ist von einem Mönch Herimann die Rede. Es ist aber nicht ganz sicher, ob er der Schreiber oder der Künstler war, der es ausgeformt und illustriert hat oder ob es einer war, der diese Schreibstube beaufsichtigt hat. Das blieb etwas undeutlich.


Ingeborg Lüdtke:

Wofür ist das Evangeliar überhaupt benutzt worden?

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer:

Das Evangeliar wurde zum Altardienst benutzt. Es repräsentiert die Anwesenheit Christi während der Messe. Es wurde auch bei den Prozessionen vorangetragen und auf dieses Werk haben auch Herrscher, Kaiser und Könige ihre Hand daraufgelegt und den Eid gesprochen. Aber das Werk ist wohl nur selten wirklich zum Lesen verwendet worden, weil es schon von Anfang an als so kostbar galt. Aber sicherlich ist auch gelegentlich verwendet worden und die Evangelientexte, die im Kirchenjahr gelesen werden, konnten dann daraus abgelesen werden.

Ingeborg Lüdtke:

Warum ist das Buch jetzt so wertvoll?

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer:

Das Buch ist so wertvoll, weil es so reichhaltig illustriert ist. Es hat 50 ganzseitige Miniaturen. In kleiner detaillierter Darstellung wird die Bibel dargestellt. Auch der Herrscher selbst, Heinrich der Löwe und seine Frau wird dargestellt. Diesen kostbaren Bildschmuck gibt es in dieser Art in keiner anderen Handschrift aus dem Mittelalter und deswegen ist es so wertvoll. Es ist ja auch ein sehr umfangreiches Werk.

Ingeborg Lüdtke:

Es umfasst ja nur die vier Evangelien.

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer:

Ja genau, die vier Evangelien, also die Berichte über das Leben Jesu, die den Kern der christlichen Texte ausmachen.

Ingeborg Lüdtke:

Was ist jetzt das Besondere an dem Buch?

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer:

Ja, das Besondere ist, das es immer noch vollständig erhalten ist. In einem ganz besonderen Erhaltungszustand ist, das sehr viel Purpur und Gold, also herrscherliche Materialien verwendet worden sind und das die Malereien in Farbigkeit und Leuchtkraft so ungetrübt sind, als wären sie grade erst hergestellt. Das macht dieses Buch so herausragend zusammen mit seinem großen Umfang. Und deswegen ist es ja, eigentlich nicht zu vergleichen mit anderen Handschriften, Pergamenthandschriften aus dem Mittelalter, ragt eben ganz hoch heraus aus der Vielfalt von Handschriften, die es sonst noch gibt.

Ingeborg Lüdtke:

Das Evangeliar soll ja das teuerste Buch der Welt sein.

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer:

Das ist richtig. Es hat 10 Millionen britische Pfund gekostet, als es 1983 zum Vorschein kam und dann in London ersteigert wurde. Inzwischen ist für eine Handschrift von Leonardo da Vinci von Bill Gates noch mehr bezahlt worden. Aber bis dahin war das Evangeliar Heinrichs des Löwen das teuerste Buch des Welt.

Ingeborg Lüdtke:

Wie gelangte es wieder nach Wolfenbüttel?

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer:

Ja, es ist eben, im 19. Jahrhundert kam es jetzt wieder in den Besitz des Welfenhauses und ist dann aber im Laufe des 20 Jahrhunderts irgendwie wieder verloren gegangen. Jedenfalls weiß man nicht wo es war. Es tauchte dann 1983 in London auf und wurde dort zur Versteigerung angeboten. Dort hat es dann das Land Niedersachsen zusammen mit der Bundesrepublik Deutschland und dem Freistaat Bayern und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ersteigert. Es gibt also vier Eigentümer und der Haupteigentümer ist das Land Niedersachsen und deswegen wurde auch beschlossen, dass dieses Evangeliar in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel aufbewahrt wird.

Ingeborg Lüdtke:

Wenn ich mir das Evangeliar als ganz normaler Mensch ansehen möchte, welche Möglichkeiten habe ich dann überhaupt?

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer:

Also ersten ist es so, das es natürlich der Forschung zur Verfügung steht, aber es gibt auch ein Faksimile und deswegen wird jeder Interessent zunächst mal auf das Faksimile, auf sie fast ganz identische Kopie, dieser Handschrift verwiesen. Diese Handschrift im Original nur jedes Jahr einmal gezeigt … und dann nur für eine befristete Zeit, damit diese Handschrift nicht so lange Zeit aufgeschlagen in dem Tresor hinter Sicherheitsglas liegt, denn jede aufgeschlagene Pergamenthandschrift führt dazu, dass sich die Blätter und auch die Bindung verzieht und um dieses kostbare Werk möglichst unbeschadet den nächsten Generationen zu übergeben, müssen wir sehr sorgfältig sein und wir werden es wohl auch nicht mehr aus Wolfenbüttel in eine Ausstellung transportieren, weil auch der Transport solche Handschriften immer beeinträchtigt, denn das Blattgold, das dort aufgelegt ist und auch die Farben können bei kleinen Erschütterungen schon scheuern und das wollen wir natürlich vermeiden.

Ingeborg Lüdtke:

Dieses Faksimile oder die Kopie befindet sich jetzt ja in der Bibliothek in Wolfenbüttel?

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer:

Wir haben auch sogar mehrere Faksimiles. Man kann das Faksimile auch kaufen. Es ist aber auch schon sehr teuer. Ein Faksimile kostet etwa 30000,- DM oder jetzt 15000,- Euro. Für Liebhaber dann sicherlich schon erschwinglich, aber für den Durchschnittsverbraucher immer noch ein sehr teueres Werk, aber es natürlich mit großem Aufwand hergestellt. Für wissenschaftliche Zwecke kann man das Faksimile benutzen und dadurch einen Eindruck von dem Werk gewinnen. Man kann es frei durchblättern ohne Angst haben zu müssen, ein kostbares ja fast 800 Jahre altes Original beschädigen zu können.

Ingeborg Lüdtke:

Eine Kopie soll sich im Braunschweiger Dom befinden.

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer:

Ja, dort liegt auch ein Faksimile. Natürlich haben die Braunschweiger gehofft, dass das Evangeliar, welches ja für den Braunschweiger Dom hergestellt wurde, dort hinkommt. Die Herzog- August- Bibliothek ist aber die Bibliothek des alten Landes Braunschweig mit der größten Handschriftensammlung in Niedersachen und deshalb ist das Evangeliar auch ganz richtig dort untergebracht. Das Evangeliar liegt in einem hoch gesicherten Tresor, so dass es also bestmöglich gesichert ist.

(Musik)

Mit Dr. Helmut Rohlfing von der Niedersächsischen Staats-u-Universitätsbibliothek Göttingen-Abtl. Handschriften und Seltene Drucke sprach ich über die Göttinger Gutenbergbibel. Meine erste Frage an ihn war:

Ingeborg Lüdtke:

Wann und wo wurde die Göttinger Gutenbergbibel gedruckt?

Dr. Helmut Rohlfing:

Wir wissen nicht genau, an welchem Datum sie gedruckt wurde, aber wir sind ziemlich sicher, dass sie um das Jahr 1455 in Mainz gedruckt worden ist, der Vaterstadt von Johannes Gutenberg.

Ingeborg Lüdtke:

Was ist das Besondere an dieser Gutenbergbibel?

Dr. Helmut Rohlfing:

Das Besondere an dieser Bibel ist, dass sie das erste große gedruckte Werk in der Geschichte des Frühdrucks ist. Das Besondere an diesem Exemplar ist die Tatsache, dass es auf Pergament gedruckt ist und dass Pergamentexemplare der Gutenbergbibel wesentlich seltener sind als die Papierexemplare.

Ingeborg Lüdtke:

Wie hoch war die Auflage der Gutenbergbibel?

Dr. Helmut Rohlfing:

Man weiß auch das nicht ganz genau; denn es haben sich keine Notizen von Johannes Gutenberg gefunden, auf denen die Auflage vermerkt wurde. Man rechnet heute damit, dass es eine Auflage von insgesamt 180 Exemplaren war und dass von diesen 180 Exemplaren wahrscheinlich 30 bis 40 auf Pergament gedruckt waren.

Ingeborg Lüdtke:

Wie viele Exemplare gibt es heute noch?

Dr. Helmut Rohlfing:

Es gibt insgesamt noch 49 vollständige und unvollständige Exemplare der Gutenbergbibel, und von diesen 49 Exemplaren sind 12 Pergamentexemplare erhalten,Gutenberg Bibel von denen nur vier im Text vollständig überliefert wurden. Bei diesen vier Bibeln fehlt kein einziges Blatt, und das auch bei der Göttinger Bibel ist der Fall. Sie ist also das einzige Exemplar in einer deutschen Bibliothek, das im Text vollständig ist.

Ingeborg Lüdtke:

Wie kam die Gutenbergbibel nach Göttingen?

Dr. Helmut Rohlfing:

Da ist eine etwas verworrene Geschichte. Die Bibel hat fast zwei Jahrhunderte zugebracht im Besitz der Universitätsbibliothek Helmstedt. Die Universität Helmstedt wurde von König Jerome, dem König von Westphalen, im Jahre 1809 aufgelöst, und der gesamte Bücherbestand aus Helmstedt ist nach Göttingen gekommen und wurde hier von den Bibliothekaren auch katalogisiert, das heißt in die Kataloge eingetragen. Nach Ende der französischen Besatzung 1815 mussten aber leider alle Helmstedter Bücher wieder abgegeben werden. Dabei ist dann die Gutenbergbibel nicht zurückgegeben worden. Das führt natürlich zu gewissen kritischen Bemerkungen von Seiten der Wolfenbütteler Kollegen, die den Großteil der alten Helmstedter Bibliothek übernommen haben.

Ingeborg Lüdtke:

Kann man sich die Bibel auch ansehen?

Dr. Helmut Rohlfing:

Die Bibel kann man tatsächlich anschauen; denn uns ist bewusst, dass ein großes Interesse in der Öffentlichkeit daran besteht. Wir haben sie im Jahr 2000 in einer großen Gutenberg-Ausstellung längere Zeit gezeigt und haben uns dann aber überlegt, dass wir doch versuchen wollen, mehrere Monate im Jahr den ersten oder den zweiten Band der Bibel hier in der Paulinerkirche im Schatzhaus zu präsentieren. (Das ist im Jahr 2002 auch geschehen.) Man kann aber darüber hinaus natürlich virtuell in der Bibel blättern, wenn man ins Internet geht. Die Göttinger Bibliothek war weltweit die erste, die die komplette Gutenbergbibel eingescannt und der Öffentlichkeit unentgeltlich im Internet zur Verfügung gestellt hat.

Ingeborg Lüdtke:

Wenn man heute die Gutenbergbibel kaufen wollte, was müsste man jetzt für diese Bibel bezahlen?

Dr. Helmut Rohlfing:

Das kann man nicht immer einfach beantworten. Der Wert eines Buches lässt sich nur beurteilen, wenn man als Anhaltspunkt Auktionen oder Verkäufe in der jüngeren Vergangenheit heranziehen kann. Es ist schon eine gewisse Zeit her, dass in den 1980er Jahren ein Papierexemplar einer Gutenbergbibel versteigert wurde, von diesem Exemplar aus kann man den heutigen Wert schätzen. Aber ich kann vielleicht einmal sagen, wie der Wert der Bibel zu Zeiten Gutenbergs geschätzt wurde. Man kann sagen, dass ein mehrstöckiges und relativ geräumiges Bürgerhaus in einer mittelalterlichen Stadt in Deutschland dem Gegenwert eines Pergamentexemplars entspricht. Wenn man sich also vielleicht in der heutigen Zeit eine große, gut ausgebaute Stadtvilla vorstellt, dann weiß man genau, dass das der Mindestwert ist, den dieses Stück heute erzielen würde.

Ingeborg Lüdtke:

Johannes Gutenberg hat zwar seine Spuren hinterlassen, aber über ihn weiß man recht wenig.

Dr. Helmut Rohlfing:

Auf jeden Fall ist es wohl als gesichert anzusehen, dass er aufgrund seiner Vorbildung und seiner Ausbildung (er hat ja das Goldschmiedehandwerk gelernt) in der Lage war, dieses Bündel von Johannes GutenbergErfindungen zu schaffen, das es ihm möglich gemacht hat, Bücher zu drucken. Dazu gehörte es nicht nur, die Druckerpresse zu bauen, sondern vor allen Dingen, ein kleines Instrument zu erfinden mit dem die Typen gegossen werden. Das ist eigentlich der Kern dieser Erfindung, das Handgießinstrument, mit dem die Typen hergestellt werden. Gutenberg musste im Grunde die Schriftzeichen, die in einem mittelalterlichen Manuskript zu sehen sind, reproduzieren. Er ist dann auf die Idee kommen, dass die Zeichen mechanisch so hergestellt werden konnten, dass er ein ganzes Reservoir an solchen Typen erzeugte, die er dann in immer neuen Zusammensetzungen zusammenfügen konnte, um unterschiedliche Texte zu drucken. Aber er hat ein sehr interessantes Leben geführt mit Höhen und Tiefen und allen Unsicherheiten, die es damals in der Zeit gegeben hat. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Auswirkungen der Erfindung des Buchdrucks gewaltig gewesen sind.

Ingeborg Lüdtke:

Aber das mit den beweglichen Lettern, das war ja schon…

Dr. Helmut Rohlfing:

Um die Erfindung gab es auch Legenden, und um Einzelheiten hat es auch Streit gegeben. Vieles lässt sich einfach nicht beweisen. Das ist im Grunde genommen auch letztlich nicht entscheidend. Natürlich hat man in China und in Korea auch schon vor Gutenberg mit beweglichen Typen gedruckt wird. Entscheidend ist jedoch, dass der Siegeszug dieser neuen Technologie stattgefunden hat, nicht in China, nicht in Korea, sondern in Europa. Und dass es nur zwanzig bis dreißig Jahre gedauert hat, bis sich diese Technologie über den gesamten europäischen Raum verbreitet hat. Und das ist es, was dem Buchdruck eine enorme kulturhistorische Bedeutung verliehen hat.


Ingeborg Lüdtke:

Wie konnte Johannes Gutenberg seine Erfindung finanzieren?

Dr. Helmut Rohlfing:

Um seine Erfindung machen zu können, hat er sich Geld leihen müssen von dem Mainzer Geschäftsmann Johannes Fust. Gutenberg konnte den Kredit nicht zurückzahlen, und dann hat es darum eine prozessuale Auseinandersetzung gegeben, die von dem Notar Helmasperger geschlichtet und entschieden worden ist. In einer Urkunde, die hier in Göttingen vorhanden ist, im sogenannten Helmaspergerschen Notariatsinstrument, wurde festgelegt, dass Gutenberg seine Druckerpressen und das Werkstattinventar an Fust und Peter Schöffer abgeben musste. Danach hat er sich eigentlich nur noch von kleineren Aufträgen ernähren können, deswegen ging es ihm dann in der Zeit anschließend eigentlich solange schlecht, bis er von seinem Landesherrn ein Stipendium, würde man heute sagen, bekommen hat. Aber interessant an der Geschichte ist, dass diese Übernahme der Gerätschaft durch Fust und Schöffer dazu geführt hat, dass diese eben dann das große Geschäft gemacht haben. Sie haben eine florierende Gemeinschaftsdruckerei gegründet, und sie waren auch die ersten, die in ihren Büchern das Druckdatum, ihre beiden Namen und sogar das Signet ihrer Druckerei, also das Impressum vermerkt haben. Es gibt keinen einzigen Druck von Johannes Gutenberg, in dem sein Name oder das Datum auftaucht. Dadurch dass Schöffer und Fust ihre Drucke kennzeichneten, ist dann in späteren Jahrhundertender Eindruck entstanden, dass Peter Schöffer der eigentliche Erfinder des Buchdruckes gewesen sei. Mehr als zwei Jahrhunderte danach tauchte in Göttingen das Helmaspergersche Notariatsinstrument wieder auf. Ein Göttinger Professor schenkte schon im 18. Jahrhundert der Bibliothek diese Urkunde und edierte sie. Dadurch kam es dann zu einem Neubeginn der Erforschung des Frühdrucks und zu einer Rückbesinnung auf Gutenberg. Aus dem Grunde ist es so wichtig, dass natürlich die Gutenbergbibel und weitere Stücke aus der Zeit der Erfindung des Buchdrucks hier in Göttingen in einer Stelle vereint bleiben.

Ingeborg Lüdtke:

Die Gutenbergbibel kann man sich ja nun im Internet ansehen.

Dr. Helmut Rohlfing:

Die Tatsache, dass die Bibel digitalisiert worden ist und ins Internet gestellt worden ist, hat wesentlichen Anteil daran gehabt, dass sie ins Weltkulturerbe aufgenommen worden ist. Es gibt ein Unesco-Programm mit der Bezeichnung „Memory of the World“, in dem herausragende Dokumente der Menschheits- geschichte vorgestellt werden sollen. In dieses Programm ist eben die Göttinger Gutenbergbibel mit dem Musterbuch und dem Notariatsinstrument aufgenommen worden, und dabei hat eben auch eine Rolle gespielt, dass die Bibliothek sich bemüht hat, das Wissen um die Bibel doch auch einer größeren Menge von Menschen in aller Welt zur Verfügung zu stellen.

(Musik)

Wussten Sie eigentlich, dass in Göttingen auch eine Bibel verlegt wird?

Johannes Wilhem Hans Jessen hat das NT ins holsteinische Plattdeutsch übersetzt. 1933 wurde das plattdeutsche NT in Braunschweig herausgegeben. Seit 1937 erscheint eine 2 .Auflage im Göttinger Verlag Vandenhoeck & Ruprecht unter dem Titel „Das nie Testament in unsre plattdütsche Moderspraak“. In diesem Werk sind auch Auszüge des AT enthalten. Das Vaterunser in hollsteinischen Plattdeutsch klingt dann so:

„Unser Vader …..“ (gelesen von Elfriede Liebermann).

(Musik -irish Prayer-Paternoster)

Bibeln VegelahnZum Schluß möchte ich Sie noch auf eine Bibelausstellung in der Kreisvolkshochschule in OHA aufmerksam machen. Karlo Vegelahn zeigt eine Woche lang seine Bibelsammlung:Bibeln Vegelahn

„Meine älteste Bibelübersetzung, die ich zeigen werde, ist aus dem Jahr 1530 und zwar ist es der Prophet Daniel von Martin Luther übersetzt. Die Bibelausstellung beginnt am 27. Juni 2003.“

(Musik)

Ich hoffe, ich konnte Ihr Interesse für alte und neue Bibelausgaben und Übersetzungen wecken.

(Musikakzent)

 

© Ingeborg Lüdtke

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„Religionsfreiheit“ – was ist das?

Die Sendung würde im StadtRadio Göttingen am 14. Januar 2005 ausgestrahlt.

Wussten Sie eigentlich, dass die Religionsfreiheit gar nicht so selbstverständlich ist?
Haben Sie schon einmal etwas von positiver oder negativer Religionsfreiheit gehört?
Und genau um die Religionsfreiheit geht es jetzt in meiner folgenden Sendung.
Natürlich kann ich mich hier nur mit einem Bruchteil der Religionsfreiheit beschäftigen.

Ich habe ein paar Gesichtspunkte für Sie herausgegriffen:

Was bedeutet der Begriff Religionsfreiheit?
Was wurde unternommen, um die Religionsfreiheit zu verankern?
Das Religionsangebot der letzten vier Jahrzehnte in Deutschland
Die Erforschung der Konflikte und Probleme mit neuen Jugendreligionen und „sogenannten Sekten“.

Und aus aktuellem Anlass: die Verleihung der Körperschaftsrechte des öffentlichen Rechts an Religionsgemeinschaften.
Was hat es mit dem Kopftuchverbot auf sich?

Bleiben Sie doch dran und hören einfach mal rein….

(Freiburger Spielleyt -Gesang):

1. Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten,
sie ziehen vorbei,
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger sie schießen,
es bleibet dabei:
die Gedanken sind frei!

Was bedeutet Religionsfreiheit persönlich für Sie?
Bedeutet es für Sie, die Freiheit zu glauben und zu denken was Sie wollen?

Das Brockhaus-Lexikon definiert die Religionsfreiheit wie folgt:

„..das Recht auf freies Bekenntnis zu einer Religion (Bekenntnisfreiheit) und das Recht auf freie Religionsausübung (Kultfreiheit), oft gleichbedeutend mit dem stärker auf das individuelle Recht bezogenen Begriff der Glaubensfreiheit“.

Das Grundgesetz sagt im Artikel 4 Absatz 1 u. 2 über Glaubens-u. Gewissensfreiheit:

Abs.1 Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

Abs. 2 Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

Das klingt doch alles sehr einfach, aber wussten Sie, dass die Religionsfreiheit nicht unbegrenzt sein kann?

Die Religionsfreiheit muss begrenzt werden, wenn eindeutig andere Gesetze übertreten werden, z. B. wenn bei der Religionsausübung Menschen getötet oder Witwen verbrannt werden.

Haben Sie auch schon einmal etwas von positiver und negativer Religionsfreiheit gehört?

Was bedeutet eine positive oder negative Religionsfreiheit?

Der Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Weber äußerte sich auf einer Tagung über Religionsfreiheit wie folgt: (O-Ton)

„..dass das Grundgesetz sowohl die positive als auch die negative Seite der Religionsfreiheit schützt, dass aber im normalen gesellschaftlichen Leben niemand seine negative Religionsfreiheit in Anspruch nehmen kann, um andere an der Entfaltung ihrer positiven Religionsfreiheit zu hindern: So ist es unstreitig, dass ….niemand gegen seinen Willen an einer religiösen Betätigung (etwa der Beteiligung an einem Gottesdienst) gehindert oder aber zu einer solchen Betätigung (etwas der Beteiligung an einem Schulgebet) gezwungen werden darf. Ebenso unbestritten ist es aber auch, dass die negative Religionsfreiheit niemanden vor der Konfrontation mit der Religionsausübung anderer im gesellschaftlichen Leben schützt. Niemand kann von anderen unter Berufung auf seine negative Religionsfreiheit die Unterlassung ihn subjektiv beeinträchtigter religiöser Handlungen verlangen; niemanden schützt deshalb die negative Religionsfreiheit vor dem Geläut von Glocken Katlenburg(oder Moscheedem Ruf des Muezzin) – beiden setzen allenfalls die Lärmschutzvorschriften des staatlichen Immissionsschutzrechts Grenzen -, niemanden schützt sie weiter vor dem Anblick von Kirchen (oder Moscheen), von Gottesdienstbesuchern oder von Prozessionsteilnehmern, vor der Ausstrahlung von religiösen Sendungen im Fernsehen oder auch vor der Begegnung mit (traditionellen oder neuartigen) Wegekreuzen am Straßenrand.“

(Musikakzent)

Haben Sie das Gefühl in einen Land zu leben, in dem es Religionsfreiheit gibt?

Ist es heute überhaupt sinnvoll sich mit diesem Thema zu befassen?

Auf diese Frage ging der Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Weber auch in seinem Referat ein.

Das Referat hielt Prof. Dr. Weber während eines Seminars über die „Religionsfreiheit“ im Internationalen Wissenschaftsforum der Universität in Heidelberg.

Hören wir uns einmal seine einleitenden Worte an:

(O-Ton):

„Religionsfreiheit – auf den ersten Blick könnte man zweifeln, ob es heute überhaupt noch sinnvoll ist, sich mit dem Thema zu befassen: Garantien der Religionsfreiheit sind am Ausgang des 20. Jahrhunderts Bestandteil nahezu aller staatlichen Verfassungen – weit über den westlichen Rechtskreis hinaus. Sie gehören zum Grundbestand internationaler Pakte, Konventionen und Deklarationen über Menschenrechte“.

Und wie sieht es auf den zweiten Blick aus?

(O-Ton):

Die Religionsfreiheit wird nach einer Studie der US-Regierung in 194 Ländern nicht voll respektiert. In dem in Washington veröffentlichten Jahresbericht zur Religionsfreiheit wird vor allem China scharf kritisiert.“

Neben weiteren Ländern, „in denen `totalitäre oder autoritäre Regime` die Glaubenspraxis kontrollieren und Gläubige verfolgen“, kritisiert der Bericht … auch westliche Staaten wie Frankreich und Belgien, aber auch Deutschland, „weil es bestimmte Religionen `missbräuchlich` als `Sekten `bezeichne. In Deutschland sei ein `Anti-Sekten-Filter`eingerichtet worden, um sich gegen die Infiltration durch Scientology in Behörden und Unternehmen zu schützen. …“

Ist die Religionsfreiheit in Deutschland aber eindeutig definiert?

(O-Ton):

„Bei näherem Zusehen zeigt sich, dass auch in der rechtwissenschaftlichen Diskussion in Deutschland bei aller prinzipiellen Anerkennung der Religionsfreiheit als solcher Inhalt und Grenzen dieser Garantie nach wie vor nicht abschließend geklärt sind.“

Nach der Musik möchte ich Sie zu einer Reise in die Geschichte der Religionsfreiheit einladen.

(Musiktrack: Enya)

Schön, dass Sie mich nun auf die Reise in die Geschichte der Religionsfreiheit begleiten möchten. Prof. Dr. Weber wird unser Reiseleiter sein.

Religionsfreiheit wurde mühsam errungen.

(O-Ton):

Prof. Dr. Weber:

„Seit der Verankerung des Christentums als Staatsreligion im Römischen Reich durch Edikt des Kaisers Theodosius (380) sind Staat und Kirche im Abendland institutionell verbunden; beide gemeinsam sind verantwortlich für die Erhaltung der Glaubenseinheit. Für Religionsfreiheit ist in einem solchen System kein Raum. Auch die Reformation bringt keinen grundsätzlichen Wandel. … Evangelische Freiheit im Sinne Luthers ist vielmehr gebunden an die „Verkündigung des wahren unverfälschten Wortes Gottes durch das Predigtamt der wahren Kirche gemäß der Offenbarung in der heiligen Schrift“. Gleiche Freiheit für Irr- und Aberglauben kann es nicht geben. … Die ersten Ansätze einer Gewährleistung von Religionsfreiheit im Augsburger Religionsfrieden. … und die erweiterte Gewährleistung der „libertas religionsis“ im Westfälischen Frieden. … bleiben denn auch … als „Interimsordnung bis zur ( ausgebliebenen) Wiedervereinigung“ auf die christlichen Hauptkonfessionen beschränkt. Zum Teil weiter gehen die Utrechter Union in Holland, die Toleranzedikte von St. Germain und Nantes in Frankreich und das Agreement of the People in England. Den vollen Durchbruch zur Religionsfreiheit im modernen Sinne bringt erst die Aufklärung. … Erstmals juristisch voll ausformuliert, findet sich die Religionsfreiheit in Art. 16 der Virginia Bill of Rights, knapper gefasst auch in Art. 10 der Französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1798 und dem Zusatzartikel (Amendment) 1 zur Verfassung der USA). Heute ist die Religionsfreiheit Bestandteil der Grundrechtskataloge aller demokratischen Verfassungen und der internationalen Menschenrechtspakte…

Die Kirchen haben die Religionsfreiheit als Menschenrecht erst sehr spät akzeptiert.“

(Musiktrack)

Religionsfreiheit bedeutet auch eine Vielzahl an Religionen in einem Staat.

Der Begriff Religion ist aber nicht gleichbedeutend mit dem Glauben an einen persönlichen Gott. Der Buddhismus ist ein Beispiel dafür.

Wenn Religionsfreiheit auch eine Vielfalt an Religionen in einem Staat bedeutet, wie sieht es dann in unserem Staat aus?

Sicherlich haben wir ein großes Angebot an Religionen in Deutschland. Das Angebot wird ständig erweitert.

Mir persönlich waren zum Beispiel in den 1960er Jahren nur die katholische, die evangelische und die neuapostolische Kirche, sowie die Pfingstgemeinde, die Zeugen Jehovas und der Islam bekannt.

In den 1970er Jahren gab es eine Vielfalt von Religionen, die sich speziell an Jugendliche wandten.

Diese Religionen wurden auch Jugendreligionen – oder Jugendsekten genannt.

Was verstand man denn damals unter einer Sekte?

In dem Jugendlexikon vom Rowohlt Verlag über „Gesellschaft“ konnte man lesen:
(vorlesen lassen):

SEKTE: „Glaubensrichtung einer Religionsgemeinschaft, die sich abgespalten hat, um einer „Sonderlehre“ zu folgen. Sekten werden oft von der Mutterkirche heftiger angegriffen als fremde Religionsgemeinschaften, weil sie radikaler in ihren Glaubenssätzen sind. Sekten können zu Randgruppen einer Gesellschaft, aber auch zu sozial anerkannten Einrichtungen werden. Auch für politische Abspaltungen von Parteien wird der Begriff manchmal verwendet.“

Eine der bekanntesten Jugendreligionen oder Jugendsekten, waren in den 1970er Jahren zum Beispiel die „Kinder Gottes“. Die Kinder Gottes wurden von David Moses Berg in Amerika gegründet. David Moses Berg ist auch unter dem Namen Mo. bekannt.

Damals gab es auch schon die Scientology Kirche und die Transzendentale Meditation.

Beide Gruppen wurden bereits in den 1950er Jahren gegründet.

Bekannt war auch schon die Vereinigungskirche. Die Vereinigungskirche wird auch als Mun-Sekte bezeichnet. Der Name Mun-Sekte kommt von dem Namen des Führers San Myung Mun.

Die Hare Krishna gab es damals ebenfalls. Auch Gesellschaft für Krishna-Bewußtsein genannt.

Die Hare Krishna hatten ihren Sitz in Indien. Ihr Führer Swami Brabhupada verstarb 1977.

(Musik: For a distance)

In den 1980er Jahren hatte ich dann den Eindruck, dass das Interesse an Jugendreligionen und neuen Religionsgemeinschaften abebbte.

Erst nach der Grenzöffnung kam das Thema Jugendreligionen und Sekten wieder auf den Tisch.

Diesmal wurde das Thema aber erweitert.

Nun geht es um die neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen in der Bundesrepublik Deutschland.

Jeder scheint sein persönliches Gottes Bild zu haben, vorausgesetzt, er glaubt überhaupt an einen Gott.

Viele Deutsche ziehen auch die Konsequenz und treten aus den traditionellen Kirchen aus.

Einige wenden sich anderen religiösen und ideologischen Gruppen zu.

Eigentlich entspricht diese Freiheit der Religionswahl dem Willen von König Friedrich dem Großen von Preußen.

Friedrich der Große entschied: Der Staat „muss nur das Auge darauf haben, dass keine Religion der anderen Abbruch tue, denn hier muss ein jeder nach seiner Fasson selig werden.“(lesen lassen)

Dürfen wir aber in unserem Staat tatsächlich nach unserer „Fasson selig“ werden?

Vor einigen Jahren konnte man in der Zeitschrift FOCUS folgende Überschrift lesen:

„Religionsfreiheit – Glaubenspolizei schon am Werk? – Wissenschaftler warnen vor Dämonisierung von Sekten und Psychogruppen.“(andere Stimme)

Anlass zu dieser Überschrift gaben die beiden Bände „Die neuen Inquisitoren“. Diese Bücher wurden von den beiden Professoren Gerhard Besier und Erwin K. Scheuch herausgebracht.

Die beiden Bände „Die neuen Inquisitoren“ befassen sich mit dem Endbericht der Enquête-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“.

Die Enquête-Kommission hat empfohlen, den Begriff „Sekte“ nicht mehr zu verwenden, da dieser inzwischen abwertend ausgelegt wird. Der Begriff Sekte käme einer Anklage oder Verurteilung gleich.

Sie schlägt stattdessen vor, Begriffe wie „neue Religiöse Gemeinschaften“, “neue religiöse Bewegungen“ sowie „neue weltanschauliche Bewegungen“ zu benutzen.

Die Enquête-Kommission des deutschen Bundestages wurde gegründet, um die Probleme und Konflikte durch die „sogenannten Sekten und Psychogruppen“ zu erforschen.

Der Endbericht der Enquête-Kommission des deutschen Bundestages umfasst die Jahre 1996-1998.

(Musik: My way)

Welches Ergebnis kann man nun in dem Endbericht der Enquête-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ lesen? Unter der Überschrift „Resümee“ kann man auf Seite 370 folgendes lesen:

„…Es konnte nicht bestätigt werden, dass die Entstehung und Ausbreitung neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen ein „anwachsende(s) vielschichtige(s) Gefährdungs-u. Konfliktpotential“ bedeutet. Es besteht deshalb auch keine Veranlassung, von Seiten des Staates nach Möglichkeiten zu suchen, durch die verhindert werden soll, dass sich die Menschen neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen zuwenden; oder durch die gefördert werden soll, dass Menschen solche Gemeinschaften wieder verlassen. Der Staat muss sich darauf beschränken, in konkreten Fällen Menschen zu helfen, wenn Hilfe notwendig ist.“

Offensichtlich scheint der Endbericht der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages ja positiv für die „sogenannten Sekten und Psychogruppen“ ausgefallen zu sein, wenn da nicht noch das berühmte „aber“ käme…

Der eingangs zitierte Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Weber erklärte das berühmte „aber“ wie folgt:

(O-Ton):

„In neuester Zeit freilich sprechen manche Anzeichen für eine Beruhigung der mitunter eher hysterischen, von Sektenfurcht gekennzeichneten Diskussion: Da für spricht auf den ersten Blick auch das Resümee im Endbericht der Enquête-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ des deutschen Bundestages: Danach stellen „zum gegenwärtigen Zeitpunkt gesamtgesellschaftlich gesehen die neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen keine Gefahr für Staat und Gesellschaft oder für gesellschaftlich relevante Bereiche“ dar. In deutlichem Widerspruch zu dieser Ausgangsthese stehen allerdings die umfangreichen Handlungsempfehlungen der Kommission, darunter die Empfehlung zur Einrichtung einer Stiftung „Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen“ und zur Begründung umfangreicher Kompetenzen des Bundesverwaltungsamts in diesem Bereich (Sammlung und Auswertung von Materialien, Information öffentlicher Dienststellen und privatrechtlicher Stellen, die sich die Fürsorge für die Betroffenen zur Aufgabe gemacht haben, Aufklärung der Öffentlichkeit und Fachöffentlichkeit über einschlägige Gefahren). Diese Vorschläge sind im Blick auf die Religionsfreiheit rechtspolitisch, aber auch verfassungsrechtlich ebenso problematisch wie das bereits in Kraft stehende österreichische „Bundesgesetz über die Einrichtung einer Dokumentations- u. Informationsstelle für Sektenfragen (Bundesstelle für Sektenfragen)“ aus dem Jahre 1998.“

(Musiktrack)

Der Staat selbst ist zur Religionsneutralität verpflichtet. Religionsneutralität bedeutet dann aber auch die Religionsfreiheit von Minderheitsreligionen zu gewährleisten. Andererseits muss der Staat den Bürger schützen. Er muss ihn vor Religionen und Minderheitsreligionen schützen, die den Bürger in seiner persönlichen Freiheit begrenzen oder ihn sogar in irgendeiner Weise bedrohen.

Prof. Dr. Weber sieht hierin ein Spannungsverhältnis. Das Spannungsverhältnis kann weitreichende Folgen für die Religionsfreiheit haben. Er sagte:

(O-Ton):

„In diesem Spannungsverhältnis sind in jüngerer Zeit in Deutschland, … deutliche Tendenzen zu Einschränkungen der Religionsfreiheit der Minderheitsreligionen (und damit zu einer SeltersEntliberalisierung des Religionsrechts) erkennbar. Genannt seien hier aus der Entwicklung in Deutschland- neben der fragwürdigen, durch keinerlei ausdrückliche Regelung im Grundgesetz gedeckten Anknüpfung der Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an die Religionsgemeinschaften an eine von der Verfassung angeblich vorausgesetzte „Staatsloyalität“ der fraglichen Religionsgemeinschaft durch das BVerwG im Falle der Zeugen Jehovas…“

In allen16 Bundesländern hat die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas das Recht einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhalten.

(Musik: Popcorn)

Bei der Verleihung um die Körperschaftsrechte geht es um viele öffentlich-rechtliche Vorrechte.

Diese Rechte sind z.B.: Das Recht, von den Mitgliedern Steuern zu erheben und diese vom Staat einziehen zu lassen; der Vorzug selbst keine Steuern an den Staat zahlen zu müssen; eine Vielzahl von Vergünstigungen und Befreiungen bei Kosten und Gebühren in Verwaltungsverfahren, die Mitwirkung an wichtigen Entscheidungsprozessen in staatlichen und halbstaatlichen Gremien, die Errichtung eigener theologischer Fakultäten auf Staatskosten; die Unterhaltung kirchlicher Seelsorge bei der Bundeswehr auf Staatskosten und Zuschüsse vom Staat in vielen anderen kirchlichen Bereichen.

(Musik)

Die Stuttgarter Nachrichten (vom 5.8.00) berichteten unter der Überschrift „Richter suchen Volksnähe“ über das Kruzifixurteil von 1995.

Nur kurz zur Erinnerung: Ein Vater hatte aufgrund seiner anthroposophischen Weltanschauung geklagt. Er wollte seiner Tochter den Anblick eines halbnackten, toten Männerkörpers ersparen. Das Bundesverfassungsgericht entschied für den Vater.

Das Urteil lautete: „Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Artikel 4 Abs. 1 des Grundgesetzes.“

Die Stuttgarter Nachrichten schreiben weiter: „Doch mit der strikten Trennung von Staat und Kirche haben die Richter 1995 eine Richtung gewiesen, in der weitere Schritte folgen dürften.

(Musikakzent)

Ein weiteres Urteil des Bundesverfassungsgerichtes wurde heftig diskutiert. Es ist das Kopftuchurteil.

Ich habe Frau Prof. Dr. Christine Langenfeld von der Juristischen Fakultät in Göttingen gefragt, was der genaue Inhalt des Kopftuchurteiles ist:

„Das Bundesverfassungsgericht hatte über die Frage zu entscheiden, ob eine Lehrerin, die darauf besteht ihr (islamisches) Kopftuch auch während des Unterrichts zu tragen, geeignet ist für den Schuldienst als Beamtin in den öffentlichen Dienst eingestellt zu werden. Und hier hat sich natürlich die Frage gestellt, in wie weit sich die Lehrerin auf die Religionsfreiheit berufen kann und grundsätzlich gilt das Tragen von äußerlichen Zeichen der religiösen Zugehörigkeit in den Schutzbereich. Dieses Grundrechtes, aber dieses Grundrecht stößt an anderem Grundrechten und diese Grundrecht sind diejenigen, der Schüler und der Eltern, die sich natürlich diesem Kopftuch ausgesetzt sehen, Wenn sie also in der Schule im Klassenraum sitzen und hierzu ja auch qua Schulpflicht verpflichtet sind. Und das Bundesverfassungsgericht hat im Wesentlichen entschieden, dass der Gesetzgeber hier zu einem Ausgleich dieser grundrechtlichen Positionen kommen muss. Und zwar muss der Gesetzgeber also die Landesparlamente in diesem Fall entscheiden in wieweit sie Lehrern das Tragen religiöser Zeichen auch in ihrer Funktion als Lehrkraft, als Beamte, also als Repräsentanten des Staates gestatten. Und hieran mangelte es in Baden-Württemberg. Es gab im Baden-Württembergischen Schulgesetz bis vor kurzem keine ausdrückliche Bestimmungen, dass Tragen religiöser Kleidung oder sonstiger religiöser Kleidung oder sonstiger Zeichen untersagt hätte. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses gerügt und es hat darauf hingewiesen, dass eben gerade in Fällen wie dem Fall der Klägerin Frau Ludin eine solche gesetzliche Grundlage notwendig ist, weil eben nicht nachgewiesen werden konnte, dass von dem Tragen des Kopftuches durch die Beschwerdeführerin wirklich eine Beeinträchtigung der Grundrechte der Schüler oder eine Beeinträchtigung des Schulfriedens ausging. Das heißt, es bestand nur eine abstrakte Gefahr und die Regulierung dieser abstrakten Gefahr durch ein Verbot etwa von religiösen Zeichen, das muss der Gesetzgeber selber entscheiden, denn hier handelt es sich um sehr grundrechtsrelevante Fragen und das kann die Exekutive nicht machen.( Also das ist im wesentlichen der Inhalt des Urteils.)

Christine Langenfeld fügte noch hinzu:

Ein Punkt ist noch nachzutragen und zwar hat das Bundesverfassungsgericht auch sehr deutlich gemacht, dass bei dieser Regelung, die der Landesgesetzgeber nun treffen muss, er alle Religionsgemeinschaften gleichbehandeln muss. Also das Gleichbehandlungsgebot gilt in jedem Fall. Im Übrigen aber ist der Gesetzgeber in seiner Entscheidung frei. Er kann also großzügiger verfahren mit der Zulassung religiöser Zeichen, wohlgemerkt aller religiöser Zeichen von allen Religionsgemeinschaften. Sie kann aber sich auch entscheiden für einen Ausschluss religiöser Zeichen, die von Lehrkräften getragen werden aus der öffentlichen Schule, also hier kann der Landesgesetzgeber auch auf die jeweiligen Landestraditionen Rücksicht nehmen.

Welche Konsequenzen hat dies?

„Dieses Urteil hat für die Landesparlamente schwerwiegende Konsequenzen gehabt. Die Landesparlamente sahen sich nun gezwungen, entsprechende Regelungen zu schaffen. Sie hätten es natürlich auch bei der jetzigen Rechtslage belassen können mit der Folge, dass nur dann wenn sehr konkret es zu Bedrohungen des Schulfriedens kommt, ein religiöses Zeichen etwa das Kopftuch hätte verboten werden können. Die meisten Landesgesetze wollten es aber dabei nicht belassen und wollten eine grundsätzliche Regelung treffen und eine ganze Reihe von Landesgesetzgebern haben zum Teil in sehr unterschiedlicher Form auch Regelungen geschaffen und in ihre Schulgesetze eingefügt, die das Tragen von religiösen Kleidungsstücken oder sonstigen religiösen Zeichen betreffen. Es gibt Länder, die generell das Tragen von religiösen Zeichen im (öffentlichen Dienst oder ) im Schuldienst verbieten. Das ist (etwa) in Berlin der Fall. Und es gibt Länder, die das Tragen von religiösen Zeichen dann verbieten, wenn diese Zeichen sich als Gefahr für die Neutralität des Staates oder den Schulfrieden erweisen können. Das etwa ist in Baden-Württemberg der Fall oder auch in Bayern. In ähnlicher Weise auch in Niedersachsen. Allerdings haben einige Länder eine ausdrückliche Privilegierung christlicher und jüdische Symbole hineingeschrieben und sie sagen nämlich, dass also das Bekenntnis zum christlichen Glauben etwa, dass dieses eben nicht gegen das Neutralitätsgebot oder aber gegen den Schulfrieden verstößt. Also hierin kann man den Versuch sehen, etwas das Tragen eines Habit durch eine Nonne.“

In unserem Staat kommt es durchaus vor, dass eine Nonne an einer Schule in der Ordenstracht unterrichtet.

Was ist der Unterschied zwischen dem Schleier der Nonne und dem muslimischen Kopftuch?

Ludger Gaillard (war 2004 Islambeauftragter des evangelisch-lutherischen Sprengels Göttingen/Niedersachsen) erklärte gegenüber dem StadtRadio: Die Kleidung der Nonne sei schon lange in Europa eingeführt worden und hätte somit einen Heimvorteil, wohingegen das islamische Kopftuch etwas Neues sei.

Ein weiterer Unterschied sei es, dass das Gewand der Nonne nur ein Gewand für diese Person in ihrer Eigenschaft als Mitglied eines Ordens sei, während nach genereller islamischer Ansicht die Bedeckung des Kopfes der Frau für alle Frauen gelte.

Die Nonnenkleidung sei aber nur für Einzelne verpflichtend.

Ich habe Frau Prof. Dr. Irene Schneider vom Göttinger Seminar für Arabistik gefragt, ob es im Koran tatsächlich ein Gebot gäbe, dass Kopftuch zu tragen:

Es gibt kein Kopftuchgebot im Koran verankert, es gibt 2 Stellen, die so interpretiert worden sind in klassischer Zeit und heute eben teilweise anders interpretiert werden. Das eine ist Sure 24: 30. Da wird Männern und Frauen empfohlen sich zu bedecken und sich züchtig zu verhalten.

Und es wird bei Frauen noch gesagt, sie sollen sich in einer bestimmten Art und Weise etwas über den Ausschnitt ziehen …und es gibt die andere Stelle das 33:59, da ergeht an den Prophet die Aufforderung, dass er eben dafür sorgen soll, dass seine Frauen und die Frauen der Gläubigen, sich in einer bestimmten Art kleiden. Beide Verse sind in klassischer Zeit schon so interpretiert worden … über die 1400 Jahre weg, dass Frauen eben ihr Haar bedecken sollen und früher noch stärker verschleiert waren. Beide Stellen werden heute von modernen Theologen teilweise ganz anderes ausgelegt, nämlich so, dass man sagt, das steht wirklich explizit nicht drin. Im Grunde genommen wird nur gesagt, dass man sich dezent kleiden muss und dass gilt für Männer und Frauen. …

Was bedeutet heute das Tragen des islamischen Kopftuches?

„Also das Kopftuch im islamischen Kontext hat sehr viele verschiedene Bedeutungen. Zunächst mal ist es einfach ein traditionelles Kleidungsmittel und viele Frauen tragen es, weil sie ohne es sich unwohl fühlen würden, sich einfach nicht angezogen fühlen würden. Dann ist es durchaus auch Ausdruck der Religiosität. Das heißt viele Frauen tragen es, weil sie ihr Musliminsein ausdrücken wollen damit. Aber andererseits gibt es auch viele Frauen, die es nicht tragen, die sich explizit auch als Musliminnen verstehen. Und es kann ein politisches Symbol sein, dann wenn die Frauen sich eben als Islamistinnen, als politische Vorkämpferin für den politischen Islam verstehen. Alles ist möglich und dazwischen gibt es natürlich eine ganze Menge an Abstufungen, vor allem in Bezug auf die Frauen, die hier in Deutschland leben. Das ist ja eine spezifische Situation der Diaspora hier in Deutschland und vor diesem Hintergrund muss man sehen, dass viele Frauen aus diesen kulturellen Kontext oder die zum Beispiel Kinder von Einwanderern sind, zweite dritte Generation hier leben, dass diese Frauen sich in einem Spannungsfeld zwischen 2 Kulturen sich befinden und ihre Identität suchen und durchaus das Kopftuch ihnen auch manchmal dabei behilflich ist, diese Identität zu finden. So dass es auch so ein Ausdruck eben des Suchens sein kann, das der eigenen Position in der Gesellschaft. Das ist also eine große Spannweite und ganz wichtig ist zu betonen, dass nicht jede Frau, die das Kopftuch trägt, damit wirklich auch einen politischen Islam und einen kämpferischen verbindet.“

Seit dem Terroranschlag vom 11.September 2001 spricht man mehr vom Islamismus als vom Islam.

Was versteht man unter Islamismus?

„Gemeint ist eine Bewegung, die vor allem in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts sich entwickelt hat, aber schon vorher bestanden hat, sich aber zu dieser Zeit besonders entwickelt und verstärkt hat. Es ist eigentlich eine Ideologie des politischen Islams. Eine ganz klare moderne Ideologie, die sich abgrenzt gegenüber anderen Ideologien wie den Sozialismus, mit dem arabische und islamische Länder ja auch gespielt haben und des Nationalismus und so weiter. Und diese Ideologie fußt auf der Erkenntnis, dass die islamische Welt ja heute in einer politischen Situation der Abhängigkeit … ist. Und dass eine Möglichkeit aus dieser Situation zu entkommen, nur darin besteht, die alte Stärke des Islams wieder hervor zu holen, das kann man, in dem man in die frühe Zeit des Islam zurückkehrt und auf diese frühe Zeit schaut und zu den Quellen der Religion zurückkehrt. Das ist der Koran einmal und das ist die Sunna, das heißt die maßgeblich normativen Aussagen des Propheten, in dem man auf das zurückgreift und versucht hier die Anregungen für das moderne Leben zu holen, wie ein moderner Staat heute auszusehen hat. Und eine der Zentralforderung dieser Islamisten ist die Wiedereinführung der Scharia, also des islamischen Rechtes. Wobei man also auch sagen muss, dass Islamismus ein Schlagwort ist. Auch hier ist eine ganze Breite von Bewegungen gemeint, die da mit in Verbindung gebracht werden kann und diese Bewegungen sind nicht einheitlich. Sie haben weder einheitliche Vorstellungen … noch sind sie alle gleich gewaltbereit. Es gibt durchaus islamistische Bewegungen, die nicht gewalttätig sind, das heißt, die glauben, dass der Islam sich irgendwann durchsetzen wird, aber die nicht dafür mit Gewalt einen Staat bekämpfen würden, aber es gibt eben durchaus andererseits gewaltbereite Bewegungen, die dazu zu zählen wären.“

Das Tragen eines islamischen Kopftuches bedeutet also nicht in jedem Fall, dass die Trägerin den Islamismus vertritt.

Trotzdem herrscht bei den Landesgesetzgebern und den Schulbehörden eine große Verunsicherung darüber, ob man das Tragen des islamischen Kopftuches an Schulen zulassen soll.

Wirkt sich das Tragen eines islamischen Kopftuches tatsächlich negativ auf die Schüler aus?

Laut Ludger Gaillard fürchten unsere Schulbehörden, dass die Schülerinnen in einer Weise, die unserer freiheitlichen Tradition entgegenläuft, indoktriniert werden. Er selbst sei der Ansicht, dass es pädagogisch und psychologisch nicht stimme, dass Kinder sich davon negativ beeinflussen ließen. Für ihn fordere die Religionsfreiheit, dass alle Religionen gleiche Rechte genießen müssen. Wenn man also einer Ordensfrau in einer staatlichen Schule erlaube in ihrer Ordenskleidung zu unterrichten, müsse man Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften die gleichermaßen staatliche Lehrerinnen sind auch ihr Kopftuch erlauben. Die Religionsfreiheit sei unteilbar. Das sei ein Verfassungsgrundsatz unserer freiheitlichen Verfassung und von dieser könne man nicht abrücken. Die Mehrheitsgesellschaft würde die Kopftuchdebatte übersteigern. Man solle sie zurücknehmen und entschärfen und damit die Integration unserer islamischen Einwanderer fördern. Verbote würden nichts erreichen. Mit Verboten schaffe man eher ein radikales Potenzial.

Wie ist das Verfahren von Frau Ludin vor dem Bundesverwaltungsgericht ausgegangen? Hierzu Prof. Dr. Christiane Langenfeld:

Das Ergebnis des Bundesverfassungsgerichts war ja, dass Verfahren zum Bundesverwaltungsgericht wieder zurückverwiesen wurde. Das Bundesverwaltungsgericht musste also erneut über den Fall entscheiden und musste dieses Tun auf der Grundlage der veränderten Gesetzeslage, die mittlerweile in Baden-Württemberg bestand. Das Bundesverwaltungsgericht hat auch im Juni eine Entscheidung getroffen. Das Ergebnis der Entscheidung ist kurzgefasst, dass Frau Ludin, da sie kompromisslos auf dem Tragen des Kopftuches bestanden hat, nicht in den Schuldienst aufgenommen werden kann. Sie ist als ungeeignet anzusehen. Das Bundesverwaltungsgericht hat festgehalten, dass eben nach den neuen Gesetzeslage in Baden-Württemberg Lehrkräfte keine persönlichen Zeichen tragen dürfen, die eben geeignet sind die religiöse Neutralität des Landes oder den Schulfrieden zu gefährden. Das Bundesverwaltungsgericht hat gesagt, dass das Tragen des Kopftuches geeignet ist, eine solche Gefährdung darzustellen. Hierbei konnte nicht darauf an, ob sich eine konkrete Gefahr ergibt, also die Eltern sagen: „Wir sehen in diesem Kopftuch von der Lehrerin tatsächlich eine Gefahr“, sondern das Bundesverwaltungsgericht hat eben gesagt: „Nein, der Gesetzgeber darf das generell regeln. Er darf sagen, das Kopftuch wird von vielen eben als gewisse Bedrohung verstanden und der Gesetzgeber darf hier so zu sagen abstrakt und generell regeln und das Kopftuch generell verbieten.“ Die Regelungen in Baden-Württemberg sprechen ja nicht ausdrücklich vom Kopftuch, aber die Verwaltungsbehörden können unter diese Regelung das Kopftuch ohne weiteres und in allen Fällen fassen. Also in sofern war das Ergebnis klar, Frau Ludin bestand auf dem Kopftuch. Sie verstieß gegen das Verhaltensgebot und ein Lehrer, der schon bei seiner Einstellung sagt, dass er sich nicht an die Verhaltensgebote halten will, denen er als Beamter unterworfen ist, ist ungeeignet. Das Bundesverwaltungsgericht hat aber folgende interessante Wendung hinzugefügt und die besteht darin, dass die Regelungen, die das Baden-Württembergische Gesetz ja zusätzlich noch enthält, nämlich die Privilegierung der christlichen und abendländischen Zeichen, das diese Regelung nicht in dem Sinne verstanden werden darf, damit etwas christliche, jüdische Lehrer bevorzugt werden dürften gegenüber muslimischen Lehrkräften. Also das Bundesverwaltungsgericht hat sehr deutlich gemacht, dass dieses Verhaltensgebot diese religiöse Zurückhaltung im Äußerlichen für alle Lehrkräfte gelten muss. Damit hat es das Baden-Württembergische Gesetz gerettet vor der Verfassungswidrigkeit, denn wenn das Bundesverwaltungsgericht zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, dann hätte es das Verfahren aussetzen müssen und das Bundesverfassungsgericht fragen müssen, ob das Gesetz denn mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbar ist. Da das Bundesverfassungsgericht aber dieses Gesetz im Sinne der Gleichbehandlung ausgelegt hat, obwohl der Gesetzgeber eigentlich etwas anders wollte, (das kann ich in Klammer hinzufügen), war das nicht mehr erforderlich .

Im Ergebnis also ist Frau Ludin ungeeignet für den Schuldienst und ist nicht in den Schuldienst übernommen worden.

Kann man im Verbot des Kopftuches einen weiteren Schritt in Richtung Trennung Kirche und Staat sehen?

Also die staatrechtliche Tradition in der Bundesrepublik Deutschland besteht darin, auch der Äußerung religiöser Überzeugungen in Räumen und auch in staatlichen Räumen wie der öffentlichen Schule Raum zu geben. Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat ist in Deutschland traditionell nicht so verstanden worden, wie in Frankreich, wo eben doch dass Bekenntnis zu einer bestimmten Religion durch Lehrer und auch durch Schüler in der öffentlichen Schule nicht in Betracht kommt. Hiervon ist der deutsche Staat nie ausgegangen. Natürlich ist der deutsche Staat neutral gegenüber allen Religionen und Weltanschauungen. Er ist also davon ausgegangen, dass jeder, jeder Schüler und jede Lehrkraft sich religiös bekenne darf, natürlich nur im Rahmen der Verfassung. Verfassungsfeindliche Zeichen darf man natürlich nicht auf den Kopf ziehen oder um den Hals hängen und natürlich auch nur dann wenn der Schulfrieden gewahrt bleibt. Also die religiöse Konfrontation soll nicht in die Schule getragen werden im Namen der Religionsfreiheit. Wenn die Landesgesetzgeber sich jetzt in sehr unterschiedlicher Weise zum Teil dafür entscheiden, das religiöse Bekenntnis durch Lehrkräfte aus den Schulen ganz zu verbannen, dann ist das natürlich ein weiterer Schritt einer etwas radikaleren Trennung zwischen Kirche und Staat, weil das Religiöse im öffentlichen Raum nicht mehr den Ausdruck finden kann, wie vorher. Und ich darf aus meiner persönlichen Sicht hinzufügen: Ich würde es überhaupt nicht begrüßen, wenn der Nonne die seit vielen Jahren den Mathematikunterricht an einer öffentlichen Schule in ihrer Ordenstracht erteilt, nun plötzlich im Namen der Gleichbehandlung ihr Tracht verboten würde. Ich würde dafür plädieren, in jedem Einzelfall zu prüfen, etwa bei einer Lehrerin, die das Kopftuch tragen möchte, ob das Kopftuch tatsächlich eine Gefährdung des Schulfriedens darstellt und ob die Lehrerin tatsächlich auf den Boden der Verfassung und auf den Boden des Erziehungsgesetzes steht. Wenn keine Anhaltspunkte da sind, dass die Lehrerin dagegen verstößt, kann der Versuch durchaus gemacht werden, sie mit dem Kopftuch unterrichten zu lassen. Ich würde ihr allerdings auch bei der Einstellung die Frage stellen:

„Wären sie bereit Ihr Kopftuch abzunehmen, wenn es Konflikte in der Klasse gibt?“ Wenn eine Lehrerin dann sagt: „Nein, prinzipiell bin ich nicht bereit.“ Dann wäre sie aus meiner Sicht ohnehin ungeeignet, den eine Lehrkraft darf ihre Grundrecht nicht mit der Brechstange durchsetzen, sondern hat sich ihrer pädagogischen Verantwortung bewusst zu sein und dann eben ihre eigene grundrechtliche Verwirklichung zurückzunehmen. Dafür ist sie Beamtin und unterliegt stärkerer Einschränkungen als die Schüler als die Schüler etwa. Also ich plädiere hier für eine Einzelfallprüfung und diese Einzelfallprüfung kann dann eben durchaus zu dem Ergebnis kommen: in diesem Fall Kopftuch nein, Ordenstracht ja und das wäre eine Lösung, die ich als auf jeden Fall verfassungskonforme Lösung ansehen würde und als eine Lösung, die doch weiterhin dem Religiösen in der Schule Raum gibt und dieses halte ich für eine sehr wichtige Angelegenheit, die auch unserer staatskirchlichen Tradition entspricht.

(Musikakzent)

Aktuell gibt es eine Diskussion darüber das Tragen einer Burka in der Öffentlichkeit. Die Burka ist die Ganzkörperverschleierung muslimischer Frauen. Sie wird in Afghanistan und teilweise in Pakistan und Indien getragen.

Während die afghanische Burka das Gesicht vollständig verdeckt, lässt die pakistanische Burka die Augen frei.

Aus den Suren 24:30 und 33:59 des Korans kann man allerdings keinen Zwang zur Vollverschleierung ableiten.

Dies zeigt die  Tatsache, dass viele muslimische Frauen, die sich als gute Musliminnnen explizit verstehen, keine Vollverschleierung praktizieren und auch nicht immer ein Kopftuch tragen.

Der Ägypter Qasim Amin machte sich schon Ende des 19. /Anfang des 20. Jh. für eine Abschaffung der Vollverschleierung stark.

Er sieht die Vollverschleierung als eine „Sitte“ an und nicht als Gott gegebene Vorschrift.

Er plädierte unbedingt für die Sichtbarkeit von Gesicht und Händen.

Es bleibt abzuwarten, ob es in Deutschland überhaupt zu einem  generellen Verbot der Vollverschleierung kommen wird.

(Musikakzent)

Es war sicherlich ein sehr langer und mühsamer Weg gewesen, die Religionsfreiheit zu erringen, aber es ist sicherlich auch ein beschwerlicher Weg die Religionsfreiheit weiterhin zu bewahren.

Und zwar so bewahren, dass allen Religionsgemeinschaften gleiche Rechte gewährt werden bzw. bereits vorhandene Recht auch weiterhin zu gewähren.

Religionsfreiheit ist keinesfalls immer so leicht zu akzeptieren, wie man eigentlich erwartet.

Auch ist vielen Menschen, auch in unserer Stadt, nicht bewusst, dass es die eingangs von mir erwähnte positive und negative Religionsfreiheit gibt.

Erinnern wir uns noch einmal an die Worte von Prof. Dr. Hermann Weber:

„..dass das Grundgesetz sowohl die positive als auch die negative Seite der Religionsfreiheit schützt, dass aber im normalen gesellschaftlichen Leben niemand seine negative Religionsfreiheit in Anspruch nehmen kann, um andere an der Entfaltung ihrer positiven Religionsfreiheit zu hindern: So ist es unstreitig, dass … niemand gegen seinen Willen an einer religiösen Betätigung (etwa der Beteiligung an einem Gottesdienst) gehindert oder aber zu einer solchen Betätigung (etwas der Beteiligung an einem Schulgebet) gezwungen werden darf. Ebenso unbestritten ist es aber auch, dass die negative Religionsfreiheit niemanden vor der Konfrontation mit der Religionsausübung anderer im gesellschaftlichen Leben schützt. Niemand kann von anderen unter Berufung auf seine negative Religionsfreiheit die Unterlassung ihn subjektiv beeinträchtigter religiöser Handlungen verlangen; niemanden schützt deshalb die negative Religionsfreiheit vor dem Geläut von Glocken (oder dem Ruf des Muezzin) – beiden setzen allenfalls die Lärmschutzvorschriften des staatlichen Immissionsschutzrechts Grenzen -, niemanden schützt sie weiter vor dem Anblick von Kirchen (oder Moscheen), von Gottesdienstbesuchern oder von Prozessionsteilnehmern, vor der Ausstrahlung von religiösen Sendungen im Fernsehen oder auch vor der Begegnung mit (traditionellen oder neuartigen) Wegekreuzen am Straßenrand.“

(Musikakzent)

Mit der Religionsfreiheit ist mehr verbunden, als nur Ihre und meine persönliche Gedanken- und Glaubensfreiheit.

(Freiburger Spielleyt – Gesang):

1. Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten,
sie ziehen vorbei,
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger sie schießen,
es bleibet dabei:
Die Gedanken sind frei!

2. Ich denke was ich will,
und was mich beglücket,
doch alles in der Still,
und wie es sich schicket.
Mein Wunsch und Begehren
kann niemand verwehren, es bleibet dabei:
die Gedanken sind frei!

3. Und sperrt man mich ein
im finsteren Kerker,
das alles sind rein
vergebliche Werke;
denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei:
die Gedanken sind frei!

4. Drum will ich auf immer
den Sorgen entsagen;
und will mich auch nimmer
mit Grillen mehr plagen.
Mann kann ja im Herzen
stets lachen und scherzen
und denken dabei:
die Gedanken sind frei!

(C) Ingeborg Lüdtke

Kommentar:

Am 5. Juli 2006 überreicht der Berliner Senat Vertretern des Präsidiums von Jehovas Zeugen in Deutschland, Richard Kelsey und Werner Rudtke, die offizielle Urkunde zur Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts.

Inzwischen ist die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland als Körperschaft des öffentlichen Rechts in allen Bundesländern anerkannt.

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Parteibuchbeamte der Weimarer Republik – das Beispiel der „Landeserziehungsanstalt Bevern“

Die Sendung über die Konferenz “Pädagogik in der Gedenk- und Erinnerungsarbeit” in der Zivildienstschule Ith wurde am 17. November 2010 im StadtRadio Göttingen ausgestrahlt.

Zivildienstschule IthDie Konferenz wurde innerhalb der Veranstaltungsreihe “Gedenken und Erinnern in Südniedersachen” von der Kreisvolkshochschule Holzminden mit Unterstützung der KZ-Gedenkstätte Moringen ausgerichtet.

Die Konferenz begann mit dem Referat von Dr. Matthias Seeliger vom Stadtarchiv Holzminden:

Parteibuchbeamte in der Weimarer Republik – das Beispiel „Landeserziehungsanstalt Bevern

Je stärker das Programm einer Partei ideologisch ausgerichtet ist, desto wichtiger ist für einen langfristigen Erfolg seiner Durchsetzung das Gewinnen der heranwachsenden Generation für die Inhalte dieses Programms. Ziel und Art der Erziehung der Kinder und Jugendlichen sind dabei von großer Bedeutung. Die Nationalsozialisten schufen sich während ihrer Herrschaft mit Jungvolk und Hitler-Jugend, Jungmädelbund und Bund Deutscher Mädel Organisationen, die durch flächendeckende Erfassung der betroffenen Jahrgänge einer lückenlosen Indoktrination dienten. Die „Linksparteien“ verfügten während der Weimarer Republik ebenfalls über verschiedene Kinder- und Jugendorganisationen, deren Geschichte für den Bereich des Kreises Holzminden leider noch nicht erforscht ist. Zu nennen sind u. a. die Sozialistische Arbeiter-Jugend und die Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde mit den „Rote Falken“-Guppen. Hinsichtlich der Vorgänge in der Landeserziehungsanstalt Bevern soll aus dem linken Parteienspektrum nachfolgend nur die SPD betrachtet werden, da die Kommunisten in diesem Zusammenhang keine größere Rolle spielten.

Jahrhunderte lang hatte das Bildungswesen in den Händen der Kirchen gelegen oder war zumindest stark durch diese beeinflusst worden. Das änderte sich nach dem Ende des Kaiserreiches 1918 und dem damit verbundenen Zerbrechen des sprichwörtlichen Bündnisses von Thron und Altar. Die Parteien sahen darin, je nach ideologischer Ausrichtung, eine Chance zu neuen, eigenständigen Entwicklungen ihrer Bildungspolitik. Die Kirchen hingegen bemühten sich verzweifelt um ihren Vorstellungen wohlgesinnte Parteien, Verbände usw., mit denen sie zuweilen – aus heutiger Sicht – fragwürdige Allianzen eingingen. Jeder Streit um die „richtige“ Erziehung der Jugend beinhaltete somit automatisch eine kirchenpolitische Auseinandersetzung.

Die sozialdemokratische Presse war voll von antikirchlichen Äußerungen. So freute sich der „Volksfreund“ über 262 Kirchenaustritte während der Jahre 1928 und 1929 in den Ämtern Eschershausen, Holzminden und Stadtoldendorf; für den gesamten Freistaat gab er die Zahl nur für das Jahr 1929 mit 2.828 an. Dass in Grünenplan 68 Kinder vom Religionsunterricht abgemeldet wurden, war ihm ebenfalls eine Meldung wert. Der Verband für Freidenkertum und Feuerbestattung war ebenso im Holzmindener Raum tätig wie der Volksbund für Geistesfreiheit, und es gab einen Kreisausschuss der dissidentischen Fürsorge.

Im Streit um das Schulwesen ist ein wichtiger Grund für die antikirchliche, ja extrem kirchenfeindliche Politik der SPD im Freistaat Braunschweig während der 1920er-Jahre zu sehen. Sie veranlasste Bernd Rother zu der Frage, ob die SPD „mit dieser Haltung und ihrer Personalpolitik 1927-30 selber mit schuld am Aufstieg der Nationalsozialisten in Braunschweig“ war? Diese Personalpolitik – und ebenso jene des politischen Gegners, der NSDAP – soll im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen.

Grundlagen der Erziehung in Bevern

Das Bestehen einer Landeserziehungsanstalt während der Weimarer Republik war Abschluss einer längeren Geschichte der Nutzung des Schlosses in Bevern als „Wilhelmstift“ für die Unterbringung devianter Personen. In den letzten Jahrzehnten des Kaiserreiches war unter Direktor Otto Eißfeldt Grundzug der pädagogischen Bestrebungen in Bevern die Erziehung zur Pünktlichkeit, Ordnung, Zucht und geregelter Arbeit, alles getragen von christlichem Geiste. Die Tatsache, dass diese Zusammenfassung ein Zitat aus dem Jahre 1932 ist, lässt tief blicken – ist sie doch direkt verbunden mit der durch die bürgerliche Zeitung zu diesem Zeitpunkt vertretenen Bewertung von Eißfeldts Arbeit: Hunderte gefährdeter, junger Menschen hat er [dadurch!] auf die rechte Bahn gebracht.

Unter Eißfeldts Nachfolger, Direktor Staats, wurde im Wilhelmstift an der christlichen Grundlage der dortigen Erziehung festgehalten, allerdings richtete sich nunmehr neuzeitlicher Auffassung entsprechend die Aufmerksamkeit mehr auf die Erziehung als auf die bloße Beaufsichtigung der Insassen. Staats war sehr daran interessiert, die Erziehung nach den Forderungen moderner Pädagogik durchzuführen und knüpfte u. a. Kontakte zum Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen unter Professor Dr. Herman Nohl. Nohl kam 1922 mehrfach mit seinen Studentinnen und Studenten nach Bevern, um letzteren die Möglichkeit zu bieten, die Praxis des Anstaltslebens eingehend kennen zu lernen. Dies hätte er sicherlich nicht getan, wäre er nicht von der Qualität der im Wilhelmstift geleisteten Arbeit überzeugt gewesen. Bei aller Fortschrittlichkeit seiner pädagogischen Methodik orientierte sich Nohl hinsichtlich des Ziels der Erziehung allerdings an bürgerlich-konservativem Gedankengut, was auch für Staats galt. Im Gegenzug gab letzterer den jungen Leuten in Göttingen im Rahmen der Seminarveranstaltungen einen Einführungskursus. Eine Folge dieser Verbindung war die Bereitstellung von Praktikumsplätzen in Bevern.

Nicht nur aus pädagogischer Sicht kam es unter Staats Nachfolger zu einschneidenden Veränderungen. Direktor Gotthard Eberlein verließ, so jedenfalls die Kritik seiner Gegner, diese christliche Grundlage der Erziehung: Der letzte Direktor Eberlein brach damit. Bewusst wurde alles, was an das Christentum erinnert, beseitigt. In der Kapelle wurde die Christusstatue entfernt, zu Weihnachten wurde ein Sprechchor aufgeführt, der christlichem Empfinden hohnsprach, so dass ernst denkende Menschen die Feier verließen. Hinsichtlich dieser Vorwürfe ist festzuhalten, dass sich die zugrunde liegenden Ereignisse aus den überlieferten Akten nicht genauer beschreiben lassen. So konnten beispielsweise keine Hinweise auf die Begründung der Entfernung der Christusstatue gefunden werden. Wie allerdings in einem eigenen Abschnitt dieser Arbeit zu zeigen sein wird, vertrat Eberlein, bis 1922 evangelischer Pfarrer, mit Sicherheit nicht die Ansichten der überwältigenden Mehrheit kirchlicher Kreise im Braunschweigischen!

Ein (aber wohl kaum der entscheidende) Grund für die Zurückdrängung christlicher Inhalte bei der Erziehung war für Eberlein die überproportional große Zahl der Dissidenten unter den Zöglingen der Erziehungsanstalt. Am 8. April 1929 waren laut einer Angabe Eberleins 21 der 60 Schulkinder Dissidenten. Damals ging es um die Erteilung von lebenskundlichem Unterricht in der Anstalt, wie er an den Bürgerschulen eingeführt worden war. Fritz Ziegert schlug seitens des Kreisausschusses der dissidentischen Fürsorge dafür den Lehrer Karl Dankert vor, der bereits in Holzminden Lebenskunde unterrichtete. Dankert gehörte zu den Freidenkern und trat über Holzminden hinaus auf deren Veranstaltungen als Redner auf; 1930 war er als Weiheredner für die Jugendweihe in Delligsen im Gespräch. Mit dem Unterricht in Bevern wurde er jedoch nicht betraut, ebenso wenig Eberlein, der angeboten hatte, selbst diesen Unterricht zu übernehmen. Die Entscheidung fiel auf den Lehrer Robert Dargatz, einen Dissidenten, der im Frühjahr 1929 als Hilfslehrer nach Bevern gekommen und dort bis zum 1. Mai 1931 tätig war.

Neben ihm wurden 1931 zwei weitere Lehrer als Dissidenten bezeichnet: Lamby und Specht. Es war wohl kein Zufall, dass sie alle während des Direktorats Gustav Eberleins eingestellt worden waren. Und ebenso war es kein Zufall, dass sie unter seinem Nachfolger wieder entlassen wurden. Zunächst verließ im Frühjahr 1931 der Lehrer Lamby das Wilhelmstift. Seine Frau, die mangels passender Wohnung noch nicht mit ihrem Mann umziehen konnte, bat am 13. April 1931 um die vorübergehende Beschäftigung als Hilfserzieherin in Bevern. Dies wurde jedoch angesichts der ihr unterstellten Geistesrichtung abgelehnt.

Der Lehrer Specht war als SPD-Mitglied ab 1931 ebenfalls nicht mehr gern gesehen, blieb aber zunächst in Bevern. Im Juni 1932 sah er sich denselben Verdächtigungen des neuen Direktors ausgesetzt wie Kurt Groschopp, worüber nachfolgend noch zu berichten sein wird. Seine Entlassung erfolgte allerdings erst zum 31. August 1933 gemäß § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums.

Mit diesen Angaben zur Entlassung der Dissidenten unter den Lehrern ist chronologisch bereits die Zeit von Eberleins Nachfolger, Direktor Milzer, erreicht. Inzwischen hatte auch die politische Herrschaft in Braunschweig gewechselt: dort regierte nach der Landtagswahl am 14. September 1930 eine Koalition aus DNVP und NSDAP. Am 1. Oktober jenes Jahres wurde Dr. Anton Franzen (NSDAP) zum Minister gewählt: als Innen- und Kultusminister war er knapp ein Jahr im Freistaat Braunschweig tätig, bis er, diskreditiert durch die Begünstigung eines Parteigenossen, zurücktrat. Als Minister war er insbesondere bemüht, die Maßnahmen der vorangegangenen SPD-Regierung rückgängig zu machen, gerade im Bereich des Schul- und Erziehungswesens. Wichtige Ämter besetzte er mit NSDAP- und DNVP-Mitgliedern – so auch in Bevern.

Milzer gehörte zur DNVP und war aus Sicht der neuen Machthaber schon deshalb geeignet, sein Amt als Nachfolger eines entlassenen Sozialdemokraten anzutreten. Er tat dies zum 1. April 1931. Wie er selbst später äußerte, hatte er das vorgezeichnete Ziel, wieder Ordnung, Sauberkeit in sittlicher Beziehung und Ruhe in die Anstalt zu bringen. Es sollten das System und die Geistesrichtung […] geändert und in neue Bahnen gelenkt werden. Im Februar 1933 konnte er sich rühmen, sein Ziel unentwegt verfolgt und durchgeführt zu haben. Seinen Erfolg begründete er u. a. mit der Feststellung: Hetzende und Unruhe stiftende Erzieher sind weder unter den Herren noch unter den Damen mehr vorhanden.

Natürlich griff ihn die sozialdemokratische Presse nach seiner Ernennung scharf an. Der Volksfreund schrieb: Herr Milzer ist in politischer Hinsicht schon mannigfach hervorgetreten. Er ist seit Jahren ein führender Mann bei den Deutschnationalen und betätigt sich besonders auf dem Gebiete der Kommunalpolitik. Bei allen fortschrittlich eingestellten Menschen gilt Herr Milzer schon seit Jahren als die Personifizierung engstirnigster Reaktion. Der Landtagsabgeordnete Karl Poth aus Holzminden schimpfte, Milzer sei Parteibuchbeamter – damit hatte er zwar recht, unterschlug allerdings die Tatsache, dass man auch den Vorgänger Eberlein als solchen bezeichnen konnte.

Schon diese knappen Angaben zu den Direktoren des Wilhelmstifts verdeutlichen, wie stark die Ziele der Erziehung sowie die konkrete pädagogische Arbeit von den handelnden Personen und deren weltanschaulicher Einbindung abhängig waren. Welche Aufbruchstimmung und zugleich verworrene Situation in der Weimarer Republik herrschte, ist bereits aus der Tatsache abzuleiten, dass Eißfeldt 35 Jahre Direktor in Bevern war, während in der relativ kurzen Zeit von 1919 bis zur Schließung der Anstalt im Herbst 1933 drei Männer – je nach herrschender politischer Konstellation – diesen Posten innehatten.

Angesichts dieser Feststellung lohnt es sich zweifellos, nachfolgend intensiver den Blick auf einige der damals in der Landeserziehungsanstalt tätigen Personen zu richten.

Direktor Gotthard Eberlein

Nicht nur angesichts seiner exponierten Stellung als Direktor ist Gotthard Eberlein an erster Stelle zu betrachten. Mit seiner Person ist auch besonders deutlich zu zeigen, wie sowohl die Anstellung als auch die Entlassung unter politischen Vorzeichen geschahen – zumal es sich bei der Leitung des Wilhelmstifts nicht um seine erste Tätigkeit im Freistaat Braunschweig handelte: Bereits von 1923 bis 1926 war er Wirtschaftsinspektor und leitender Erzieher des Schülerheims der staatlichen Realschule in Seesen. Anfang und Ende dieser Tätigkeit waren ebenso wie die Vorgeschichte so kennzeichnend, dass zunächst darüber berichtet werden muss. Schon der Weg, auf dem sich Eberlein ohne eigenes Wissen in Braunschweig bekannt machte, war aufschlussreich. Der braunschweigische Landesschulrat Dr. Ernst Stoelzel, Vorsitzender des Landesschulamtes für das höhere Schulwesen, war laut eigener Angabe auf ihn durch einen „Vorwärts“-Artikel aufmerksam gemacht worden. Wie kam es, dass über Eberlein in der Presse berichtet wurde? Durch einen Skandal!

Der am 8. Oktober 1885 in Royn, Kreis Liegnitz, geborene Sohn eines Superintendenten hatte in Breslau und Halle Theologie, Philosophie und Volkswirtschaft studiert. Nach dem Studium war er von 1910 bis 1922 evangelischer Pfarrer an der St. Gertrudkirche in Stettin. In dieser Arbeitergemeinde wendeten sich Eberlein und sein Kollege Otto Buchholz besonders der Jugendarbeit zu und gelangten zu einer aus ihrer Sicht verständlichen und notwendigen, bewussten, positiven Stellung zum Proletariat, verbunden mit der aktiven Beteiligung an der sozialdemokratischen Partei und der Arbeiterbewegung. Bereits 1912 wurde ein Verein „Freunde der Jugendpflege […]“ gegründet, der ab 1917 eine Ortsgruppe der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost bildete. Der Vorsitzende dieser Ortsgruppe urteilte 1923: Eberlein war bemüht, der Jugend seiner Gemeinde ein Wegweiser zu selbständigem Menschentum zu sein. Die folgende Angabe von Otto Buchholz aus dem Jahr 1923 dürfte sich vor allem auf die Zeit ab 1919 beziehen: So gelang es uns z. B. bei der Neuwahl der kirchlichen Gemeindekörperschaften eine sozialistische Mehrheit zustande zu bringen. Wir verweigerten ferner als einzige Gemeinde Pommerns aus religiösen Gründen das Glockenläuten bei der Beerdigung der ehemaligen Kaiserin. Auch sprachen Eberlein und ich auf Einladung des öfteren in sozialistischen Volksversammlungen.

Zugleich beschäftigte Eberlein sich ausgiebig […] mit den modernen pädagogischen Fragen, war auch Mitglied im Bund der Entschiedenen Schulreformer. Studienrat Dr. Tacke in Stettin bezeichnete ihn Anfang 1923 als einen der Männer, die den Mut bereits 1919 fanden, eine entschiedene Umstellung zu allen Schulfragen zu fordern. Eine andere Beurteilung aus jenen Tagen lautete: An seiner Auffassung der Jugendpflege hätte ich nur auszusetzen, dass er sie, seiner gutherzigen fröhlichen Natur entsprechend, zu sehr als eine Art von Erholung für die Jugendlichen aufzieht und vielleicht zu wenig berücksichtigt, dass man diese nicht nur angenehm, sondern in erster Linie nützlich und zwar so beschäftigen soll, dass sie für das tägliche Leben brauchbare Fähigkeiten erwerben.

Sowohl innerhalb der Gemeinde als auch beim vorgesetzten Ev. Konsistorium der Provinz Pommern wurde diese Entwicklung sehr misstrauisch beobachtet. Gerüchte über Beziehungen Eberleins zu einem jungen Mädchen, das dem von ihm geleiteten Jugendklub angehörte, wurden daher offenbar bereitwillig aufgegriffen und sollten zu einem Ermittlungsverfahren führen. Dem Pastor, der sich längst innerlich von seinem Amt distanzierte, reichte es nun: er verzichtete auf die Rechte des geistlichen Standes und legte am 28. Juli 1922 sein Amt nieder. Zum 1. April 1923 tat dies ebenfalls sein Kollege Otto Buchholz, dem inzwischen ein Verhältnis mit der Frau Eberleins nachgesagt wurde. Gemeinsam rechtfertigten beide sich in einer Druckschrift mit dem Titel Wir Ausgestoßenen. Der Abschied zweier sozialistischer Pfarrer von der Kirche.

Wenn der Landesschulrat 1923 diesen Mann in den Freistaat Braunschweig holte, war dies zweifellos auch eine politische Entscheidung. Kritik ließ nicht lange auf sich warten – sie kam ebenso vom Landeskirchenamt in Wolfenbüttel wie auch von der Elternvereinigung der Jacobsonschule in Seesen: Eberlein wurden recht eigenartige Äußerungen im Religionsunterricht nachgesagt; Landesbischof Bernewitz fragte den Volksbildungsminister süffisant, ob er es wünsche, die Jugend des Landes zum Kommunismus erzogen zu sehen? Der Landesschulrat stellte sich vor Eberlein; politisch rechnete er ihn zur USPD. In der Folgezeit war es allerdings Eberlein selbst, der tatsächlich Anlass zur Kritik bot, und zwar hinsichtlich der Erledigung seiner dienstlichen Angelegenheiten. Zum 1. April 1925 wurde ihm daher die Leitung des Alumnats entzogen – er wurde dem Direktor der Schule unterstellt. Zum 1. Oktober 1926 wurde ihm im Rahmen allgemeiner Sparmaßnahmen gekündigt, und er übernahm die Leitung eines privaten Schülerheims in Schwedt/Oder.

Ein zweites Mal bewarb sich Gustav Eberlein um eine Stelle im braunschweigischen Staatsdienst, als er vom Freiwerden der Direktorenstelle im Wilhelmstift hörte. Am 1. November 1928 begann seine Tätigkeit in Bevern. Schon bald stieß er dort auf Gegnerschaft, die zwar in vielen Fällen politisch motiviert, aber auch inhaltlicher Art bezüglich der pädagogischen Richtung sein konnte – sogar der dissidentische Lehrer Dargatz musste schon Anfang 1930 bezüglich des Verhältnisses zwischen Kollegium und Direktor zugeben: Wir waren uns nur oftmals sachlich nicht einig, was unser Zusammenarbeiten dann störte. Wie sollten die Erzieherinnen und Erzieher auch mit Äußerungen ihres Vorgesetzten umgehen, wenn dieser z. B. auf einer Tagung der Freien Lehrergewerkschaft zum Thema Kinderfehler und soziales Milieu in Braunlage am 4. Januar 1930 in einem Vortrag über Verwahrlosung und Gesellschaft feststellte: Asozial sind junge Menschen infolge ihrer besonderen Jugenderlebnisse im elenden sozialen Milieu. Gerade die „Verwahrlosten“ sind die schlechtesten Elemente nicht. Unbewusst lebt in jedem der Instinkt des Empörers, der, richtig geleitet, in die Reihe der Klassenkämpfer führen könnte. Und zum Thema „Verwahrlosung“ führte er weiterhin aus: Leider werden noch vielfach dafür moralische Wertmaßstäbe herangezogen. Lebensfremde Menschen urteilen nach einer Moral, die im wirklichen Leben kaum vorkommt. Das Milieu, aus dem Erzieher und Leiter privater kirchlicher Anstalten stammen, ist das kleinbürgerliche Milieu.

Für die bürgerliche Kritik waren solche Vorstellungen untrennbar verbunden mit Eberleins politischer Einstellung: sie sah in ihm den neuen sozialdemokratischen Direktor. Dazu passte, dass er öffentlich in Bevern auf einer Versammlung der SPD gegen den Nationalsozialismus agitierte. Wenn er wenige Monate nach Eintritt der Nationalsozialisten in die Regierung in den Ruhestand versetzt und diese Maßnahme in einem Dienststrafverfahren sogar später in eine Dienstentlassung umgewandelt wurde, könnte man in ihm ein frühes Opfer der Verfolgung Andersdenkender vermuten. Dazu passt allerdings nicht die Tatsache, dass das Dienststrafverfahren bereits Anfang August 1930 unter dem 1940 im KZ Mauthausen umgekommenen Innenminister Gustav Steinbrecher (SPD) eröffnet worden war. Vielmehr war es erneut die, wie Hans-Windekilde Jannasch es ausdrückte, unheilvolle Schwäche dem weiblichen Geschlecht gegenüber, die ihn in Schwierigkeiten brachte. Im konkreten Fall waren es die Anschuldigungen einer nur dreieinhalb Monate im Wilhelmstift tätigen Stenotypistin, die Eberlein belasteten. Und als sich in der Untersuchung viele der angeblichen Enthüllungen über die Zustände in der Landeserziehungsanstalt als erheblich übertrieben herausstellten, blieb schließlich von allen Beschuldigungen nur das eigenartige Benehmen des Angeklagten seiner Sekretärin gegenüber bestehen. Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass die Angestellte wegen Streitigkeiten um die Höhe ihres Lohns zum 1. August 1930 kündigte, dieserhalb auch Klage beim Arbeitsgericht einreichte und dann am 4. August nach Braunschweig fuhr, um dort bei der Regierung ihre Beschwerden über Eberlein vorzubringen.

Wenn seinerzeit schon die Berechtigung einzelner Vorwürfe nicht einwandfrei geklärt werden konnte, vermag es der Historiker heute erst recht nicht. Der Anteil politischer Animosität an der Dienstentlassung Eberleins ist also nicht mehr festzulegen. Eindeutig politisch motiviert waren jedoch die anschließenden Versuche, ihm auch außerhalb Beverns das Leben so schwer wie möglich zu machen. Als er in Berlin sein Geld mit einer Buchhandlung und Leihbücherei zu verdienen suchte, geriet er dort in das Visier von Reichsschrifttumskammer und Kreisleitung. Nachfolgend sei aus einem in diesem Zusammenhang entstandenen Schreiben des Ortsgruppenleiters Meyer in Bevern vom 9. August 1934 zitiert: Es freut mich ganz besonders von diesem Marxistenhäuptling einmal etwas wieder zu hören. Eberlein ist ein Mensch der weit über die Grenzen des Braunschweiger Landes bekannt ist, einmal als großer Marxist und zweitens als ein Mensch, welcher heute nicht mehr in die menschliche Gesellschaft hineingehört. […] Jedenfalls nenne ich Eberlein von mir aus als ein ausgesprochenes verkommenes Subjekt. Ich würde es sehr begrüßen, diesen[!] großen Gegner der NSDAP endlich von dort aus das Handwerk zu legen. Offenbar gelang es Eberlein jedoch, einigermaßen unbehelligt die Jahre bis 1945 zu überstehen – anschließend begann für ihn eine zweite Karriere in der Ostzone, die er 1959 mit der Übersiedlung in die BRD beendete.

Bruno Friedrich

Wurde mit Gotthard Eberlein ein exponierter Vertreter des linken Lagers betrachtet, ist nunmehr das Augenmerk auf Bruno Friedrich, einen der führenden Nationalsozialisten in Bevern zu Beginn der 1930er-Jahre, zu richten. Er kam unter Eberleins Nachfolger Milzer nach Bevern: sein Dienstantritt im Wilhelmstift datiert auf den 21. September 1931. Dass hierbei weniger pädagogischen Fähigkeiten als seine politische Überzeugung eine Rolle spielten, wurde schnell deutlich. Schon drei Wochen später griff die sozialdemokratische Presse in Braunschweig diese Personalsache auf und teilte den Lesern – nicht zu Unrecht – mit, Friedrich sei strammer Nationalsozialist.

Der am 15. Februar 1896 in Derschlag (Gummersbach) geborene Bruno Friedrich war ein fanatischer Nationalsozialist der ersten Stunde, einer der wirklich „alten“ Kämpfer: Mitgliedsnummer 13.210, Ortsgruppe München. Im Juli 1923 war er zum Deutschen Turnfest nach München gereist, wo u. a. Hitler eine Rede vor Turnern hielt – begeistert schloss er sich dessen Forderungen an und versuchte anschließend im Oberbergischen Land, gleich gesinnte Volksgenossen organisatorisch zu erfassen. Am 1. März 1924 leitete er eine nationalsozialistische Versammlung in Gummersbach, was ihm wegen der dort durch den Redner vorgebrachten Beleidigungen des Reichspräsidenten Ebert ein gerichtliches Verfahren einbrachte. In verschiedenen Orten als Lehrer tätig, scharte er eine Reihe von Gesinnungsgenossen um sich, die teilweise eingetragene Mitglieder der Ortsgruppe München waren. Über die Liste des Völkischsozialen Blocks wurde er 1924 Stadtverordneter in Gummersbach.

Nachdem er am 7. März 1929 in Ehrentalsmühle, seinem damaligen Dienstort, eine Schulfeier in den Dienst nationalsozialistischer Parteiwerbung gestellt und am 28. Juni 1929 in Opsen in öffentlicher Versammlung die deutsche Republik und ihre Leiter geschmäht hatte, wurde er vom Amte suspendiert. Ungeachtet dieser Tatsache trat er weiterhin als nationalsozialistischer Agitator auf, so am 25. November 1930 in Oberkassel und Ende Januar 1931 gleich zweimal in Honnef. Seine endgültige Entlassung aus dem preußischen Schuldienst erfolgte (nach weiteren Vorfällen) Anfang 1931. Die aus seiner Sicht wegen meiner Betätigung in der NSDAP erfolgte Entlassung bildete im nationalsozialistisch regierten Braunschweig gewissermaßen eine Empfehlung, und ein halbes Jahr später gelangte Friedrich – zunächst als Hilfslehrer, ab 15. Dezember 1932 als Lehrer – in den braunschweigischen Schuldienst.

Kurz darauf konnte die sozialdemokratische Presse bereits berichten: Kaum war er drei Tage in Bevern, da hatte er nichts Eiligeres zu tun, als dort eine nationalsozialistische Versammlung zu inszenieren. Als am Sonntag in Bevern eine öffentliche sozialdemokratische Versammlung stattfand, trat Herr Friedrichs[!] als Diskussionsredner für die Nazis auf. Angeblich rühmte er sich damals, schon in etwa 1000 Hakenkreuzversammlungen als Redner für Adolf Hitler aufgetreten zu sein.

Friedrich wirkte, wie sich den Quellen deutlich entnehmen lässt, tatsächlich keineswegs nur als Pädagoge im Wilhelmstift, sondern betätigte sich in dieser von den Nationalsozialisten später so bezeichneten „Kampfzeit“ vor allem agitatorisch. So sprach er bereits am 2. Oktober 1931 auf einer Versammlung in Halle, wo an diesem Tage die örtliche SA gegründet wurde. Ebenfalls für den Oktober 1931 sind Auftritte als Redner während nationalsozialistischer Versammlungen in Bevern, Eschershausen, Merxhausen, Stadtoldendorf und Warbsen belegt. Aus seiner Rede in Stadtoldendorf hob die Presse die Äußerungen zur Rassenfrage und sein Verdikt, dass eine Rassenmischung ein Verbrechen sei, besonders hervor. Über weitere 14 Auftritte in den nächsten Monaten bis zur Reichspräsidentenwahl am 13. März 1932 liegen Zeitungsberichte vor. Ende 1932 findet er sich im Gauredner-Verzeichnis des Gaues Südhannover-Braunschweig verzeichnet, was als Bestätigung ebenso seiner rhetorischen Fähigkeiten wie seines eifrigen Einsatzes für die Partei zu werten ist. Im April 1932 wurde er als Redner im Wahlkampf um Preußen eingesetzt. Sogar als Kandidat für die Reichstagswahl am 6. November 1932 stellte er sich der Partei zur Verfügung.

Direktor Milzer beurteilte Friedrich ein knappes Vierteljahr nach Dienstantritt u. a. so: Auftreten forsch, seinem rheinischen Naturell entsprechend. […] Scheint Kampfnatur zu sein und scheut Zusammenstöße nicht. […] Sein Auftreten in Versammlungen findet nur bei denen Missfallen, die früher hier die Macht in der Hand hatten. Eine ganz natürliche Erscheinung. Seitens der SPD in Bevern wurden ihm Aussprüche wie dieser nachgesagt: Wenn Adolf Hitler Reichspräsident ist, gehören die ersten 24 Stunden der SA, dann wird auch der Artikelschreiber aus dem Grünen Wege aus dem Hause geholt.

1932 wurde Friedrich wegen öffentlicher Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er den Landtagsabgeordneten und Kreisvorsitzenden der SPD Poth als Parlamentswanze bezeichnet und von seinem Wasserkopf und seiner weichen Birne gesprochen hatte. Auf diesen Prozess soll hier nicht näher eingegangen werden; erwähnt sei aber, dass Friedrich seine Strafe nie bezahlte, sondern Berufung einlegte und das Verfahren dann nach Erlass des Amnestiegesetzes eingestellt wurde, da – wie es im Beschluss hieß – die Tat vorwiegend aus politischen Beweggründen […] begangen ist.

Das freiwillige Ausscheiden Friedrichs aus dem braunschweigischen Staatsdienst zum 16. Juni 1933 beruhte auf einem Karrieresprung: er war zum Leiter der neuen preußischen Landesführerschule I in Königswinter ernannt worden. „Zu verdanken hatte er seine Position sicherlich Robert Ley, den er seit Mitte der 1920er Jahre kannte.“ Die Schule war in den folgenden Jahren „ein ständiger Herd von Provokationen und Angriffen gegen die katholische Bevölkerung“ in Königswinter: Mit mancherlei Aktionen brachte Friedrich seine antikirchliche Haltung zum Ausdruck. Im Februar 1935 kam es deshalb sogar zum „Einspruch des Kölner Generalvikariats beim Oberpräsidenten der Rheinprovinz in Koblenz gegen die Tätigkeit des Pg. Friedrichs[!], des Leiters der Landesführerschule in Königswinter“ – er blieb unbeantwortet.

Heinz Wiegand

Neben Friedrich war es der Erziehungsinspektor Heinz Wiegand, der den Nationalsozialismus im Wilhelmstift, in Bevern und im Kreis Holzminden förderte. Er kam etwa zeitgleich mit Direktor Milzer nach Bevern und dürfte ebenso wie er seine Stellung seinem Parteibuch verdankt haben. Ebenso wie Friedrich war er propagandistisch im Kreisgebiet sowie in benachbarten Orten tätig: erstmals findet sich sein Name anlässlich einer Veranstaltung am 2. Oktober 1931 in Dielmissen erwähnt. Bis Anfang 1933 trat er als Redner u. a. auf in Bevern, Holzminden, Meinbrexen, Mühlenberg, Stahle (Kreis Höxter) und Wenzen (Kreis Gandersheim). 1932 war er Ortsgruppenleiter in Bevern. Gemeinsam mit Lehrer Bosse versuchte er, junge Leute zur SA anzuwerben. Landtagsabgeordneter Poth kritisierte 1932, Wiegand sei mehr auf dem Parteibüro als in Bevern.

Über seine Aufgabe urteilte die Oberweser Volkszeitung: Nun weiß man allerdings auch im Ort, dass Wiegand nicht etwa zur Erfüllung seiner dienstlichen Verpflichtungen von dem früheren Naziminister Franzen nach Bevern geschickt wurde, sondern dass er den Parteiauftrag erhalten haben soll, die marxistisch verdächtigen Angestellten am Wilhelmstift zu bespitzeln und brotlos zu machen. Und wenige Tage später war in der Zeitung zu lesen: Wiegand und Friedrich, die nach hier gekommen sind, um die „Roten“ auszurotten, haben in der Praxis gezeigt, wie die „Musterwirtschaft“ des 3. Reiches aussehen wird. Die Väter von 11 Kindern sind bis jetzt brotlos gemacht, ohne die vielen Ledigen zu nennen. Gerade der letzte Abbau des Genossen Hiekel hat bis weit in die bürgerlichen Kreise die hellste Empörung hervorgerufen. Natürlich ist auch diese Angabe Propaganda, und die Zahlenangaben wurden für den vorliegenden Beitrag nicht überprüft. Wie diese „Praxis“ der Nationalsozialisten jedoch aussah, sei nun am Beispiel zweier Mitarbeiter des Wilhelmstiftes gezeigt.

Kurt Groschopp

Für den am 19. Januar 1902 in Chemnitz geborenen Wohlfahrtspfleger Kurt Groschopp lässt sich deutlich den Akten entnehmen, dass sowohl seine Anstellung in Bevern als auch die spätere Entlassung vorrangig von seiner politischen Einstellung abhingen. Zum 1. November 1929 kam er als (Hilfs-)Erzieher in die Landeserziehungsanstalt, also während des Direktorats Gotthard Eberleins.

Betrachtet man die von Groschopp zu den Akten gegebenen Unterlagen, scheint für Eberleins Entscheidung vor allem die Beantwortung einer von ihm gestellten Frage ausschlaggebend gewesen zu sein: Haben Sie mit der Proletarierjugend irgendwelche Fühlung? Groschopp verwies auf seine Herkunft aus dem Proletariat, wenngleich er zugeben musste, in seiner Familie keine milieuechte Erziehung genossen zu haben – vielmehr hatte er sich zunächst der Wandervogelbewegung angeschlossen. Seine Berufswahl begründete er dann aber mit der Hilfeleistung der Proletarierjugend gegenüber. Laut eigener Angabe führte er in der dienstfreien Zeit […] eine große Anzahl Arbeitsgemeinschaften in den Ostthüringer Gruppen der Soz. Arbeiter-Jugend durch. Zu deren Erfolg äußerte er sich Eberlein gegenüber: Das immer dringendere Anfordern um die Abhaltung der Abende bestätigte mir die Beliebtheit derselben. Im Sommer 1929 hatte er am vierwöchigen Zeltlager der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde in Probstzella teilgenommen und hob dazu besonders hervor: Als Vorsitzender des Lagerparlamentes hatte ich wiederum reichlich Gelegenheit, die Gedankenwelt der Proletarierjugend in einer eigenen, selbstverantwortlichen Umwelt kennen zu lernen.

Im Dezember jenes Jahres, also nach seiner bereits erfolgten Anstellung, ließ er sich dazu noch besondere Bestätigungen ausstellen. So bescheinigte ihm die örtliche Organisation der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde in Ronneburg, dass er mit einer Gruppe der Ronneburger „Rote Falken“ an dem Zeltlager in Probstzella teilgenommen hat und dabei seine Funktionen zu unserer vollsten Zufriedenheit erfüllte. Mit einem weiteren Schreiben aus Ronneburg konnte Groschopp belegen, dort von Januar bis März 1929 den Vorbereitungsunterricht der Jugendweihlinge unseres Agitationsbezirkes gegen Bezahlung zu unserer vollsten Zufriedenheit durchgeführt zu haben.

Dass dieser Mann ins Visier der Nationalsozialisten geriet, verwundert nicht. 1931/1932 erfolgten offenbar mehr oder weniger kontinuierlich Sticheleien seines Kollegen Wiegand gegen ihn, von denen beispielsweise folgende Meldung zu den Akten genommen wurde: Der Hilfserzieher Groschopp kam heute morgen mit seiner Abteilung fünf Minuten zu spät zum Antreten. Bevern, den 8. Januar 1932. Wiegand. Füllten allmählich solche Lappalien die Akte, ohne dass sie zu schwerwiegenden Konsequenzen führten, fand sich im Frühjahr 1932 Anlass zu einer weiteren Denunziation, die nun den Dienstweg bis zum Minister für Inneres und Volksbildung, Dietrich Klagges, nahm: Bevern, den 8. April 1932. An den Herrn Direktor der Landeserziehungsanstalt Wilhelmstift Bevern. Als vor einiger Zeit die Vertretung des beurlaubten Praktikanten Krauß erörtert wurde, wandte sich der Hilfserzieher Groschopp heftig dagegen, dass diese Vertretung durch Mehrleistung des anderen Personals erledigt würde. Er gebrauchte dabei die Äußerung: „Ich habe keine Lust, für Klagges Gnaden mehr Dienst zu schieben, um mir die Nerven kaputt zu machen.“ Wir erblicken in dieser Äußerung einen Versuch, unseren vorgesetzten Herrn Minister herabzusetzen und bringen sie deshalb zur Meldung. P. Timmermann Koß Schmidt Wegener.

Klagges äußerte sich am 10. Mai selbst dem Wilhelmstift gegenüber: Es ist zu meiner Kenntnis gekommen, dass der dortige Hilfserzieher Groschopp über mich unangemessene Äußerungen getan haben soll. Dessen Tage in Bevern waren nun offenbar gezählt. Das Fass zum Überlaufen brachte wenig später ein Leserbrief in der sozialdemokratischen Oberweser Volkszeitung über skandalöse Zustände in der Fürsorgeanstalt Bevern, unterzeichnet von der örtlichen SPD. Am 9. Juni 1932 wurde Groschopp von Direktor Milzer dienstlich befragt, ob ihm dieser Artikel vor Drucklegung bekannt gewesen sei und ob er ihn billige? Milzer tat dies, weil er Groschopp als Mitglied der SPD in Bevern für mitverantwortlich hielt, wobei er den Vorwurf äußerte, der Artikel enthalte grobe Entstellungen und Unwahrheiten.

Groschopp verneinte die Fragen Milzers – ob dies der Wahrheit entsprach, ist der Akte natürlich nicht zu entnehmen. Aber seine Zeit in Bevern war endgültig abgelaufen. Am 28. Juni 1932 wurde der Landeserziehungsanstalt mitgeteilt: G. ist nach Weisung des Herrn Ministers Klagges zu kündigen zum nächst zulässigen Termin. Das war der 30. September 1932. Ab dem 16. August wurde Groschopp bereits beurlaubt und durfte insofern nicht mehr seiner Arbeit nachgehen. Auch diese Beurlaubung war (telefonisch) mit Klagges persönlich geklärt worden. Hinzuweisen ist darauf, dass Groschopp mit seiner Familie, da er zunächst keine Ersatzwohnung finden konnte, noch bis zum 1. April 1933 in seiner Dienstwohnung bleiben durfte.
Johannes Hiekel

Wesentlich länger als Groschopp war der am 12. Oktober 1901 in Dresden geborene Büroangestellte Johannes Hiekel im Wilhelmstift tätig: neuneinhalb Jahre. Seit dem 1. Oktober 1923 in Bevern angestellt, erhielt er im Sommer des folgenden Jahres bereits eine sehr positive Beurteilung durch die Direktion: Ihm wurde bescheinigt, dass er sich sehr gut in den vielseitigen Büro- und Kassendienst des Wilhelmstiftes hineingearbeitet hat und seinen verantwortungsvollen Dienst mit großem Eifer und unbedingter Zuverlässigkeit versieht. Sogar das angesichts seiner Entlassung Ende 1932 von Direktor Milzer ausgestellte Zeugnis war ebenso positiv: Hiekel liegt die Aktenführung der Anstalt ob, der er sich mit besonderem Geschick unterzogen hat. Seinen Dienst versieht er pünktlich und gewissenhaft. […] Über seine dienstliche Führung ist nichts Nachteiliges zu sagen.

Neben seiner Verwaltungstätigkeit spielte Johannes Hiekel aber noch eine andere Rolle im Leben der Anstalt sowie darüber hinaus: er engagierte sich stark im musischen Bereich. 1927 gab er an, bereits seit mehreren Jahren Mitglied im Deutschen Arbeiter-Sängerbund zu sein und nebenberuflich als Chordirigent zu wirken. Letztere Angabe bezog sich – außerhalb des Wilhelmstifts – auf den Arbeitergesangverein Brunonia in Bevern. Welche Ausbildung ihn dazu befähigte, ist seiner Personalakte nicht zu entnehmen. Belegt ist jedoch seine aktive Weiterbildung: so erhielt er vom Wilhelmstift Sonderurlaub vom 10. bis 19. Oktober 1927, um an einem Kursus an der Staatlichen Hochschule für Musik in Berlin-Charlottenburg teilnehmen zu können.

In der Jugendarbeit der SPD setzte er ebenso seine musikalischen Fähigkeiten ein. Von seinem Arbeitgeber kritisch beobachtet, führte er im Auftrag der Unterbezirksleitung am 5. und 6. März 1932 in Bevern eine Arbeitstagung der Arbeiter-Jugend und Kinderfreunde durch, an der etwa 50 Jungen und Mädchen teilnahmen. Das Thema des Kurses lautete: Volkslied und Volkstanz. Es wurden ebenso Frühlingslieder (Kanons sowie ein- und mehrstimmige Gesänge) eingeübt wie verschiedene Volkstänze. Damit unterschied sich der Inhalt der Veranstaltung offenbar kaum von dem einer vergleichbaren Singwoche der bürgerlichen Jugendmusikbewegung!

Gleiches gilt für Hiekels Aktivitäten an seinem Arbeitsplatz. Auch hierzu ist es die sozialdemokratische Tageszeitung, die uns die Informationen überliefert, nicht die von politischen Streitigkeiten zeugende Personalakte! Im Bericht über die Weihnachtsfeier 1931 im Wilhelmstift wurden die im Spiel erklingenden alten volkstümlichen Melodien der kleinen Sänger und des Hausorchesters […] unter Hans Hiekels Leitung erwähnt. Als Hiekels anstehende Entlassung bekannt wurde, urteilte die Zeitung mit Bezug auf die jugendlichen Zöglinge in Bevern: Sie haben es ihm nicht vergessen, dass er es war, der in hohem Maße mithalf, das Einerlei des Anstaltslebens farbig zu mischen. Viele Feierstunden, manches Konzert und manche Bühnenaufführung verdanken sie ihm, und gern gedenken sie der Stunden, in denen ihnen ein Hiekel Freude im Chorsingen bereitete. (Ob wirklich jeder der Jugendlichen Freude am Chorsingen hatte, sei hier nicht näher untersucht.)

Wenn für diesen Mann im Oktober 1932 wiederum Innenminister Klagges persönlich die fristgerechte Kündigung sowie die möglichst sofortige Beurlaubung anordnete, konnten dafür nicht dienstliche Verfehlungen die Ursache sein. Es gab auch tatsächlich nur einen Grund: Hiekel war Sozialdemokrat!

Wieder war es der bereits in Zusammenhang mit der Entlassung Kurt Groschopps genannte Mitarbeiter Paul Timmermann aus Hellental, der gezielt mit einer Denunziation den Stein ins Rollen brachte. Am 26. Juli 1932 konnte er, natürlich auf dem vorgeschriebenen Dienstweg (An den Herrn Braunschweigischen Minister des Innern durch den Herrn Direktor der Landeserziehungsanstalt „Wilhelmstift“), Minister Klagges mitteilen: In der vergangenen Woche brachte der Tägliche Anzeiger eine Mitteilung über das vom Herrn Braunschweigischen Minister des Innern ausgesprochene Verbot des „Volksfreundes“ und seiner Kopfblätter. Als ich die Zeitung las, kam der Büroangestellte Hiekel hinzu. Wir kamen ins Gespräch. Er erklärte wörtlich: „Das ist eine Gemeinheit!“ Der Büroangestellte Hiekel hat damit eine Amtshandlung des uns vorgesetzten Ministers in herabsetzender Weise kritisiert. Er hat eine beleidigende Äußerung gegenüber dem Herrn Braunschweigischen Minister des Innern getan. Ich halte mich dienstlich für verpflichtet, diesen Vorfall zur Meldung zu bringen. Paul Timmermann. – Von der Tatsache der Denunziation ganz abgesehen: es ist auch die in den Formulierungen enthaltene Speichelleckerei, die diese Meldung für den heutigen Leser so abstoßend macht.

Vom Direktor zu diesem Vorkommnis befragt, versuchte Hiekel abzuwiegeln. Er zweifelte an, überhaupt den zitierten Ausdruck gebraucht zu haben. Die weiteren Ausführungen zeigten wenig Solidarität mit seinen Parteigenossen: Jedenfalls bezog sich meine abfällige Äußerung nicht etwa auf die Amtshandlung des Ministers, sondern auf die Torheit der Volkszeitung, die ja ein Verbot herausfordern musste. […] Übrigens habe ich meine Meinung, dass das Verhalten der Oberweser Volkszeitung eine Torheit war, auch in Parteikreisen der SPD vertreten und stehe noch heute auf demselben Standpunkte.

In den folgenden Wochen wurde ohne Ergebnis versucht, den Wahrheitsgehalt der unterschiedlichen Aussagen zu prüfen. Hiekel und Timmermann blieben bei ihrer jeweiligen Version. Mit Timmermann sprach Innenminister Klagges sogar persönlich, als er am 14. Oktober 1932 in Bevern weilte, und ließ sich von ihm noch einmal dessen Version bestätigen. Inzwischen war ein weiterer gegen Hiekel gerichteter Vorwurf aktenkundig geworden: Der Landwirt Friedrich Höltje aus Bevern beschuldigte ihn in einem Brief an Klagges vom 19. September 1932, gemeinsam mit einem weiteren SPD-Mitglied, Heinrich Raulfs, Urheber der Berichte über das Wilhelmstift in der Oberweser Volkszeitung zu sein. Hiekel bestritt in seiner Vernehmung am 7. Oktober sowohl, Material über die Anstalt an die Oberweser Volkszeitung geliefert, als auch gemeinschaftlich mit Raulfs unwahre und tendenziöse Artikel über die Anstalt verfasst zu haben. Vergeblich: am 21. Oktober 1932 verfügte Klagges die Kündigung, und auf Nachfrage teilte Direktor Milzer Hiekel mit, dass leletzterer den Grund seiner Kündigung in einer ungehörigen Äußerung über den Herrn Braunschweigischen Minister des Innern zu suchen habe.

Allerdings erfolgte offenbar nicht die von Klagges angeregte sofortige Beurlaubung, weshalb Hiekel auch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Deutschen Reich noch bis zum 31. März 1933 in der Landeserziehungsanstalt Bevern tätig war. Während seiner letzten Arbeitstage bot er damit für fanatische Nationalsozialisten im Wilhelmstift noch eine Zielscheibe, deren Hilflosigkeit angesichts der inzwischen eingetretenen Verfolgungslage der Sozialdemokratie sie schamlos ausnutzen konnten.

Konkret war es der Lehrer Bosse aus Bevern, der am 13. März Hiekel während eines Gesprächs ins Gesicht schlug. Bosse war überzeugter Nationalsozialist, dem die Oberweser Volkszeitung u. a. vorwarf, sein Amt dafür zu nutzen, gemeinsam mit Wiegand junge Leute für die SA anzuwerben. Inhaltlich ging es bei dem Gespräch um einen Streit, den Bosse einige Tage zuvor mit dem bereits erwähnten Heinrich Raulfs gehabt hatte. Hiekel schilderte den Vorfall folgendermaßen: […] Hierauf schlug mich Herr Bosse ins Gesicht mit den Worten: Sie lügen genau so, wie Ihre Presse, jedes Wort, das Sie sagen, ist eine Lüge usw. Es fielen dann noch Worte wie: rotes Gesindel, Halunken, Verbrecher usw. Außerdem gebrauchte Herr Bosse folgenden Satz: Mit Ihnen werden wir abrechnen, und sprechen Sie noch ein Wort (über mich?), dann kann ich für Ihr Leben keine Gewähr übernehmen.

Aufschlussreich bezüglich des Verkennens der inzwischen eingetretenen bedrohlichen Situation seitens der SPD ist die Tatsache, dass Hiekel mit der Meldung dieses Vorfalls die Hoffnung auf Untersuchung und Ahndung verband. Aus heutiger Kenntnis der Ereignisse jener Monate muss nicht besonders darauf hingewiesen werden, dass bei Taten wie der des Lehrers Bosse damals für den Angreifer keine Sanktionen zu befürchten waren!

Womit sich Hiekel in der NS-Zeit seinen Lebensunterhalt verdiente, konnte nicht ermittelt werden. Bis September 1937 wohnte er noch in Holzminden, dann verzog er nach Worms. Am 2. Mai 1939 verließ er mit seiner Familie Worms, um nach Koblenz zu ziehen. Von 1945 bis 1977 lebte er abermals in Holzminden.

Paul Timmermann

Fast nichts wissen wir über den in beiden Fällen maßgeblichen Denunzianten Paul Timmermann. Beim Eintritt in Bevern im Frühjahr 1932 als früherer Schulamtsbewerber bezeichnet, wurde er hier als Erziehungspraktikant beschäftigt. Schon wenige Wochen nach Dienstantritt hatte ihn die sozialdemokratische Presse im Visier und stellte fest, er sei ein strammer Nazimann. Dass er dies war, belegen bereits die geschilderten Vorgänge. In einer der letzten Ausgaben der Oberweser Volkszeitung, am 1. März 1933, wetterte das sozialdemokratische Blatt noch einmal gegen Timmermann und schrieb: Timmermann ist das leuchtende Beispiel moderner Parteibuchpolitik, die Eigenschaften des neuen Systems sind in seiner Person besonders verkörpert. Als „Reiniger“ zog er in das Wilhelmstift ein und – „arbeitete gut“. Ganze Familien brachte er durch wahrheitswidrige Angaben um Stellung und Verdienst, bei allen Aktionen gegen den nicht nationalsozialistisch eingestellten Teil der Angestelltenschaft „kehrte“ er an erster Stelle. – Dem ist nichts hinzuzufügen.

Personalpolitik im Braunschweigischen

Neue Politik mit neuen Beamten nach dem Ende des Kaiserreichs? In den Jahren 1919 bis 1924, als die SPD in Braunschweig an der Regierung beteiligt war, konnte davon nur in Ansätzen die Rede sein. Das lag u. a. an den engen Grenzen des geltenden Beamtenrechts, am Mangel personeller Ressourcen und teilweise wohl auch an politischer Rücksichtnahme. Eine spektakuläre Personalentscheidung wie im Fall der Einstellung Gotthard Eberleins in Seesen war eher die Ausnahme, nicht die Regel.

Das änderte sich 1925, als die inzwischen ohne Beteiligung der Sozialdemokraten regierende bürgerliche Koalition versuchte, die Entwicklung der letzten Jahre zu beenden und viele in der Zwischenzeit getroffene Entscheidungen wieder aufzuheben. Nun fielen republikanische Beamte – nicht nur Sozialdemokraten, sondern auch Mitglieder der DDP – fast automatisch in Ungnade, wurden auf unwichtige Posten abgeschoben oder gar entlassen.

Das hatte „weit reichende Auswirkungen auf die Haltung der SPD“ in Fragen der Personalpolitik, die sich in der Zeit der sozialdemokratischen Alleinregierung 1927 bis 1930 zeigten. Nun wurde massiv nachgeholt, was bis 1924 nur in Ansätzen durchgeführt worden war: die Besetzung der Dienststellen mit republikanisch gesinnten Beamten. Rother sieht darin mit Recht mehr als nur „Revanchepolitik“ bezüglich der vorhergehenden Regierung: Es war die Erkenntnis, dass politische Entscheidungen nicht ohne Mitwirkung der Verwaltungen, erst recht nicht gegen deren Widerstand, durchgesetzt werden können. Braunschweig sollte zum „sozialdemokratischen Musterland“ werden.

Zwangsläufig auf die Spitze treiben mussten die Nationalsozialisten eine solche Personalpolitik, ist doch eine Diktatur auf Gedeih und Verderb von der (notfalls erzwungenen) Folgsamkeit nicht zuletzt der Verwaltung abhängig. Zugleich ging es unter ihnen bei einigen vielleicht durchaus um persönliche Revanche für erlittene eigene Benachteiligungen aufgrund ihrer politischen Tätigkeit zu Zeiten sozialdemokratischer Regierungen. Bruno Friedrich war, wie bereits geschildert, aus dem Staatsdienst entlassen worden. Wichtiger für die Entwicklung in Braunschweig dürfte die Tatsache gewesen sein, dass der nationalsozialistische Minister für Inneres und Volksbildung Klagges ursprünglich selbst Lehrer gewesen war, sogar Konrektor der Mittelschule in Benneckenstein/Harz. 1930 war er wegen seiner Tätigkeit u. a. als Ortsgruppenleiter aus dem preußischen Schuldienst entfernt worden. In diesem Punkt könnte sein hartes Vorgehen gegen die missliebigen Angestellten in Bevern also zumindest teilweise auf seiner persönliche Geschichte beruht haben.

Aus heutiger Sicht ist es erschreckend, zu sehen, wie selbstverständlich beide politischen Lager Entlassungen Andersdenkender – nach 1968 würde man sagen: „Berufsverbote“ – als Mittel der politischen Auseinandersetzung einsetzten. Auch mit persönlichen Angriffen des Gegners hielten alle Seiten sich leider kaum oder gar nicht zurück. Bei der Verurteilung Friedrichs im erwähnten Beleidigungsprozess berücksichtigte der Richter erschwerend, dass der in den Redewendungen des Angeklagten liegenden groben persönlichen Verunglimpfung des politischen Gegners, noch dazu in dessen Abwesenheit, als Mittel des politischen Meinungskampfes im Interesse der allgemeinen Gesittung Einhalt geboten werden muss. Zugleich stellte er fest, dass ähnliche Ausartungen des politischen Kampfes nahezu in allen Lagern vorgekommen sind und in der Heftigkeit des […] geführten Streites eine gewisse Erklärung finden. Justitia resignierte allmählich …

Wie die beschriebenen Denunziationen in Bevern zeigen, fanden die Nationalsozialisten genügend freiwillige Mitstreiter in ihrem Kampf speziell gegen die Sozialdemokratie. Insofern sei abschließend noch eine Anmerkung zu diesem Thema erlaubt. Denunziation ist in den letzten Jahren zu einem beachteten Forschungsgegenstand geworden, so dass man inzwischen sogar von einer eigenen „Denunziationsforschung“ spricht. Dabei wird die Frage gestellt, ob und in welchem Umfang Denunzianten und ihre Denunziationen für eine diktatorische Herrschaft von Bedeutung sind – sowohl als tatsächlich ausgeführte Tat als auch durch deren bloße Möglichkeit mit der daraus resultierenden Einschüchterung. Lange wurde dieses Thema in der bundesdeutschen „Vergangenheitsbewältigung“ totgeschwiegen, stellt es doch eine gerne verdrängte Frage: „die Frage nach der Mitverantwortung jedes Einzelnen für das Funktionieren des Regimes“!

(c) Matthias Seeliger / Stadtarchiv Holzminden

(Vorstehender Beitrag, basierend auf dem Vortragstext, ist mit Anmerkungen und 4 Abbildungen gedruckt in: Jahrbuch für den Landkreis Holzminden 28/29 (2010/11, S. 71-92)

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