Gertrud Pötzinger, Änne Dickmann, Gertrud Müller, Charlotte Tetzner u.a.

Liebe Leser,

vor ca 17 Jahren habe ich an einem Sonntag morgen um 8 Uhr mit der ehemaligen Inhaftierten Gertrud Pötzinger ein Tefefon-Interview geführt. Dieses Interview habe ich auch in meiner Radiosendung über das Frauen KZ Ravenbrück aufgenommen. Der Text der Radiosendungen und die Erzählungen der sieben ehemaligen Ravensbrückerinnen, die aus unterschiedlichen Gründen inhaftiert waren oder eine Bezug zu Ravenbrück hatten, habe ich auch in dem Hörbuch „Übrigens …, wir sind die Letzten“ (2 CD´s und Buch, sowie Download) veröffentlicht. Die Histriker Dr. Bernhard Strebel und Dr. Hans Hesse erzählen von ihren Forschungsergebnissen.

„Übrigens, … wir sind die Letzten“ – Ein Hörbuch entsteht

Übrigens … wir sind die Letzten” – Überlebende des Frauen-KZ Ravensbrück berichten nur noch als Download (ohne Textbuch) beim SDK-Hörbuch Verlages lieferbar.

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„Wir standen nicht abseits“ – Frauen im Widerstand gegen Hitler (Interview mit Dr. Frauke Geyken)

(Die Radiosendung wurde am 8.2.2015 im StadtRadio Göttingen ausgestrahlt)

Was versteht man unter Widerstand im Nationalsozialismus?

20170204_195209Es gibt bis heute keine gültige Definition von Widerstand, aber m. E. müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, damit man von Widerstand sprechen kann. Denn niemand war ein Widerstandskämpfer, der den Hitlergruß verweigerte, weil er ihn für unzivilisiert hielt, ein gepflegtes Guten Tag vorzog, aber ansonsten mit der Politik der Nationalsozialisten einverstanden war. Man kann aber durchaus von widerständigem Handeln sprechen, wenn jemand nie mit Heil Hitler grüßte, weil er oder sie damit andeuten wollte, dass er oder sie mit der NS-Politik eben nicht einverstanden war. Hilfreich ist bis heute der Vorschlag des Historikers Detlef Peukert von 1981,[1] der den monolithischen Widerstandsbegriff auflöst auf einer Skala widerständigen Handelns von 1. Nonkonformität über 2. Verweigerung und 3. Protest hin zu 4. Widerstand. Voraussetzung muss aber sein, der Wille, dem Staat zu schaden immer im Rahmen der Möglichkeiten, die dem oder der einzelnen zur Verfügung stehen, d. h. vorhanden sein muss die Ablehnung des Systems, die Unvereinbarkeit des Wertesystems des oder der Handelnden mit den Zielen der Nazis, wobei Handeln auch durch Unterlassen, durch Verweigerung ersetzt werden kann.

Widerstand im Nationalsozialismus wurde in der Nachkriegszeit gesellschaftlich nicht anerkannt. Warum?

Es gibt Meinungsumfragen schon aus den 1950er Jahren, die belegen, dass die deutsche Bevölkerung den Widerstand gegen den Nationalsozialismus mehrheitlich ablehnte, und zwar bis in die 1970er Jahre hinein. Auch die Geschichtswissenschaft setzte sich mit dem Thema noch nicht intensiv auseinander, was dazu führte, dass man bis in die post-68er Ära auch nur wenig über den Widerstand wusste. Der sichtbarste und damit der bekannteste Ausdruck der Widerstandsaktivitäten war das Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944, daher konzentrierte man sich in der Ablehnung auf den Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der – so die schnell gefundene Sprachregelung – als „Landesverräter“ bezeichnet wurde, weil er als Offizier den Eid auf „seinen Führer“ gebrochen habe. Diese Sichtweise wurde 1952 im Remer-Prozess (s. nächste Frage) von der Justiz verunmöglicht.

Und wie kam es, dass ein anderer Blick auf den Widerstand möglich war?

Der ehemalige Major Otto Ernst Remer, der maßgeblich daran beteiligt gewesen war, dass der Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 scheiterte, wurde im Herbst 1951 in Braunschweig wegen „übler Nachrede in Tateinheit mit Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener“ angeklagt. Er hatte im Mai 1951 auf einer Wahlkampfveranstaltung der „Sozialistischen Reichspartei“, der er angehörte und deren Name verriet und verraten sollte, dass sie am rechten Rand des Parteienspektrums zu verorten war, die Männer vom 20. Juli als „Landesverräter“ beschimpft. Anzeige erstattet hatte zunächst der Bundesinnenminister Robert Lehr, der sich als ehemaliger Angehöriger des Widerstandes durch Remers Äußerung persönlich beleidigt sah. Der zuständige Oberstaatsanwalt hatte ihm mitgeteilt, dass eine Klage keine Aussicht auf Erfolg habe, und wollte die Sache auf sich beruhen lassen. Der niedersächsische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer aber nahm sich der Sache an. Bauer erkannte die Chance, die der Fall Remer bot, nämlich die „Legalität und Legitimität des Widerstandes vom 20. Juli zum Gegenstand eines Gerichtsverfahrens“ zu machen,[2] um dort das objektive Recht zum Widerstand feststellen zu lassen. Dazu musste man dem Angeklagten Verleumdung nachweisen, indem die Frage des Eides in den Mittelpunkt des Verfahrens gerückt wurde: Inwieweit war durch den Eid, den alle Soldaten auf Adolf Hitler geschworen hatten, diesen das Recht auf Widerstand verwehrt? Bauers Strategie bestand darin, dem Eid die Funktion zuzuweisen, die Handlung des Einzelnen verpflichtend am Gemeinwohl zu orientieren, was zugleich die Unrechtmäßigkeit des allein auf Hitler ausgerichteten Schwurs begründete. Der Eid gegen Hitler sei „unsittlich“ gewesen, deshalb hätten die Soldaten ihn gar nicht brechen können.[3]

Fritz Bauer hatte mit Bedacht Anklage wegen „übler Nachrede“ erhoben, weil die im Gegensatz zur „einfachen Beleidigung“ einen juristischen „Wahrheitsbeweis“ erforderte, den er durch die Kompetenz verschiedener (u. a. militärischer, moraltheologischer) Gutachten zu erbringen beabsichtigte, was ihm auch gelang.[4] Bauer führte am Ende des Prozesses noch den Paragraphen 91 StGb als Argument an, der auch in der NS-Zeit gültig gewesen war und der besagte, dass Landesverrat nur begehe, wer mit dem Vorsatz handele, dem Reich zu schaden. Die Motivation der Widerstandskämpfer aber, das war inzwischen bewiesen, war eine gegenteilige gewesen, und damit entfiel der Vorwurf – auch in den Augen des zuständigen Richters. Er folgte Bauers Argumenten und verurteilte Otto Ernst Remer am 15. März 1952 zu drei Monaten Haft, der sich dieser zum Teil durch Flucht ins Ausland entzog. Er sollte Zeit seines Lebens ein Unbelehrbarer bleiben.

 

Ihr Buch „Wir standen nicht abseits“ beschäftigt sich mit dem Widerstand von Frauen. Es gibt nur wenige Frauen, die man sofort dem Widerstand zuordnet. Ein Name, der dann immer wieder auftaucht, ist Sophie Scholl. Warum ist das so?

Wie bereits erwähnt war bis Anfang der 1980er Jahre nicht allzu viel über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus bekannt, neben dem Attentat vom 20. Juli 1944 kannte man vor allem die Weiße Rose. Das liegt daran, dass das gleichnamige Buch der ältesten Schwester von Hans und Sophie Scholl, Inge, 1952 erschien und diese Widerstandsgruppe bekannt machte. Da Inge ihre Geschwister in den Mittelpunkt der Erzählung rückte, obwohl die Weiße Rose sehr viel mehr Angehörige, nicht nur in München, sondern in verschiedenen Städten im ganzen Reich hatte, werden Hans und Sophie Scholl zum Synonym für die Weiße Rose. Es wäre eine einzelne Untersuchung wert, um herauszufinden, warum inzwischen, beginnend Anfang der 1980er, Sophie auch ihren Bruder fast vollständig verdrängt hat und sehr viel bekannter ist, als alle anderen Mitglieder der Weißen Rose.

20170204_195209Mit welchen Frauen haben Sie sich in Ihrem Buch auseinander gesetzt? Waren sie alle selbst aktiv im Widerstand gegen den Nationalsozialismus tätig?

Im Buch werden sieben Frauen vorgestellt, die jeweils verschiedene Widerstandsgruppen repräsentieren und gleichzeitig für unterschiedliche Aspekte im Themenspektrum Widerstand stehen.

Zunächst geht es um die, die unzweifelhaft selbst Widerstand geleistet haben, nämlich Sophie Scholl im Rahmen der Weißen Rose und die fast gleichaltrige Cato Bontjes van Beek aus Fischerhude bei Bremen, die wie Scholl, Flugblätter verteilte und 1943 hingerichtet wurde und bis heute den allermeisten Menschen unbekannt ist, weil man sie mit der vermeintlich kommunistischen Roten Kapelle assoziierte.

Es folgen diejenigen, die bisher in der Geschichtsschreibung und in der öffentlichen Wahrnehmung so gut wie überhaupt keine Beachtung gefunden haben und wenn dann ausschließlich als die Frau vonRosemarie, die Frau von Adolf Reichwein, Widerstandskämpfer im Kreisauer Kreis, die ihren Mann in seinem Vorhaben unterstützte und ihm den Rücken freihielt. Annedore, die Frau des Sozialdemokraten Julius Leber, der im Widerstand ein enger Freund Stauffenbergs wurde, dessen Umsturzpläne beide Lebers intensiv und tatkräftig förderten.[5] Und Antje Kind-Hasenclever, die Frau von Robert Havemann, die sich beide in den sozialistisch orientierten Gruppen Neu Beginnen und Europäische Union engagierten.

Drittens erzähle ich, wie bei allen Frauen, das ganze Leben von Inge, später verheiratete Aicher-Scholl und Marie Luise von Scheliha, die beide nachweislich wenig oder nichts vom Widerstand ihrer Angehörigen wussten, deren Leben aber davon beeinflusst, ja überschattet war. Hier geht es um die Rezeptionsgeschichte des Widerstands in der Bundesrepublik (der Umgang der DDR mit dem Thema Widerstand wird angedeutet, erfordert jedoch ein eigenes Buch). Der zeitliche Rahmen des Buches erstreckt sich damit von 1904 bis 2004.

Welche Frau aus dem Umfeld der männlichen Widerstandskämpfer hat Sie besonders beeindruckt?

Jede einzelne Frau hat mich auf unterschiedliche Weise beeindruckt. In der Zusammenschau treten die Charakteristika der einzelnen umso stärker hervor. Ich wollte nicht nur ein Buch über den Widerstand schreiben, mir war es gleichermaßen wichtig, die Frauen als Individuen in Erscheinung treten zu lassen, und, wo möglich, ihr Leben nach 1945 darzustellen. Denn das Thema Widerstand endet nicht mit dem Untergang des Nationalsozialismus, im Gegenteil, für viele der Überlebenden und der Angehörigen des Widerstands beginnt erneut neue, anders schwierige Zeit. Das Thema beherrscht die Familien, man muss sich als Witwe, als Kind eine/rs hingerichteten Widerstandskämpfers/in dazu verhalten, ob man will oder nicht. Der bereits geschilderte Umgang mit Thema Widerstand in der BRD, der schäbige Umgang mit den Familien, sie werden in der bisherigen Widerstandsliteratur ausgespart, das wird erst jetzt allmählich thematisiert.

Eine Frau, die sich nach 45 besonders für das Erbe des Widerstands eingesetzt hat, war Annedore Leber (nicht mit dem Nachkriegsminister Georg Leber verwandt) Widerstandskämpferin aus eigenem Recht und Witwe von Julius Leber:

 

Wer war Julius Leber und wie war er im Widerstand aktiv? Wie unterstützte ihn seine Frau Annedore Leber?

Dr. Julius Leber wurde 1891 im Elsaß geboren, studierte Nationalökonomie, nahm am gesamten Ersten Weltkrieg teil und wurde dann Reichstagsabgeordneter der SPD und zugleich Chefredakteur der Zeitung Lübecker Volksbote. Er war von Anfang an ein erklärter Gegner der Nazis, weshalb er noch im Februar (endgültig dann im März) 1933 verhaftet wurde. Nach seiner Entlassung aus dem KZ 1937 begann er sofort seine Widerstandskontakte zu erneuern und wurde schließlich im sog. Kreisauer Kreis aktiv, der Pläne für einen neuen deutschen Staat nach Hitler entwickelte, was von großer Bedeutung für das Gelingen des Umsturzversuches war, um nach der Befreiung vom NS sofort handlungsfähig zu sein. Julius Leber wurde als Widerstandskämpfer am 5. Januar 1945 hingerichtet.

Annedore Leber war diejenige, die sich um die Familie kümmerte, denn die Lebers hatten zwei Kinder. Unterstützung erfuhr sie dabei allerdings von Annedores verwitweter Mutter und der ebenfalls verwitweten Schwägerin, die im Hause Leber wohnten. Deshalb konnte sie im Berliner Deutschen Verlag als Leiterin der Schnittmusterabteilung tätig sein und von dort aus an der Koordination von Widerstandstätigkeiten mitwirken. Von 1933-37 und wieder 1944/45 hat sie nichts unversucht gelassen, um ihren Mann aus dem Gefängnis, später KZ zu befreien, was nicht nur Geschick und Klugheit, sondern auch eine ungeheure Kraft und sehr viel Zeit erforderte, schließlich umsonst.

Wie sah die Tätigkeit von Annedore Leber nach dem Tod ihres Mannes aus?

Annedore Leber beschloss nach dem Tod ihres Mannes, die Nachlassverwalterin des deutschen Widerstands zu werden. Auf vielen unterschiedlichen Gebieten, als Journalistin, Autorin, Verlegerin und Politikerin erinnerte sie das Erbe des Widerstands, um auf diesem Weg ihre Mitmenschen wieder an die Demokratie zu gewöhnen.

Als Witwe des angesehenen Widerstandskämpfers Leber war Annedore den Alliierten wohlbekannt und erhielt daher die Lizenz für den Telegraf, eine der ersten Tageszeitungen in Berlin. 1947 gab sie eine eigene Zeitschrift mit Namen Mosaik heraus. Als Frauenzeitschrift getarnt, betrieb sie hier aktive Erziehung zur Demokratie. Im gleichen Jahr gründete sie einen eigenen Verlag, um ihre Publikationen über den Widerstand besser veröffentlichen zu können. Nach den Reden und Schriften von Julius Leber waren zwei Bücher mit Porträts und Kurzbiographien von Widerstandskämpfern- und Kämpferinnen ihre einflussreichsten Werke: Das Gewissen entscheidet und Das Gewissen steht auf. Ab 1956 arbeitete Annedore Leber zusammen mit Freya von Moltke an einem Schulbuch, das 1960 unter dem Titel Für und Wider erschien. Es war eine Darstellung der jüngsten Vergangenheit für junge Leser und behandelte die Weimarer Republik und die Zeit des Nationalsozialismus.

Mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln setzte sie sich für den Aufbau der neuen Demokratie ein. Neben den Frauen galt vor allem den Jugendlichen ihr besonderes Augenmerk. Insofern war es nur folgerichtig, dass sich Annedore Leber entschloss, den Vorsitz des Vereins Handwerker-Lehrstätte e.V. in Berlin-Britz zu übernehmen, denn Ausbildungs- und Arbeitsplätze waren für sie Grundlagen, um die Demokratie zu festigen. Ab Juli 1953 konnten 140 Jugendliche in Berufen der Metall- und Holzverarbeitung ausgebildet werden, 60 Mädchen erhielten Hauswirtschaftsunterricht. Nachdem sich die Ausbildungssituation in Berlin verbessert hatte, wurde die Lehrstätte zu ihrem zwanzigjährigen Jubiläum 1969 in ‹Annedore-Leber-Ausbildungsstätten Britz› umbenannt. Es kam zu einer Schwerpunktverlagerung, fast 400 behinderte Jugendliche konnten jetzt hier handwerklich ausgebildet werden. 1974 wurden die Werkstätten als ‹Annedore-Leber-Berufsbildungswerk› neu gegründet.

Das Leben von Annedore Leber blieb arbeitsam bis zum Schluss. Sie setzte ihre politische Arbeit konsequent fort: 1954 bis 1962 war sie in der Bezirksverordnetenversammlung von Zehlendorf; von 1963 bis 1967 im Berliner Abgeordnetenhaus. Sie war in der Deutschen UNESCO-Kommission und im Personalgutachterausschuss der Bundeswehr, der für die Auswahl der höheren Offiziere zuständig war. Zu ihrem 60ten Geburtstag gratulierte ihr der Bundespräsident. Edzard Reuter, der Annedore Leber als Sohn des Regierenden Bürgermeisters von Berlin in den 1950er Jahren kennengelernt hatte, erinnert sich an sie als „warmherzig, lebenslustig. Ein bunter Schmetterling.“ 1964 gratulierte ihr der Bundespräsident zum 60ten Geburtstag. Vier Jahre später war sie tot. Sie starb am 28. Oktober 1968 mit nur vierundsechzig Jahren. Mehrere hundert Menschen, darunter die Schicksalsgenossinnen vom 20. Juli, kamen zu ihrer Beerdigung an einem regennassen Tag auf dem Waldfriedhof in Berlin Zehlendorf.

Das Jahr ihres Todes markiert symbolisch den sichtbaren Beginn der Auseinandersetzung der BRD mit ihrer NS-Vergangenheit. Die – berechtigte – Konzentration auf die Täterforschung in den 1970er Jahren ließ keinen Platz für Fragen nach dem Widerstand. Als sich ab 1984 die nächste Generation mit neuen Fragen für den Widerstand zu interessieren begann, war Annedore Leber schon 16 Jahre tot und vergessen, aber es lohnt sich an diese mutige, tatkräftige Vorkämpferin für Demokratie zu erinnern.

 

© Dr. Frauke Geyken, 4. Februar 2017 (veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Dr. Frauke Geyken)

fgeyken@gwdg.de

 

 

Weiterführende Links:

http://www.gdw-berlin.de/vertiefung/biografien/personenverzeichnis/biografie/view-bio/annedore-leber/?no_cache=1

https://mosaikannedoreleber.wordpress.com/

http://gedenkort-leber.de/annedore-julius-leber/julius-leber/

 

Weiterführende Literatur:

[1] Detlef Peukert, Alltag unter dem Nationalsozialismus, hrsg. von der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße (heute Gedenkstätte Deutscher Widerstand: http://www.gdw-berlin.de/), in: Beiträge zum Thema Widerstand 17, Berlin 1981, S. 25.

[2] Claudia Fröhlich, „Wider die Tabuisierung des Ungehorsams“, Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung von NS-Verbrechen (Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts 13), Frankfurt am Main 2006, S. 12.

[3] Fröhlich 2006, S. 78.

[4] Ausführliche Darstellung, Geyken 2014, S. 220-225.

[5] Freya von Moltke, die Ehefrau des Begründers des Kreisauer Kreises, der Pläne für ein Nachkriesgdeutschland ohne Hitler entwarf, wäre hier ebenfalls möglich gewesen, aber ich habe ihr bereits 2011 eine eigene Biographie gewidmet: Freya von Moltke, ein Jahrhundertleben, C. H. Beck Verlag München 2011.

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Polizei im Nationalsozialismus – Teil 2

ehemaliges Polizeigebäude in Göttingen

ehemaliges Polizeigebäude in Göttingen

Im ersten Teil der Sendung ging es um die Aufgabenbereiche der Polizei im Nationalsozialismus.

Es ging aber auch darum, wie es Heinrich Himmler schaffte Chef der Polizei im gesamten deutschen Reich zu werden.

In der heutigen Sendung geht es um die Veränderungen innerhalb der Polizei ab 1945, aber auch um neuere Forschungsergebnisse.

(Musikakzent)

Sprecherin:

Das NS-Regime war vorbei. Heinrich Himmler, dem die ganze deutsche Polizei unterstellt war, wurde am 23. Mai 1945 von den britischen Streitkräften gefangen genommen. Heinrich Himmler begeht Selbstmord.

Was wurde von den Alliierten unternommen, um die Macht der Polizei zu brechen?

Wie wurde die Polizei nach 1945 umstrukturiert?

Dr. Dirk Götting vom Polizeimuseum in Nienburg beschreibt die ersten Maßnahmen der Allierten:

„Alles … mit SS und alles … mit zentralen Strukturen …, wurde verboten und aufgelöst“. (Götting-O-Ton).

Sprecherin:

In der britischen, amerikanischen und französischen Besatzungszone wurde die Polizei kommunalisiert. Dies bedeutet laut Dirk Götting:

„Die Zuständigkeiten für die Polizeidienststellen gehen auf die Bürgermeister über. Die Gestapodienststellen werden aufgelöst.“ (O-Ton Götting 2. Interview)

Sprecherin:

Die Polizei in der amerikanischen und französischen Besatzungszone wird relativ schnell verstaatlich. Die britischen Besatzer setzten aber in den Bundesländern Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen ihr eigenes Polizeisystem um.

Dirk Götting erklärt die Situation für Niedersachsen:

„Sie wollen die Polizei entpolitisieren, d.h. die Polizei soll möglichst dezentral organisiert  … werden.

Die Polizeibeamten dürfen nicht in Gewerkschaften sein und auch nicht in einer Partei sein, denn sie sollen unabhängig und neutral handeln.

Es werden Polizeiausschüsse gegründet, die aus Vertretern der Kreistage oder …  Stadtparlamente bestehen. Und diese Polizeibezirke, die eine Größenordnung haben von Regierungsbezirken damaliger Zeit oder großen Städten, werden von einem Chef der Polizei, … polizeilich geleitet. … dieser Polizeiausschuss aus politischen Vertretern, kann von diesem Chef der Polizei Rechenschaft fordern über Einsätze, ist auch für die Bezahlung, auch für die Ausstattung der Polizei verantwortlich. Und diese relativ kleinen Einheiten sind relativ unabhängig. Also der Innenminister den es ab 1946 in Niedersachsen schon wieder gibt, hat diesen Polizeiorganisationen im Prinzip nichts zu sagen. Das ändert sich dann erst am Anfang der 1950er Jahre.“ (O-Ton Götting)

Sprecherin:

Das Bundesland Niedersachen verstaatlichte 1951 die Polizei ebenfalls. 1953 verstaatlichte Nordrhein-Westfalen die Polizei.

Die Organisation der Polizei war umstrukturiert. Was geschah aber mit den Polizisten?

Wurden nach 1945 alle Polizisten in den Polizeidienst übernommen?

Für das Land Niedersachsen stellt Dirk Götting fest:

„In dieser ersten Phase, das ist eine Phase der unmittelbaren Besetzung. Da werden hohe Polizeioffiziere ab einem bestimmten Dienstgrad automatisch verhaftet, egal ob … ihnen individuell etwas nachweisen werden kann oder nicht.

Es sind sehr viele neue Leute eingestellt worden, deshalb der Aufbau schon 1946 und 1945 in ersten Polizeischulen 1946 der Landespolizeischule hier in Hann. Münden. Die Briten legten sehr viel Wert auf neue Polizeibeamte, aber … sehr viele alte Funktionsträger sind im Amt geblieben, denn die Briten waren der Meinung: „Man kann auf dieses Fachwissen weder bei Kripo noch bei der Schutzpolizei ernsthaft verzichten“. (O-Ton Götting)

Sprecherin:

Eine völlig neue personelle Besetzung der Polizei gab es nicht.

Allerdings fand eine Entnazifizierung statt:

„Eine Entnazifizierung der Polizei hat es gegeben, aber ich sage mal doch recht Milde. Es gab in der ersten Phase etwa 8 % der Polizeibeamten, die ihren Dienst quittieren mussten. In der Spitze waren es naher 20%. Das ist etwa so die Größenordnung, wie sie auch in allgemeiner Verwaltung der Fall war. Beim Umkehrschluss heißt das,  80 % sind sozusagen im Dienst geblieben …“ (O-Ton Götting)

(Musikakzent)

Sprecher (Peter Bieringer):

1951 wird der Artikel 131 des Grundgesetzes auch auf ehemalige Polizisten angewandt. Artikel 131 Absatz 1 und 2 lauten:

(1) Die Rechtsverhältnisse von Personen einschließlich der Flüchtlinge und Vertriebenen, die am 8. Mai 1945 im öffentlichen Dienste standen, aus anderen als beamten- oder tarifrechtlichen Gründen ausgeschieden sind und bisher nicht oder nicht ihrer früheren Stellung entsprechend verwendet werden, sind durch Bundesgesetz zu regeln. (2) Entsprechendes gilt für Personen einschließlich der Flüchtlinge und Vertriebenen, die am 8. Mai 1945 versorgungsberechtigt waren und aus anderen als beamten- oder tarifrechtlichen Gründen keine oder keine entsprechende Versorgung mehr erhalten.

Sprecherin:

Auch als belastet eingestufte Polizeibeamte beantragten ihre Wiedereinstellung.  Meist stellte man  diese Polizisten auch wieder ein:

„Die sogenannten 131er sind … durchaus belastete Personen in der Polizei, die dann wiedereingestellt wurden, natürlich dann auch bis in die 1970er ihren Dienst in der Polizei gemacht haben.“ (O-Ton- Götting)

(Musikakzent)

Sprecherin:

Julius Wohlauf war ein als belastet eingestufter Polizeibeamter. Im Rahmen der Entnazifizierung wurde er 1949 als „für den öffentlichen Dienst nicht mehr tragbar“ eingestuft. Julius Wohlauf gelang es später als unbelastet eingestuft zu werden. Im Sommer 1955 konnte er wieder in den Polizeidienst eintreten. Er stieg 1958 zum Referatsleiter für Verkehrserziehung und Verkehrssicherheit der Hamburger Polizei auf.

1961 gab es den ersten Hinweis auf seine Beteiligung an NS-Verbrechen. In der DDR-Broschüre „Gestapo und SS-Führer kommandieren die westliche Polizei“ wurde Julius Wohlauf´s SS-Mitgliedschaft und Tätigkeit in der „Bandenbekämpfung“ erwähnt. Bandenbekämpfung war in der NS-Zeit eine Tarnbezeichnung für die Ermordung von Juden und Jüdinnen. Anfang Juni 1961 wurde eine umfangreiche Vorermittlung gegen Einheiten der Polizei  und SS eingeleitet. Die Sonderkommission der Hamburger Kriminalpolizei verhörte 100 Polizeibeamte, die beim ersten Einsatz des Hamburger Reserve-Polizeibataillons 101 eingesetzt waren.

Im Oktober 1962 war klar, dass das Reserve-Polizeibataillons 101 an den Massenmorden von Juden und Jüdinnen in Polen direkt beteiligt war. Eine weitere Sonderkommission nahm die Ermittlungen auf.

Julius Wohlauf wurde 1963 seines Dienstes enthoben. Wegen Fluchtgefahr kam er nur  für kurze Zeit in Untersuchungshaft. Gegen Kaution wurde er freigelassen. Ihm wurde vorgeworfen, Schießbefehle im Zusammenhang mit der Deportation in das Vernichtungslager Treblinka gegeben zu haben. Außerdem habe er seine Männer zur Ghettoräumung eingeteilt.

Julius Wohlauf leugnete zunächst seine Beteiligung am Massenmord. Später bezog er sich auf den Befehlsnotstand und sein Bemühen um eine vorzeitige Ablösung aus dem Reserve-Polizeibataillons 101.

Im April 1968 wurde Julius Wohlauf wegen Beihilfe zum Mord an 9200 Menschen zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Allerdings hat er nur 6 Jahre der Strafe abgesessen.

Er starb 2002 in Hamburg. Bis an sein Lebensende blendete Julius Wohlauf seine eigene Beteiligung an dem Massenmord in Polen an Juden und Jüdinnen aus.

(Musik)

Sprecherin:

Obwohl viele der als belastet eingestufte Polizeibeamte wieder eingestellt wurden, wurden auch Anträge auf Wiedereinstellung abgelehnt.

Der Gestapo-Mann Friedrich Schmidt bewarb sich Ende 1950er Jahre erneut bei der Polizei. Sein Antrag auf Wiedereinstellung führte aber zu einem Ermittlungsverfahren wegen begangener NS-Verbrechen. Das Verfahren wurde 1962 wieder eingestellt.

Roland Laich vom Verein NS-Familien-Geschichte stieß in Archiven auf den Gestapo-Mann Friedrich Schmidt:

Friedrich Schmidt ist ein gebürtiger Göttinger. Er ist Jahrgang 1902. Er wurde hier …  in Göttingen geboren und hat 1924 eine Ausbildung in Hann. Münden als Polizeianwärter begonnen. (O-Ton Laich)

Sprecherin:

1933 trat Friedrich Schmidt der NSDAP bei und wechselte 1936 zur Geheimen Staatspolizei,  Gestapo genannt, nach Trier.

„So kam also Friedrich Schmidt von der Gestapo in Trier dann zum sogenannten Einsatzkommando Luxemburg. Nach dem Luxemburg besetzt war, war er dort zunächst Kriminalassistent. Da hatte er die Aufgabe, einen Grenzposten im Süden von Luxemburg von Esch-sur-Alzette rüber nach Audun-le-Tiche, damals Deutsch-Oth, zu bewachen, dass keine Leute, nach denen die Gestapo landesweit in Luxemburg fahndete, über die Grenze nach Frankreich fliehen können.

… Ein anderes Dokument aus dem Bundesarchiv in Berlin belegt, dass er im Sommer 1944 … bereits [der] Leiter der Abteilung in der Gestapo Luxemburg war, die zuständig war für die Verfolgung von – ich zitiere jetzt mal wörtlich – „Kommunismus, Marxismus und Nebenorganisationen, illegale und Feindpropaganda, Rundfunkverbrechen, … Widerstandbewegungen und (sogenannte) Rückwanderer.

Friedrich Schmidt war darüber hinaus  …  mehrfach Mitglied der sogenannten Vernehmungskommando(s) „Hinzert“. (O-Ton Laich)

Sprecherin:

Das SS-Sonderlager Hinzert lag an der Autobahn zwischen Trier und Saarbrücken.

„Dann gab es dort in Hinzert mehrere Massenerschießungen. Eine davon trug sich zu im Februar 1944. Das war auch im Zuge einer dieser Razzien gegen den politischen Widerstand, gegen Widerstandsorganisationen.

Friedrich Schmidt war einer von dreien, die 25 Hinzurichtenden ausgewählt haben. Er selber war an der Erschießung nicht beteiligt. Das hat dann die SS erledigt, im Wald bei Hinzert …“ (O-Ton-Laich)

Sprecherin:

Friedrich Schmidt war im September 1944 – kurz vor der Befreiung Luxemburgs – an der Ermordung von Widerstandskämpfern in Palzem und Nennig beteiligt.

Noch im September 1944 floh er aus Luxemburg und lebte bis 1954 im Untergrund.

„Seine Spur finden wir dann erst wieder im Sommer 1945. Da sitzt er nämlich in einem Kriegsgefangenenlager als Kriegsgefangener, … nicht als Kriegsverbrecher.

Im Herbst 1945 … ist er geflohen, wurde dann irgendwann mal wieder verhaftet,  … saß dann in Recklinghausen als Kriegsverbrecher, konnte da aber auch schon wieder fliehen im Sommer 1948, …

„… von den Alliierten im Jahr 1949 gab es in Rastatt ein Tribunal von den Franzosen,…  Es wurde ein Todesurteil gegen ihn ausgesprochen…“ (O-Ton Laich)

Sprecherin:

Das Todesurteil erging in Abwesenheit von Friedrich Schmidt. Er lebte zu dem Zeitpunkt unter falschem Namen im Ruhrgebiet.

„Nach seiner Flucht aus Luxemburg kam Friedrich Schmidt auch wieder nach Göttingen zurück, konnte dort aber zunächst nicht legal leben, weil die Luxemburger und die Alliierten nach ihm gefahndet haben als Kriegsverbrecher. Er tauchte hier sporadisch auf, im Untergrund, konnte sich aber nach diversen Amnestiegesetzen und auch der geänderten Politik unter Adenauer dann hier in Göttingen im Jahr 1954 wieder ganz offiziell anmelden und lebte ab diesem Zeitpunkt … wieder in Göttingen ganz legal …“ (O-Ton Laich)“

Sprecherin:

Friedrich Schmidt bewarb sich wieder in den Polizeidienst:

.“.. offensichtlich war das … Anlass für die deutschen Behörden Ende der 1950er Jahre auch gegen ihn ein Ermittlungsverfahren aufzunehmen. … denen kam offensichtlich das Tribunal in Raststatt zu Gehör, … dass es … ein Todesurteil gab und dass er offensichtlich hoch belastet ist. Auf Grund dessen hat die Göttinger Staatsanwaltschaft damals ein Ermittlungsverfahren begonnen (14:49) und nach dem Tatortprinzip nach Saarbrücken abgegeben … Dort gab es also einen Ermittlungsrichter, der war … sehr engagiert, hat über 1 ½  Jahre lang sehr akribische Ermittlungen geführt. Der hat fast alle ehemaligen Kollegen der Gestapo Luxemburg von Friedrich Schmidt verhören lassen in der ganzen Bundesrepublik. … anhand dieser Akten kann man sehr gut belegen, wie die sich gegenseitig gedeckt und entschuldigt haben.“ (O-Ton Laich)

Sprecherin:

Friedrich Schmidt wurde zwar zu einem Verhör eingestellt, aber es gab keine Gerichtsverhandlung. Roland Laich kennt den Einstellungsbeschluss aus dem Jahr 1962:

„Und jetzt zitiere ich mal ganz kurz aus dem Einstellungsbeschluss … der deutschen Ermittlungen. Da heißt es dann: „Weiterermittlungen versprechen keinen Erfolg. Bei diesem Ermittlungsergebnis dürfte die Einlassung des angeschuldigten Schmidt, er habe nur die Beerdigung der in Nennig Erschossenen geregelt, nicht zu widerlegen sein …“(O-Ton Laich)

Sprecherin:

In dem Einstellungbeschuss des Verfahrens konnte auch nicht nachgewiesen werden, dass der Vorgesetzte von Friedrich Schmidt, Walter Runge, die Schießbefehle erteilt hat. In der Begründung heißt es u.a.:

„Es darf noch darauf hingewiesen werden, dass beide Angeschuldigten von den meisten ihrer als Zeugen vernommenen Kollegen als charakterlich einwandfreie Persönlichkeiten geschildert werden, denen etwas Derartiges nicht zuzutrauen sei“. (O-Ton Laich)

Sprecherin:

Friedrich Schmidt wurde zwar nicht bestraft, aber er wurde auch nicht wieder in den Polizeidienst aufgenommen. Mitte der 1960er Jahre verstarb er in Göttingen.

(Musik)

Sprecherin:

Bernhard Fischer-Schweder wurde ebenfalls nicht wieder in den Polizeidienst eingestellt. Er legte sich eine neue Biografie zu und nannte sich nun Bernd Fischer. Dadurch wurde er entnazifiziert. Er war kurze Zeit als Leiter des Flüchtlingsheims Wilhelmsburg in Ulm tätigt. Niemand ahnte, dass er der ehemalige Polizeidirektor von Memel und SS-Oberführer war. Er war am Massenmord von mehreren tausend Juden in Litauen beteiligt.

Als seine Vergangenheit bekannt wurde, kündigte er seine Stelle als Leiter des Flüchtlingsheimes. Allerdings klagte er kurze Zeit beim Arbeitsgericht auf Wiedereinstellung. Parallel dazu berief er sich auf § 131 auf die Wiedereinstellung im Polizeidienst. In beiden Fällen wurde er nicht wiedereingestellt. Aufgrund eines Zeitungsberichtes wurde Bernhard Fischer-Schweder von Zeugen als Polizeidirektor vom Memeln erkannt. Dies führte dazu, dass er 1957/58 vor Gericht gestellt wurde. Es war der erste Prozess vor einem deutschen Schwurgericht, in dem nationalsozialistische Massenmorde verhandelt wurden.

Obwohl Bernhard Fischer-Schweder an den Massenmorden beteiligt war, wurde er nur wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in 526 Fällen zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt.

Er verstarb am 28. November 1960 im Gefängnis Hohenasperg.

(Musikakzent)

Sprecherin:

Durch  den Prozess gegen Bernhard Fischer-Schweder wurden weitere Verfahren gegen NS-Täter innerhalb der Polizei angestoßen.

Dr. Dirk Götting berichtet:

„… der Fall führt dann zur Gründung der Zentralstelle der Landesjustizverwaltung in Ludwigsburg, der Zentralstelle zur Aufarbeitung und Dokumentation von NSG, also nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Und so beginnt dann erst eigentlich praktisch in den 1960er Jahren noch einmal eine Phase, in der man jetzt Verfahren wegen NS-Taten, Tötungsdelikten durchführt, wobei parallel in dieser Phase auch die Diskussion der Verjährung von Mord eine Rolle spielt.“(O-Ton)

Sprecherin:

Zuerst betrug die Verjährungszeit nationalsozialistischen Gewaltverbrechen 20 Jahren. Später wurde diese Verjährungszeit immer weiter ausgedehnt. Ab den 1970er Jahren wird Mord aufgrund der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Deutschland für nichtverjährbar erklärt.

Bei den Verfahren wegen NS-Taten gab es aber Schwierigkeiten:

Sie können ja nicht ein Gesetz schaffen nach 1945 und dann Menschen dafür bestrafen für ein Gesetz, dass es vorher noch nicht gegeben hat. Das sogenannte Rückwirkungsverbot „Keine Strafe ohne Gesetz“, das darf es nicht geben. Das heißt die Justiz war jetzt aufgefordert solche Verbrechen, wie sie da zu Massenerschießung oder aber auch, was in den Konzentrationslagern  passiert ist, nach deutschem Strafrecht zu beurteilen. Nach deutschem Strafrecht müssen Sie eine Beziehung zwischen Täter und Opfer … nachweisen. … Sie können nicht jemanden wegen Mordes verurteilen, ohne dass Sie wissen, wen er umgebracht hat.

… und  Sie müssen … auch noch belegen, dass da ein Tatbeitrag in dem Sinne war, dass er die Tat wollte. Das heißt in dem Moment, wo als Rechtfertigung Befehlsnotstand behauptet werden konnte, dass man nicht aus eigenen Antrieb gehandelt hat, sondern aufgrund eines Befehls, war das in der Regel ein Rechtfertigungsgrund, auch wenn zwar behauptet wurde: ‚Hätte ich den Befehl nicht ausgeübt, dann wäre ich selbst erschossen worden.‘ Das reicht in aller Regel aus, um Menschen zu entschuldigen.

erst im Jahr 2011 hat das Landgericht München II … entschieden das nicht mehr notwendig ist, die Beziehung herzustellen, sondern dass es reicht, wenn so ein Mensch nachweislich in einer Einheit war, die diese Verbrechen begangen hat und dann kann er wegen Beihilfe zum Mord verurteilt oder angeklagt, beschuldigt werden.“ (O-Ton Götting )

(Musikakzent)

Sprecherin:

Der Befehlsnotstand wurde von vielen NS-Tätern zwar behauptet, aber in den allermeisten Verweigerungsfällen wurde niemand erschossen.

Der Historiker Christopher R. Browning berichtet in dem Buch „Ganz normale Männer“, das es sehr wohl möglich war, sich dem Mordauftrag im polnischen Józefów an jüdischen Frauen, Kindern und alten Leuten zu entziehen.

Major Trapp, der Bataillonskommandeur des Reserve Polizeibataillon 101 machte seinen Männer ein ungewöhnliches Angebot: Ältere sollten vortreten, wenn sie  sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlten, 11-14 Männer traten vor und gaben ihre Gewehre ab.

Auch Leutnant Heinz Buchmann weigerte sich wehrlose Frauen und Kinder zu erschießen. Er bat Major Trapp um eine andere Aufgabe. Er bekam die Aufgabe,  die arbeitsfähigen männlichen Juden nach Lublin zu begleiten.

Auch Gunnar Bettendorf berichtet in seiner Examensarbeit über das Hannoversche „Reserve-Polizeibataillon 111“ von Verweigerungen. Zum Beispiel weigerte sich ein Bauer aus der Region Göttingen an der Friedhofserschießung in Neu-Sandez teilzunehmen. Der Name des Bauern ist unbekannt. In den Akten wir er erwähnt als Bauer, der fast nur plattdeutsch sprach.

Gunnar Bettendorf weist aber auch darauf hin, dass eine Verweigerung nicht vollkommen ohne Konsequenzen blieb. Der Göttinger Bauer wurde später für seine Verweigerung gerügt.

Laut Dirk Götting gab es auch andere Konsequenzen innerhalb der Kameradschaft:

„… man (hat) sie dann eben ja im Kameradenkreis geschnitten. Man hat sie verunglimpft, man hat ihnen in Anführungsstrichen niedere, unschöne Arbeiten und Aufträge verteilt, die keiner machen wollte. Es war schon ein Spießrutenlauf für diejenigen, die sich da verweigert haben.“ (O-Ton Götting)

Wie viele Verweigerer es tatsächlich gab, kann nicht genau festgestellt werden:

„Aber wie gesagt, die Aktenlage ist dünn und es war nach dem Krieg kein Ruhmesblatt, sich dazu zu bekennen, dass man da nicht mitgemacht hat in einer Zeit, wo Verweigerung dann auch noch in der Gesellschaft ja als schändlich galt.“ (O-Ton Götting )

Sprecherin:

Es gab noch andere Verweigerungstaktiken:

Sprecher: (Peter Bieringer):

  • Man meldete sich nicht freiwillig
  • Man hielt sich von Offizieren und Unteroffizieren fern
  • Man verdrückte sich zu den Lastwagen
  • Man machte erst mit, ließ sich aber später (nach 4 Erschießungen oder vielen) ablösen

(Musikakzent)

Sprecherin:

Warum traten nur so wenige Männer vor und verweigerten sich?

Christopher R. Browning gibt als Gründe an:

Sprecher: (Peter Bieringer):

 

  • Die Mordaktion kam zu plötzlich
  • Die Männer wurden völlig überrascht
  • Sie hatten keine Zeit um nachzudenken
  • Konformitätsdruck: Als Uniformierter identifiziert man sich mit den Kameraden
  • Man möchte nicht als schwach und feige da stehen
  • Sorge um das eigene Ansehen bei Kameraden war wichtiger als irgendein Gefühl menschlicher Verbundenheit mit Opfern

(Musikakzent)

Sprecherin:

Laut dem Historiker Christopher R. Browning wurden 38.000 Juden vom  Reserve-Polizeibataillon 101 in Polen erschossen.

Das Reserve-Polizeibataillon 101 war an der Deportation von  45.200 Juden in das Vernichtungslager Treblinka beteiligt.

Wer waren eigentlich diese Männer, die innerhalb kurzer Zeit am Mord von 38.000 Juden beteiligt waren? Auch Christopher R. Browning stellte sich diese Frage:

„Hat er erstmal vermutet, das sind Polizeibeamte und das sind erstmal sowieso alles fanatische SS und Nationalsozialisten und stellte dann fest, … nur ein Teil von den Leuten, … in diesen Bataillone waren Polizeibeamte, von den(en) war(en) auch nur ein Teil, wenn überhaupt nachweisbar fanatische Nationalsozialisten. Und der andere Teil, das waren Leute, die wenige Wochen vorher noch ein Handwerk ausgeübt haben und überhaupt nicht bei der Polizei waren…“ (O-Ton Götting)

Sprecherin:

Wie wurden „normale Männer“ zum Mörder? Welche Gründe gab es?

Sprecher (Peter Bieringer):

  • Sie fühlten sich nur als Vollstrecker eines fremden Willens.
  • Für den Inhalt der Befehle übernahmen sie keine Verantwortung.
  • Den Befehl wollten sie nur möglichst gut ausführen.
  • Die Entmenschlichung der Opfer.
  • Das Opfer wird degradiert und als minderwertig betrachtet.
  • Der Status als Mensch wird dem Opfer abgesprochen.

(Musik)

Sprecherin:

Heute gibt es eine strenge Trennung zwischen dem Militär und der Bundespolizei.

Wie geht aber die Polizei heute mit ihrer unrühmlichen Geschichte um?

Dr. Dirk Götting ist Angehöriger der Polizeiakademie in Niedersachsen. Er gibt den Studierenden eine Einführung in die Polizeigeschichte und unterrichtet das Themenfeld Geschichte in der Polizei. Er hat den Anspruch an seinen Unterricht:

„… dass kein Studierender die Polizeiakademie verlässt, der nicht … aufgeklärt wurde über die Zusammenhänge zwischen Polizei und Nationalsozialismus. .. Das ist für mich sehr wichtig, dass die jungen Dienstanfänger und Dienstanfängerinnen das verstehen, was da abgelaufen ist, dass sie keine Schuld an dem Tragen, was ihre Vorgänger hier vor Generationen mal getan haben … dass man dafür auch ein Stück Verantwortung übernimmt. … und Verantwortung kann man nur übernehmen, wenn man auch Wissen darüber hat“. (O-Ton Götting)

Sprecherin:

Für Dirk Götting ist dies auch deshalb wichtig, weil die Polizeiakademie mit vielen Ländern in Kontakt steht, in denen die deutsche Polizei zwischen 1939-1945 im Einsatz war.

Es gibt eine Ausstellung über die Geschichte der Polizei im NS.

„Wir haben ja in den letzten Jahren eine Ausstellung dazu gehabt, eine Wanderausstellung „Die Polizei im Nationalsozialismus“. Und die ist durch viele Dienststellen und Behörden hier in Niedersachsen gelaufen, sie war auch in Göttingen und das ist auch eine Form der internen Bildungsarbeit. Denn sie dient nicht nur der allgemeinen Öffentlichkeit, die damit auseinandersetzen kann, sondern auch natürlich der internen Auseinandersetzung, nicht nur mit den Dienstanfängern, sondern auch  mit … den Polizeibeamten, mit den Kolleginnen und Kollegen, die schon länger im Dienst sind und die in der Vergangenheit, … eine politisch-historische Bildung nicht genossen haben.“

(Musik):

Sprecherin:

Die Macht der Polizei im Staat wurde nach 1945 von den Verfassungsgebern wieder reduziert. Es gibt keinen Polizeistaat mehr.

20170205_123102Laut Professor Werner Heun [verstorben am 20.9.17] vom Institut für Allgemeine Staatslehre und Politische Wissenschaften in Göttingen blieben die Grundbedingungen für die Polizei im Staat erhalten:

„Also erstens gilt ja, dass die Polizei im Wesentlichen eine Länderangelegenheit ist. … was der Bund im Grundgesetz dann geregelt hat, sind eigentlich nur Fragen, die die Bundespolizei betreffen. Und da ist eine erhebliche Differenzierung vorgenommen worden, dass  man auf der einen Seite also den Verfassungsschutz extra geregelt hat, dass man den Bundesgrenzschutz besonders geregelt hat, dass es daneben eine allgemeine Polizei noch gibt, die aber nur auf ganz spezielle Fragen spezialisiert ist, also im Wesentlichen kaum zuständig ist.“

Sprecherin:

Es gibt eine strenge Trennung zwischen dem Militär und der Bundespolizei.

Bei den heutigen Debatten geht es um das  verstärkte Einsetzen von dem Militär in Polizeibereichen, nicht um Polzeieinsätze beim Militär.

„Also dass das Militär beim Angriff von außen eingesetzt werden kann, ist sowieso völlig klar. Das ist auch in der Verfassung so vorgesehen. Nur die Probleme tauchen immer auf bei der Frage:  Was darf das Militär im Innenbereich, also innerstaatlich, ja. Und da ist die Trennung sehr sehr scharf und da gibt es immer wieder Ansätze, ob man das nicht etwas aufweicht. Nur dazu müsste man immer wieder die Verfassung ändern.“ (O-Ton Prof. Heun)

Sprecherin:

Polizeieinsätze der Polizei beim Militär sind von unserer Verfassung nicht vorgesehen. Im Kriegsfall gelten besondere Regeln. Man kann nicht mit absoluter Sicherheit sagen, dass es dann nicht wieder zu Polzeieinsätzen im Kriegsfall kommen könnte.

Bei dem Staatsaufbau nach 1945 passte man die Struktur wieder mehr dem System der Weimarer Republik an. Diese Veränderungen sind laut Werner Heu:

„ … die Weimarer Verfassung war eigentlich eine ganz durchaus auch brauchbare Verfassung, die dem Reichpräsidenten nur eine etwas stärkere Stellung gab, also auch was etwa die Frage angeht des Militärs. Der Reichspräsident war Oberbefehlshaber des Militärs. Das hat man … wieder abgeschafft. Und jetzt ist es der Bundeskanzler im Kriegsfalle, ansonsten ist es der Verteidigungsminister.“ … (O-Ton)

Sprecherin:

Der Bundespräsident hat heute mehr eine Repräsentationsfunktion inne, aber:

(6:12 Min) „Wobei es auch da … durchaus Situationen geben kann, in dem dem Präsident etwas mehr Macht zukommt, wenn nämlich die Regierungen nicht funktionieren und keine Mehrheit zustande kommen. … Die war bisher nur noch überhaupt nicht notwendig.“ (O-Tom Heun)

Sprecherin:

Eine solche Situation könnte der Gesetzgebungsnotfall ein. Der Gesetzgebungsnotfall ist nicht mit einer Notverordnung  gleichzusetzen. Der Gesetzgebungsnotfall ist im Artikel 81 des Grundgesetzes festgelegt:

„Das ist aber ein relativ aufwendiges Verfahren. Wenn also der Bundestag praktisch in der Gesetzgebungskompetenz versagt, weil die Mehrheiten nicht zustande kommen … , kann dann der Bundespräsident auf Antrag der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates für eine Gesetzesvorlage im Gesetzgebungsnotstand erklären und … wenn der Bundestag sie ablehnt, obwohl die Bundesregierung sie als dringlich bezeichnet hat.“ (O-Ton Heun)

Sprecherin:

Die Bundesregierung kann dann für einen Zeitraum von sechs Monaten Gesetzesvorlagen auch ohne Zustimmung des Bundestages umsetzen.

Der Bundespräsident handelt hier auf Antrag der Bundesregierung und mit Zustimmung des Bundesrates.

Der Bundespräsident selbst kann kein Gesetz einbringen. Er hat auch nur wenig Möglichkeit ein Gesetz abzulehnen. Hierzu Werner Heun:

„ … unser Bundespräsident kann Gesetze nur dann ablehnen, wenn er sie für verfassungswidrig hält. Dann kann darüber auch ggf. ein Gerichtsverfahren vom Bundesverfassungsgericht stattfinden. Ansonsten kann der Bundespräsident hier die Gesetze nicht ablehnen. Also da ist man sich einig, es sei denn es sind Schriftfehler oder was auch immer…“.(O-Ton)

Sprecherin:

Wenn der Bundespräsident ein Gesetz als verfassungswidrig ablehnt, dann scheitert das Gesetz meistens.

Das Parlament könnte aber Einspruch erheben:

„Theoretisch könnte es aber so sein, dass das Parlament daraufhin zum Bundesverfassungsgericht geht und sagt: ‚Das Verhalten des Bundespräsidenten war verfassungswidrig, weil das Gesetz ganz verfassungsgemäß ist‘.

Und dann würde das Verfassungsgericht entsprechend entscheiden. Je nachdem, ob es es für verfassungswidrig hält oder nicht.“ (O-Ton Heun)

Sprecherin:

Hitler bekam zu Beginn des III. Reiches durch geschickte Schachzüge die alleinige Macht im Staat. Er konnte ohne die Zustimmung des Reichstags Gesetze erlassen und die Verfassung ändern. Dies ist in unserem Staatsmodell nicht mehr möglich.

Aber auch heute ist es möglich, die Verfassung  bzw. das Grundgesetz zu ändern. Laut Werner Heun gibt es aber auch Grenzen:

„Also es gibt natürlich Möglichkeiten der Verfassungsänderung, die relativ weitgehend erfolgen kann. Es gibt nur nach (Artikel) 79 Absatz 3 die Grenzen, dass hier nicht geändert werden dürfte Artikel 1 und Artikel 79 Absatz 3 und Artikel 20. Und die auch jedenfalls nur im Grundsatz nicht geändert werden dürfen und insofern sind die Änderungsmöglichkeiten begrenzt. Allerdings ist immer möglich, dass die Verfassung insgesamt aufgegeben wird und durch eine völlig neue Verfassung erlassen wird. (sucht) Das ist der (Artikel) 146. Da heißt es dann: Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ (O-Ton Heun)

Sprecherin:

Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland hätte man bei der Wiedervereinigung der deutschen Länder aufgeben können.

„… das Grundgesetz ist sozusagen die grundlegende Verfassung. Für die gilt das … Änderungen nur mit 2/3 Mehrheit zulässig sind im Rahmen dessen, was der (Artikel) 79  Absatz 3 vorgibt und dass darüber hinaus allerdings es möglich wäre, selbst über den (Artikel) 79 Absatz 3 hinauszugehen indem man eine völlig neue Verfassung erlässt, die auch vom Volke in freier Entscheidung beschlossen wird. Also das wäre immer möglich. Das war auch eine Frage, die debattiert worden ist, nach der Wiedervereinigung.“ (O-Ton Heun)

Sprecherin:

Hätte man allerdings eine neue Verfassung erlassen, dann wäre Artikel 79 Absatz 3 entfallen.

Artikel 79 Absatz 3 lautet:

Sprecher (Peter Bieringer):

Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.

 

Sprecherin:

Dieser Artikel ist aber ein wesentlicher Bestandteil des Grundgesetzes, der verhindern soll, dass wieder  eine Diktatur mit nur einem Machtinhaber oder ein Polizeistaat entstehen kann.

Man hat zwar bei der Wiedervereinigung auf die Aufgabe der Verfassung verzichtet, aber eine Garantie für den immerwährenden Fortbestand der Verfassung gibt es nicht.

Artikel 146 des Grundgesetzes besagt, dass Grundgesetz seine Gültigkeit verliert, wenn es durch eine vom deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen Verfassung ersetzt würde.

Allerdings hat jeder Bürger des deutschen Volkes gar nicht die Möglichkeit persönlich über die Einsetzung einer neuen Verfassung zu abzustimmen. Er wird von gewählten  Politikern vertreten. Es bleibt immer ein Restrisiko bestehen, dass korrupte  Politiker ihre eigenen Interessen per Gesetz mit einer 2/3 Mehrheit durchsetzen könnten.

Glücklicherweise wurde das Grundgesetz bei der Wiedervereinigung der Länder nicht durch eine neue Verfassung ersetzt. Artikel 79 Absatz 3 hat noch immer seine Gültigkeit. Die Bundesländer sind immer noch an der Gesetzgebung beteiligt.

Polizei GöttingenDie Polizei ist immer noch den einzelnen Ländern zugeordnet und somit ist der Wirkungsbereich der Polizei eingeschränkt. Ein  Polizeistaat wird verhindert.

Durch die weltweiten Terrorangriffe entstehen Fragen bezüglich der  Eingriffsmöglichkeiten für die Polizei, die Geheimdienste und ggf. auch das Militär. Das Bundesverfassungsgericht wird sich in der Zukunft vermehrt mit diesen Fragen auseinander setzen.

(Musikakzent)

Sprecherin Ingeborg Lüdtke und Peter Bieringer

© Ingeborg Lüdtke

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Weiterführende Literatur:

Hans Buchheim, SS und Polizei im NS-Staat

1964, Selbstverlag der Studiengesellschaft für Zeitproblem, Duisburg

Polizei, Verfolgung u. Gesellschaft im Nationalsozialismus

(Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 15)

Hrsg. KZ-Gedenkstätte Neuengamme

2013, Edition Temmen, Bremen

Helmut Dohr, Staat, Verfassung, Politik

Grundlagen für Studium und Praxis

  1. Auflage2014, Verlag dt. Polizeiliteratur GmbH Buchvertrieb, Hilden

Peter Longerich, Heinrich Himmler

Biographie

2008, Pantheon Verlag

Gunnar Bettendorf: „Das Reserve-Polizeibataillon 111 im Osteinsatz“,

in: Hannoversche Geschichtsblätter, Band 62/2008, Herausgeber: Landeshauptstadt Hannover

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Nutzungsrechte erhalten:

Text von Prof. Dr. Werner Heun vom Institut für Allgemeine Staatslehre und Politische Wissenschaften in Göttingen

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Die Polizei im Nationalsozialismus – Teil 1

Heinz Ehrhardt Denkmal in Göttingen

Heinz Ehrhardt Denkmal in Göttingen

Welches Bild haben Sie im Kopf,  wenn Sie den Begriff Polizei hören?

Ist es die Verbrecherjagd im Großstadtrevier?

(Einspielung … Truck Stop „Wir im Großstadtrevier“)

oder

ist es Heinz Ehrhardt, der auf der Kreuzung beim Auditorium den Verkehr regelt?

(Einspielung…Musik-Verkehrspolizei)

Oder denken Sie an den Polizisten, der in der Stadt den Bürgern und Besuchern bei kleinen Problemen hilft?

Kennen Sie auch die dunkle Seite der Polizei  im Nationalsozialismus?

Mir wurde die Rolle der Polizei im Nationalsozialismus erst durch den Besuch der Ausstellung Polizei im NS bewusst.

Je mehr ich mich mit dem Thema beschäftigt habe, desto mehr Fragen hatte ich.

Fragen, die ich mir nie gestellt habe und deren Antworten auch nie im Geschichtsunterricht beantwortet wurden.

Wie war denn der Aufbau der Polizei im Nationalsozialismus?

Wie wurde die Polizei im Nationalsozialismus eingesetzt?

Wie gelang es Heinrich Himmler Polizeichef des gesamten Reiches zu werden?

Wie wurde die Polizei nach 1945 umstrukturiert?

Wäre es heute immer noch möglich, dass ein korrupter Politiker seine eigenen Interessen per Gesetz mit einer 2/3 Mehrheit durchsetzen könnte?

Bleiben Sie einfach dran und hören Sie einfach mal rein

(Musikakzent)

Der Aufbau der Polizei hat sich in den letzten 100 Jahren mehrfach verändert. Dr. Dirk Götting vom Polizeimuseum in Nienburg erklärt den Aufbau der Polizei  in der Weimarer Republik:

„Die Polizei der Weimarer Republik unterschied sich … nicht wesentlich von dem, wie wir unsere Polizei heute in der Bundesrepublik haben. Es war ein föderativer Staat. Die Polizeibefugnis war Ländersache. Die einzelnen Länder haben leichte Unterschiede gehabt. Das größte Land in der Weimarer Republik war Preußen. In Preußen gab … eine staatliche Schutzpolizei. Es gab kommunale Polizeien. Es gab auf dem Land die große Gendarmerie oder die jetzt in der Weimarer Republik umbenannt wurde in Landjäger. … Man trennte jetzt Polizei vom Militär und deshalb bekam die recht militärisch ausgerichtete Gendarmerie den  Namen Landjägerei. … Die Kriminalpolizei gab es natürlich auch in den großen Städten, in den kleineren waren es relativ kleine Dienststellen. Die Dienststellen der Polizei hießen Polizeireviere.

…. Es wurde in Preußen das Polizeibeamtengesetz verabschiedet. Das heißt der Polizeiberuf wurde, …  zu einem richtigen Ausbildungsberuf gemacht. Man musste nicht mehr bei(m) Militär sein, um zur uniformierten Polizei gehen zu können. Man musste nicht mal mehr ein Mann sein. Ab Mitte der 1920er wurden auch  die ersten Frauen in den Polizeidienst eingestellt, …  in eine weibliche Kriminalpolizei … in Preußen, in anderen Ländern in Baden oder Sachsen sogar als uniformierte Polizei.

Dann gab es ein sehr modernes Polizeigesetz. Das wurde … 1931 verabschiedet. Das Polizeigesetz war so modern, dass es 1951 als wir hier in Niedersachsen unser erstes SOG (Sicherheits- und Ordnungsgesetz) bekamen, das Ganze war nur eine Abschrift dieses Gesetzes.“ (O-Ton Götting)

(Musikakzent)

Sprecherin:

Der preußische Innenminister Carl Severin baute die Polizei als „Freund und Helfer“ der Bürger auf. Bisher wurde die Polizei von der Bevölkerung eher als Feind und Gegner angesehen.

Die Polizei in der Weimarer Republik bestand meist aus ehemaligen Unteroffizieren der kaiserlichen Armee. Diese ehemaligen Soldaten mussten lernen, Konflikte friedlich zu lösen.

(Musikakzent)

Dieser moderne Aufbau der Polizei wurde durch die Machtübernahme der Regierung durch die NSDAP wieder geändert.

Doch wie war es möglich, dass die NSDAP durch Heinrich Himmler Macht über die gesamte deutsche Polizei erlangte?

Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum deutschen Reichskanzler ernannt.

Am 27.2.1933 wurde das Reichstagsgebäude in Brand gesetzt. Der niederländische  Kommunist Marius van der Lubbe und weitere politische Gegner wurden verhaftet.  Außer Marinus van der Lubbe wurden weitere Personen angeklagt. Marius van der Lubbe wurde als alleiniger Täter zum Tode verurteilt. Die weiteren Angeklagten wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Immer wieder tauchte das Gerücht auf, dass die Nazis den Reichstagsbrand verursacht hätten.

Für Dirk Götting ist der Reichstagsbrand  ein Ereignis, dass die Nazis für ihre Zwecke ausnutzen:

„ Es ist völlig egal, wer ihn letztendlich angesteckt hat, ob es die Nazis selber waren, wie die Kommunisten sagen oder die Kommunisten wie es die Nazis sagen oder ob es ein Alleintäter war … Entscheidend ist, dass er brennt und die Nazis sitzen an der Macht und die nutzen das für sich aus. Sie geben bekannt, dass dies ein Fanal sei und ein Beginn eines kommunistischen Staatsstreiches gegen ihre Regierung. Und sie fordern … von Hindenburg …, ein Sondergesetz um diesem angeblichen bevorstehenden Staatsstreich begegnen zu können.“ (O-Ton Götting)

Sprecherin:

Die Nationalsozialisten erwirkten beim Reichpräsidenten von Hindenburg  die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat. Diese Notverordnung  wird auch  Reichstagsbrandverordnung genannt.

Die Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 setzte wesentliche Grundrechte der Weimarer Verfassung  außer Kraft.

Hitler nutzte diese Notverordnung, um  gegen seine politischen Gegner vorzugehen.

„ … dieses Sondergesetz zum Schutz von Volk und Staat ermächtigt die Nazis, alle diejenigen zu verhaften, die … vermeintlich hinter diesem Staatsstreich stehen.  …Und so setzten Verhaftungswellen ein, die über politische Gegner im engeren Sinne, aber auch über Gewerkschafter, über Intellektuelle, über Pressevertreter sich praktisch durchziehen. Und in diesem Spiel ist die Polizei mittendrin.“ (O-Ton Götting)

Sprecherin:

Der Haftgrund lautete Schutzhaft. Diese Schutzhaft war eine reine polizeiliche Maßnahme. Jede Mitwirkung der Gerichte war ausgeschlossen.

„Die Personen werden nicht mehr vor die Richter geführt. Man muss sich vorstellen, dass jetzt ab Ende Februar/Anfang März man in Deutschland von der Polizei verhaftet werden kann, ohne das einem die Polizei wirklich sagen kann warum, weil es gibt in der Regel keinen individuellen Haftgrund gibt, sondern es gibt listenmäßige Verhaftungen. Die Kollegen … hätten sagen können: „Sie werden jetzt … in Schutzhaft genommen aufgrund des Gesetzes vom 28.2.1933 zum Schutz von Volk und Staat“. Und die Betroffenen wissen nicht, wie lange sie inhaftiert werden; sie wissen nicht wo sie hinkommen. Sie wissen nicht, was in der Haft mit Ihnen passiert.“ (O-Ton Götting 2)

Sprecherin:

Hausdurchsuchungen, Verbot von Versammlungen,  Parteien und Vereinigungen und die Zensur der Presse konnten völlig legal durchgeführt werden.

Adolf Hitler war es außerdem möglich, das sogenannte Ermächtigungsgesetz durchzubringen. Nun konnte er ohne die Zustimmung des Reichstags Gesetze erlassen und die Verfassung ändern.

(Musik)

Sprecherin:

In Hitlers Regierungskabinett befanden sich auch die die Nationalsozialisten Wilhelm Frick und Hermann Göring. Wilhelm Frick wurde Reichsinnenminister und Hermann Göring wurde nach der Machtübernahme Hitlers kommissarischer Innenminister von Preußen. Göring wurde dadurch oberster Dienstherr der preußischen Polizei.

Hermann Göring begann mit personellen Änderungen innerhalb der Polizei. Demokraten und Republikaner wurden aus dem Polizeidienst entlassen. Auch der Zeuge Jehovas Heinrich Mühlhausen aus Benterode bei Hann. Münden wurde entlassen. Er war bis 1934 Polizei-Hauptwachtmeister bei der Schutzpolizei.

Auch in Führungspositionen der Polizei gab es personelle Veränderungen:

„… als Göring als kommissarischer Innenminister eingesetzt wird, … werden Polizeipräsidenten, die ihm nicht genehm sind, ausgetauscht. … es werden ganz spezielle Leute eingesetzt. Wie in Hannover der Chef der SA Viktor Lutze. … die SA ist ja eine paramilitärische Einheit der NSDAP mit der sich die Polizei … durchaus die eine oder andere Straßenschlacht geliefert hat. Und der Chef dieser paramilitärischen Einheit wird jetzt über Nacht Polizeipräsident… Nur Tage später, wir sind immer noch im Februar gibt der Hermann Göring einen Erlass heraus an seine Polizeibeamtenschaft, in der er sie zur Gewaltanwendung bis hin zum Schusswaffengebrauch auffordert gegen seine politischen Gegner. Und er sagte, die Polizeibeamten brauchen auch nicht dafür die Verantwortung zu übernehmen. Das würde er machen. Dieser ganze Erlass ist rechtswidrig.

Er setze auch …  wenige Tage später, eine Hilfspolizei ein aus SS, SA und Stahlhelm, also Veteranen des 1. Weltkrieges. Und diese Hilfspolizei … kann hier sogar ihre Parteiuniform behalten. Die kriegen nur Armbinden um, da steht dann Hilfspolizei drauf … Die Gewaltanwendung der Hilfspolizei der SS und der SA wird damit scheinbar legalisiert, obwohl dieser Erlass rechtswidrig ist.“ (O-Ton Götting 2)

Sprecherin:

Die politische Polizei wurde aus dem Polizeiapparat  herausgelöst. Dies betraf zunächst nur Preußen und Bayern.

Im April 1933 gründete Hermann Göring die Geheime Staatspolizei in Preußen.  Das Geheime Staatspolizeiamt auch Gestapa genannt, wurde errichtet.

Die Gestapo hatte nun die Stellung einer Landespolizeibehörde. Sie war direkt dem preußischen Innenministerium unterstellt.

In Bayern war es ähnlich wie in Preußen.

(Musikakzent)

Sprecher: (Peter Bieringer)

Heinrich Himmler wurde im März 1933 kommissarischer Polizeipräsident in München. Kurz darauf wurde Himmler Referent im Staatsministerium des Innern. Himmler hatte nun die Kontrolle über die Politische Polizei  Bayerns.  In demselben Monat wurde  er Kommandeur der Bayrischen Politischen Hilfspolizei. Er konnte nun SS-Angehörige als Hilfspolizisten einsetzen.

Am 1. April 1933 wurde Himmler zum Politischen Polizeikommandeur Bayern ernannt. Außerdem wurde ihm die formelle Zuständigkeit für alle Schutzhaftangelegenheiten übertragen.

In Bayern kontrollierte Himmler nun die Politische Polizei, die Politische Hilfspolizei und die Konzentrationslager.

Himmler übernahm 1934 von Göring die Leitung der Gestapo in Preußen.

Bis Juni 1934 konnte Himmler die Politischen Polizeien der übrigen deutschen Länder übernehmen.

Als mit dem „Gesetz über den Neuaufbau des Reichs“ vom 30. Januar 1934 die Selbständigkeit der Länder aufgehoben wurde, ging auch die Polizeihoheit auf das Reich über.

Die Politischen Polizeien der Länder wurden bis 17. Juni 1936 durch Landesrecht geregelt. Der  Erlass von Hitler vom 17. Juni 1936 verband  das Amt des Reichsführers SS (RFSS) mit dem neu geschaffenen Amt des Chefs der Deutschen Polizei.

Das Amt des Reichsführer SS war ein Amt der Partei NSDAP. Das Amt des Chefs der Deutschen Polizei war ein staatliches Amt. Der gesamte deutsche Polizeiapparat wurde durch das Verbinden beider Ämter zentralisiert. Man spricht deshalb von Verreichlichung.

Auf der anderen Seite wurde die Polizei mit der SS verbunden. Dieses führte zur Entstaatlichung, da die Polizei aus der staatlichen Verwaltung herausgelöst wurde.

„Formell war Heinrich Himmler Chef der Deutschen Polizei. … Das suggeriert, er ist dem Reichsinnenminister nachgeordnet, so wie es traditionell gewesen sein müsste.  Himmler hatte aber das Recht, bei den Polizeisachen am Kabinetttisch zu sitzen. Das heißt praktisch, war er Polizeiminister von Deutschland und der Reichsinnenminister hatte ihm nichts zu sagen.“ (O-Ton Götting)

Sprecherin:

Als Reichsführer SS war Himmler Adolf Hitler direkt unterstellt.

Heinrich Himmler wurde 1943 Reichsinnenminister, dadurch wurde ihm formell die gesamte deutsche Polizei und der Sicherheitsdienst (SD) unterstellt.

(Musik)

Sprecherin:

Gleich nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten schaltete man innerpolitische Gegner aus.  Innerpolitische Gegner waren Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Kommunisten. 

Die Hilfspolizei und die reguläre Polizei führten Terrormaßnahmen gegen innerpolitische Gegner aus.

Einige Terrormaßnahmen der Polizisten und Hilfspolizisten beruhten auf persönlichen Rachegefühlen und dem Bewusstsein Macht über die Gegner zu haben. Dies bestätigt auch Dr. Dirk Götting vom Polizeimuseum in Nienburg:

„Die Verfolgung der politischen Gegner auf Basis der Reichstagsbrandverordnung gestaltete sich … so, dass man durch die Polizei verhaftet werden konnte, aber auch durch die Hilfspolizei. Die Hilfspolizei sind eben die Schergen aus der SA und der SS. Und man landete, wenn man festgenommen wurde, nicht nur in normalem Polizeigewahrsam oder in Haftanstalten, sondern auch in provisorischen Gefängnissen der Hilfspolizei und das sind eben die berühmt berüchtigten Folterkeller der SA. Und dort wurde mit politischen Gegner zum Teil aus den lokalen Bereichen, die bekannt waren mit denen man in Anführungsstrichen noch eine alte Rechnung offen hat, auch sehr brutal umgegangen. Das Bild von Carl von Ossietzky, das fast in jedem Schulbuch zu finden ist, spricht ja Bände.  … Auf öffentlichen Druck wird ein Mann vorgeführt, dem man offensichtlich das Gesicht zerschlagen hat und auch obwohl die Medien aufmerksam beobachten, wird er wenig später umgebracht. Die Brutalität und die Skrupellosigkeit ist schon erschreckend.“

(Musikakzent)

Sprecherin:

ehemalige KommandanturAuch in Moringen bei Göttingen wurde 1933 das Werkhaus als Konzentrationslager für innerpolitische Gegner genutzt. Anfangs wurden nur Männer inhaftiert. Ab Juni 1933 kamen auch zwei Frauen dazu. Die Bewachung übernahm die Polizei:

„Und die erste Wachmannschaft, die dort eingesetzt wird zur Bewachung dieser politischen Gefangenen, sind Schutzpolizisten aus der Polizei Hannover, die unterstützt werden durch örtliche Kräfte der Hilfspolizei., also SA, SS aber auch der örtliche Gendarm ist dabei. Also es gibt … eine enge Verbindung schon, zwischen SS, SA und Polizei. Später, gibt es auch Auseinandersetzungen zwischen SS und Polizei“. Mir ist das zumindest aus  (dem) Bereich eines anderen großen Lagers der frühen Zeit bekannt in Esterwegen, im Moorlager.“ (O-Ton-Götting)

(Musikakzent)

Die Nationalsozialisten stuften immer weitere Gruppen als Gegner des Regimes ein. Nun wurden auch Juden, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, damals noch Bibelforscher genannt und Homosexuelle verfolgt.

Massenverhaftungen gab es auch bei sogenannten „Berufsverbrechern“ und sogenannte „Asoziale“.  Als Berufsverbrecher bezeichnete man Personen, die schon mehrfach wegen Diebstahl oder anderer Delikte aufgefallen waren.  Unter „Asozialen“ verstand man z.B. Arbeitslose, die man als „arbeitsscheu“ einstufte, Bettler, Landstreicher, Zuhälter, Prostituierte oder Alkoholiker.

Auch Jugendliche gerieten in das Verfolgungsraster. Ab 1937 gibt es eine zentral gesteuerte Polizeiabteilung  zur Bekämpfung der Jugendkriminalität.

„… unter Frau Wieking, der Leiterin in Berlin, die höchstrangige Frau in der weiblichen Kriminalpolizei, werden diese Frauen zuständig sozusagen um  Sozialprognosen über auffällige Jugendliche abzugeben. Erst sind es wirklich kriminelle Jugendliche, aber zunehmend geraten auch Jugendliche in diesen Fokus, die von der örtlichen Hitlerjugend denunziert werden, weil sie nicht regelmäßig zu den Hitlerjugendabenden erscheinen. Und diese  Frauen in der WKP weiblichen Kriminalpolizei können Gutachten abgeben, Sozialprognosen und fallen die schlecht aus, dann können sie sie in ein eigenes Lager einweisen für Jugendliche. Es gibt eins für Jungs, dass ist das, was jetzt als Nachfolger des Konzentrationslagers in Moringen entsteht und für Mädchen in  Fürstenberg in der Uckermark.“ (O-Ton Götting 2)

Dr. Dr. Robert Ritter leitete ab 1941 das Kriminalbiologische Institut der Sicherheitspolizei.  Robert Ritter besuchte häufig das Jugend-KZ Moringen. Er teilte die Jugendlichen ein in „Untaugliche“, “ Störer“, “ Dauerversager“, “ Gelegenheitsversager“, “ fraglich Erziehungsfähige“, und “ Erziehungsfähige“. Seine Einschätzung der inhaftierten Jugendlichen wirkte sich auf ihr weiteres Leben aus. Einige Jugendliche wurden in Konzentrationslager für Erwachsene überstellt und starben dort.

Über die Forschungsmethoden von Robert Ritter referierte der Historiker Hans Hesse in der Uni Göttingen im November 1998:

„Ab 1932 begann er sich mit Arbeiten über sogenannte asoziale Jugendliche zu befassen, hierbei wählte er als Forschungsmethode die Genealogie. Das heißt Ritter versuchte durch archivalische Untersuchungen und Erstellen von Stammbäumen einen durch angeblich zehn Generationen nachweisbaren Schlages, ich zitiere `primitiven Artverbrechern` aufzudecken. Einmal vereinfachend, bestand Ritters Methode in etwa darin, seine These lautete: Kriminelles oder Asoziales ist erblich. Beweis: Die Vorfahren eines bestimmten Menschen waren bereits vor 150 Jahren kriminell oder asozial. Des Weiteren ging er davon aus, dass sich die vermeintlichen Erbanlage auf enge (wie es hieß) Züchtungskreise beschränkt. … Wie Ritter eigentlich bestimmen konnte, dass eine Familie in 18.Jahrhundert asozial gewesen sei,  ist nur noch schwer nachzuvollziehen, da alles Material von Ritters vernichtet oder sagen wir mal bis heute verschwunden ist.“ (O-Ton-Hans Hesse)

Robert Ritter forschte bereits über den Erwerb der Sinti und Roma, aber er hatte auch die Zeugen Jehovas im Blick:

„… Dr. Dr. Robert Ritter wollte sich über den Erbwert der Zeugen Jehovas klarwerden. Das heißt er wollte feststellen, ob es sich bei den Zeugen Jehovas um rassisch minderwertige oder höher wertige Menschen handelte. Diese Untersuchungen und Forschungen Ritters hatte er schon öfter angestellt zum Beispiel an … Sinti und Roma. Diese Gutachten …  waren … die Basis für die spätere Ermordung der Sinti und Roma in dem Vernichtungslager Auschwitz.“ (O-Ton Hesse)

(Musik)

Sprecher: (Peter Bieringer)

Anfangs verfolgte die SS gezielt bestimmte Personengruppe. Später geriet das gesamte deutsche Volk unter Generalverdacht.

Mit Beginn des 2.Weltkrieges trat die Kriegssonderstrafrechtsverordnung vom 17. August 1938 in Kraft.

Der Paragraph 5, Zersetzung  der Wehrkraft lautet:

Absatz 1 Wegen Zersetzung der Wehrkraft wird zum Tode bestraft:

  1. wer öffentlich dazu auffordert oder anreizt, die Erfüllung der Dienstpflicht in der deutschen oder verbündeten Wehrmacht zu verweigern, oder sonst öffentlich den Willen des deutschen oder verbündeten Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen sucht;
  2. wer es unternimmt einem Soldaten oder Wehrpflichtigen des Beurlaubtenstandes zum Ungehorsam, zur Widersetzung oder zur Tätlichkeit gegen einen Vorgesetzten oder zur Fahnenflucht oder unerlaubten Entfernung zu verleiten oder sonst die Manneszucht in der deutschen oder verbündeten Wehrmacht zu untergraben; (LESEN LASSEN)

Emmy Zehden versteckte ihren Adoptivsohn Horst Schmidt und zwei Freunde, um sie als Kriegsdienstverweigerer vor dem Tod oder dem Konzentrationslager zu bewahren. Sie wurde wegen Wehrkraftzersetzung in Berlin-Plötzensee mit dem Fallbeil hingerichtet. Der Emmy-Zehden-Weg erinnert heute in Berlin an sie.

Horst Schmidt, der Adoptivsohn von Emmy Zehden wurde von der Gestapo gejagt und ins Zuchthaus Brandenburg-Görden gebracht.

Im Februar 2004 erklärte er in der  Geschwister-Scholl-Gesamtschule in Göttingen, warum er verhaftet wurde:

„Ich wurde vom Volksgerichtshof in Berlin vom 4. Senat zum Tode verurteilt wegen Verweigerung des Militärdienstes, wegen Zersetzung der  Wehrkraft und einfach auch, weil ich Zeuge Jehovas, damals sagte man Bibelforscher, war. Dann kam ich im Dezember 1944 zur Vollstreckung dieses Urteils nach Brandenburg.“ (O-Ton Horst Schmidt)

Sprecherin:

Horst SchmidtHorst Schmidt entging dem Todesurteil. Er wurde am 27.April 1945 von der russischen Armee befreit.

(Musikakzent)

Sprecher: (Peter Bieringer):

Am  1. September 1939 trat die „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“ in Kraft. Paragraf 1 und 2 lauten:

  • 1 Das absichtliche Abhören ausländischer Sender ist verboten. Zuwiderhandlungen werden mit Zuchthaus bestraft. In leichteren Fällen kann auf Gefängnis erkannt werden. Die benutzten Empfangsanlagen werden eingezogen.
  • 2 Wer Nachrichten ausländischer Sender, die geeignet sind, die Widerstandskraft des deutschen Volkes zu gefährden, vorsätzlich verbreitet, wird mit Zuchthaus, in besonders schweren Fällen mit dem Tode bestraft.

Sprecherin:

Solche Hinrichtungen wurden auch im Zuchthaus Brandenburg-Görden vollzogen.

(Musik)

Sprecherin:

Auch die Feuerwehr wurde der Polizei zugeordnet.

Bis 1933 unterstanden die Feuerwehren den Kommunen. Die Freiwillige Feuerwehr organisierte sich in Vereinen.

Ab 1933 wurde die Feuerwehr schrittweise  „gleichgeschaltet“.  Die Feuerwehren wurden umstrukturiert, zentralisiert, ideologisiert und militarisiert.

Juden, Kommunisten und Sozialdemokraten wurden aus den Feuerwehren ausgeschlossen.

Das  „Gesetz über das Feuerlöschwesen“ vom 15.12.1933 ordnete die Feuerwehren der Polizei zu. Die Feuerwehren werden in „Feuerlöschpolizei“ umbenannt. Dies gilt zuerst nur für Preußen.

Am 23. November 1938 trat das Reichsgesetz über das „Feuerlöschwesen“ in Kraft. Aus der Berufsfeuerwehr wurde die „Feuerschutzpolizei“.

Feuerwehren in Vereinsorganisationen wurden verboten. An ihre Stelle trat eine Hilfspolizeitruppe, die nach Löscheinheiten gegliedert war.

Heinrich Himmler wurde nach 1938 der Befehlshaber der Feuerwehr. Die Feuerwehrmänner leisteten als Teil der Polizei ihren Eid auf Adolf Hitler als Führer.

Die neue Uniformfarbe der Feuerwehren war grün. Auch die Feuerwehrfahrzeuge wurden grün lackiert.

Über die Zusammenarbeit der Feuerwehr mit der SS und SA im Jahr 1938 berichtet die Historikerin Cordula Tollmien in Ihrer Dissertation „Nationalsozialismus in Göttingen“:

Denkmal für die alte Göttinger Synagoge

Denkmal für die alte Göttinger Synagoge

„Im Gegensatz zu den Ausschreitungen der Märznacht 1933 und des August und September 1935 war das Novemberpogrom in erster Linie eine Angelegenheit der SS. Die SA trat erst im Laufe des 10. November bei einzelnen Überfällen und Plünderungen in den Wohnungen auf und präsentierte sich im Übrigen in gewohnter Weise als Ordnungsmacht bei der Absperrung und Sicherung der verwüsteten Geschäfte und bei den Löscharbeiten an der Synagoge.

Feuerwehr Göttingen

Feuerwehr Göttingen

Die Göttinger Synagoge hatte seit 1 Uhr nachts in Flammen gestanden, angezündet von der SS unter tatkräftiger Mithilfe des Leiters der Göttinger Berufsfeuerwehr, Wilhelm Rodenwald. Dieser hatte nicht nur in einer kurz vor Mitternacht einberufenen Besprechung zwischen Oberbürgermeister Gnade, SS-Standartenführer Friedrich Steinbrink … und den Leitern der Göttinger Kriminal-bzw. Vollzugspolizei die besten Methoden zur Inbrandsetzung der Synagoge diskutiert, sondern auch persönlich Kanister mit Benzin aus den Beständen der SS zum Brandherd transportiert. Lediglich die Freiwillige Feuerwehr unter ihrem Leiter Hermann Grote stand zum Löschen bereit, hatte aber den strikten Auftrag, nur die angrenzenden Wohnhäuser zu schützen“. (gelesen von Peter Bieringer)

Während die Feuerwehr in Göttingen aktiv am Abbrennen der Synagoge beteiligt war, hat ein Feuerwehrmann in Dransfeld das Abbrennen der Synagoge verhindert. Über die Motive des Feuerwehrmannes wird laut Ernst Achilles vom Dransfelder Bürgerforum noch immer gerätselt.

Jüdische Synagoge Dransfeld

Jüdische Synagoge Dransfeld

„Es wurde gesagt: Das Abbrennen der Synagoge  ist von einem Feuerwehrmann verhindert worden. Und jetzt teilt sich im Grunde die Interpretation der Handlung. Das Abbrennen, das Abfackeln ist verhindert worden. Die einen sagen, ein Feuerwehrmann mit großer Zivilcourage hat es verhindert, dass die Synagoge abgebrannt wurde. Die anderen sagen: Nein, eigentlich steckt dahinter die ganz dichte Bebauung, die angrenzende Tischlerei: Wenn es zu einem Brand gekommen wäre, wäre die ganze Straßenzeile abgebrannt. Das ist der Grund. Dies ist eine Frage, die in Dransfeld bei den älteren Bewohnern immer wieder aufkommt, wenn man ins Gespräch kommt. Einer Antwort scheint man da nicht näher zu kommen“. (O-Ton Ernst Achilles)

(Musik)

Sprecher: (Peter Bieringer):

Neuere Forschungen brachten das Bild der „anständigen Polizei“ ins Wanken. Lange wurden viele  Aufgabenbereiche der Polizei verschwiegen, zum Beispiel:

Die Ordnungspolizei sicherte und begleitete Deportationszüge in die Konzentrationslager und Vernichtungslager.

Zum Teil bewachten ältere Polizisten oder  Reservepolizei KZ-Häftlinge.

Einige  Einheiten der Ordnungspolizei nahmen im Zweiten Weltkrieg an Kriegseinsätzen teil. Deutsche Polizeikräfte besetzten Österreichs und das Sudetenland noch vor Kriegsbeginn.

Die Polizei beteiligte sich beim Völkermord an den  Juden und an den Sinti und Roma.

Polizeieinheiten beteiligten sich an Massenerschießungen von Juden und der Ermordung anderer NS-Opfer von 1941 bis 1944 in Polen, im Baltikum und in Weißrussland.

Die Gestapo war in die Bewachung von ausländischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangener eingebunden.

Hilfspolizisten halfen bei der Bewachung von Kriegsgefangenen.

Polizeibeamte beteiligten sich im KZ Mauthausen an der „Aussonderung“ von „politischen Kommissaren“ von sowjetischen Kriegsgefangenen. Diese wurden danach im Lager auf unterschiedliche Weise getötet. Dies widersprach den Regeln der Menschenrechte.

(Musikakzent)

Laut Dr. Dirk Götting vom Polizeimuseum Nienburg hatten einfache Polizisten unter dem NS-Regime einen großen Handlungsspielraum:

Entscheidend, … ist die Macht, die Möglichkeit, die so einfache Polizeibeamte hatten in dieser Zeit. … stellen Sie sich einfach mal einen Mitarbeiter der Kripo vor. Der hat sich schon einige Zeit mit einem Menschen dienstlich beschäftigen müssen, …, und der beschließt, das möchte er zukünftig nicht weiter tun. Vielleicht kann man diesen Menschen ja praktisch in die Vorbeugehaft nehmen. Also vorbeugende Verbrechensbekämpfung, so heißt die Strategie. Das heißt Menschen zu inhaftieren, die eventuell wieder Straftaten begehen könnten, als eine vorbeugende Maßnahme. Dafür gibt es Anweisungen, aber letztendlich heißt das, man muss einen Bericht schreiben, seine Vorgesetzten davon überzeugen, dass es sinnvoll ist, dass dieser Mensch in Vorbeugehaft genommen wird. Wenn ihm das gelingt, der Vorgesetzte zustimmt, dann wird dieser Mensch in ein Konzentrationslager eingewiesen, in Vorbeugehaft genommen. Und der Polizeibeamte muss nicht fürchten, dass ein Anwalt oder ein Gericht ihn in dieser Sache irgendwie korrigiert oder er muss sich da auch nicht rechtfertigen. Das ist eine unwahrscheinliche Machtposition. … wir haben auch Beispiele dafür, dass dieser Handlungsspielraum, nicht nur negativ ausgenutzt wird als Machtdemonstration, sondern auch, … dass sich Polizeibeamte ein Stück weit … einen Bewegungsspielraum lassen. Ich habe selber ein Beispiel vor Augen, … jemand …, der war in der Zigeunerzentrale, [er hat] also Sinti und Roma verfolgt, aber auch Personen vor Verhaftungen gewarnt . Gleichzeitig ist er aber als extremer Antisemit aufgefallen. … aber der Handlungsspielraum sowohl der Möglichkeiten Macht auszuüben, auch eben mal etwas mal nicht zu tun, der war extrem groß in dieser Zeit.“ (O-Ton Götting)

Sprecherin:

Auch der Göttinger Polizeibeamte in Göttingen Grone tat manchmal etwas nicht. Der Zeuge Jehovas Willy Schmalstieg schreibt in seinem Lebenbericht, dass der Polizist in Göttingen-Grone ihm wohlgesonnen war. Er überhörte, dass Willy Schmalstieg nicht „Heil Hitler“ sagte. Als er keine Reisepapiere als Vertreter mehr erhalten konnte, riet er ihm sich beim Arbeitsamt zu melden. „Stellen Sie bitte einen neuen Antrag, denn Sie und ihre Familie wollen doch schließlich leben“, sagte er.

(Musikakzent)

stille_hunde_WERBEMOTIV_Die_Besserung_2Das Theaterstück Die Besserung von der Theatergruppe Stille Hunde beruht auf Berichten überlebender Häftlinge des Jugendkonzentrationslagers Moringen.

Auch hier wird die Handlungsmöglichkeit einzelner  Polizisten gezeigt:

Franz: (gesprochen von Christoph Huber)

Die Polizisten,

die mich dorthin gebracht haben,

das waren die letzten anständigen Menschen,

die ich bis zum Ende des Kriegs gesehen habe,

das kannst Du mir glauben.

Da waren noch zwei andere Jungs dabei,

ein dunkelhaariger großer, bestimmt schon siebzehn

und so ein schmaler, drahtiger, kleiner.

Willi hieß der. Willi Priebe aus Oldenburg.

Ich weiß nicht genau, was der alles gemacht haben soll.

Der war so alt wie ich.

Der uns haben da auf einer Bank vor dem Bahnhof gesessen,

und gewartet, dass uns die SS abholt.

Da packt einer der Polizisten,

die uns in dem Zug nach Moringen gebracht haben,

Wurstbrote aus.

Ganz dick belegte Stullen, viel Butter drunter.

„Jetzt esst mal schön, Jungs“, sagt er,

„Das muss eine Weile vorhalten.

Wird dauern, bis ihr wieder so was Gutes kriegt“.

Als der SS-Mann kam, ein ganz junger Kerl,

hat der Priebe gleich eine gefangen,

so ne schallende Ohrfeige,

weil er mit vollem Mund „Heil Hitler“ gesagt hat.

Ich seh´ ihn noch genau vor mir.

Wie er plötzlich auf dem Boden lag,

die Augen vor Schreck ganz weit aufgerissen,

Lippe aufgeplatzt,

und das halb gekaute Wurstbrot hing dem SS-Mann auf dem Jackenärmel.

Der war vielleicht sauer.

Wenn nicht einer von den Polizisten dazwischen gegangen wäre

Und gesagt hätte, dass er Befehl habe,

die Jungs heil im Lager abzuliefern,

hätte der von der SS den Priebe auf dem Bahnhof richtig verdroschen.

Ich glaube, der hatte sogar eine Waffe gezogen.

Beim Rausgehen sag der SS-Mann zu den Polizisten noch:

„Kann sein, dass Sie es nur nett gemeint haben,

aber ich muss Meldung machen.

Vor allem den Zigeuner hätten Sie nicht füttern dürfen. (O-TON)

(Musikakzent)

Im 2. Teil der Sendung geht es um die Umstrukturierung der Polizei nach 1945.

Außerdem geht um die Rolle der Polizei bei der Vernichtung der Juden in Polen

Und es geht um die Frage, ob heute noch ein korrupter Politiker per Gesetz seine eigenen Interessen durchsetzen kann.

(Musikakzent)

Sprecherin: Ingeborg Lüdtke und Peter Bieringer

(gesendet am 27.1.2017 um 12 h im StadtRadio Göttingen)

© Ingeborg Lüdtke

Text- und Data-Mining: Ich behalte mir eine Nutzung aller Inhalte dieser Webseite für kommerzielles Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Weiterführende Literatur + Link:

Hans Buchheim, SS und Polizei im NS-Staat

1964, Selbstverlag der Studiengesellschaft für Zeitproblem, Duisburg

Polizei, Verfolgung u. Gesellschaft im Nationalsozialismus

(Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 15)

Hrsg. KZ-Gedenkstätte Neuengamme

2013, Edition Temmen, Bremen

Peter Longerich, Heinrich Himmler

Biographie

2008, Pantheon Verlag

http://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/die-deutsche-polizei-im-nationalsozialismus/

Michael Bollmann

http://stadtarchiv.goettingen.de/widerstand/frames/fr_zeugen-jehovas-goettingen.html

Widerstand in Göttingen

Nutzungsrechte:

„Die Besserung“ (Textauszug + Foto): Mit freundlicher Genehmigung der Theatergruppe „Stille Hunde“

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Wissenschaftsschranke: Interview Prof. Dr. Sprang vom Börsenverein

Georg Christoph Lichtenberg vor der Paulinerkirche

Georg Christoph Lichtenberg vor der Paulinerkirche

Themenübersicht: Was bedeutet der Begriff „Wissenschaftsschranke“? Welche Schranken gibt es noch im Bereich des Urheberrechts? Was wäre das völlig Neue an der Wissenschaftsschranke für die Verlage? Würde die Wissenschaftsschranke wirklich für die Verlage eine große finanzielle Einbuße oder den Untergang der Wissenschaftsverlage bedeuten? Kritik an den bisher vorgestellten Möglichkeiten einer Wissenschaftsschranke; Open Access als Veröffentlichungsform; das „Vogel-Urteil“  zur Abrechnungsweise der Verwertungsgesellschaften


Am 8. November 2016 fand nun zum 10. Mal die Urheberechtstagung in Göttingen statt. Tagungsort war wieder die ehemalige Paulinerkirche. Die Urheberrechtstagung stand unter dem Motto „Wissensschaftsschranke“.

Die Regie führten Prof. Dr. Gerald Spindler und Prof. Dr. Andreas Wiebe von der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen.

Eingeladen waren hochkarätige Experten wie zum Beispiel:

Ministerialrat Matthias Schmid, der Leiter der Abtl. III B3 des Bundesministeriums der Justiz und Verbraucherschutz, Berlin; Bettina Klingbiel vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, Referat Grundsatzfragen und Rahmenbedingungen des digitalen Wandels; Ministerialrat Dr. Thomas Pflüger von der Hochschulabteilung Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg; Prof. Dr. Justus Haucap als Direktor des Instituts für Wettbewerbsökonomie der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf.

Ebenso referierten  Rechtsanwalt Dr. Nils Rauer und Prof. Dr. Artur-Axel Wandtke, beide bekannt durch ihre Bücher über das Urheberrecht.

Auch Rechtsanwalt Prof. Dr. Christian Sprang war zur Podiumsdiskussion eingeladen. Er ist der Justiziar vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels.

Allerdings begann eine kontroverse Diskussion schon vor der geplanten Podiumsdiskussion. Interessensvertreter von Verlagen, Zeitungsverlagen und Bibliotheken diskutierten leidenschaftlich.

Professor Christian Sprang vom  Börsenverein des Deutschen Buchhandels war im Anschluss an die Diskussion bereit, mir einige Fragen zu beantworten:

Meine erste Frage an ihn war:

Was bedeutet der Begriff Wissenschaftsschranke?

Unter Schranke versteht man im Urheberrecht eine Beschränkung des Rechts des Urhebers, d.h. eigentlich ist das Urheberrecht eine Art Eigentumsrecht. Und wenn sie ein bzw. Buch schreiben oder eine Komposition schaffen, dann stehen ihnen eigentumsgleiche Rechte zu, man spricht auch vom geistigen Eigentum, aber diese eigentumsgleichen Rechte, dass sie entscheiden, ob das Buch veröffentlicht wird, wer es vervielfältigen und verbreiten darf, ob es im Internet zugänglich gemacht wird (als E-book usw.). Diese eigentumsgleichen Rechte können unter bestimmten Umständen vom Gesetzgeber beschränkt werden, indem der sagt: Das Urheberrecht, dieses geistige Eigentumsrecht, umfasst bestimmte Befugnisse nicht, sondern an der Stelle wird es einem Nutzer erlaubt, das urheberrechtlich geschützte Werk ohne Genehmigung des Urhebers zu verwenden. Dann spricht man von einer Urheberrechtsschranke. Die bekannteste Schranke ist die Nutzung von Privatleuten, von jedem von uns, was jeder kennt: das sogenannte private Kopieren, private Vervielfältigen, dass ist wenn ich ein urheberrechtlich geschütztes Buch auf den Kopierer lege und ein paar Seiten kopiere, oder wenn ich mir von einer Musik-CD einen Track brenne, dann ist das durch eine bestimmte Vorschrift im Urheberrechtsgesetz § 53 erlaubt, und diese Vorschrift z.B. ist dann eine Urheberrechtsschranke. Und eine Wissenschaftsschranke ist eine Beschränkung des Urheberrechts, die speziell in den Bereichen Bildung und Wissenschaft greifen soll, und die das Ziel haben soll, den Zugang von Wissenschaftlern, aber auch Studenten und Schülern, zu bestimmten urheberrechtlich geschützten Werken zu erleichtern.

Das sind ja noch nicht alle Schranken. Welche Schranken gibt es noch im Bereich des Urheberrechts?

Die Schranken sind sehr vielfältig und unterschiedlich. Es fängt mit einer ganz „kleinen“ Schranke an, die aber eine große Bedeutung hat, das ist die Zitatschranke: Da muss jemand dulden, dass ein anderer sein Werk zitiert, z. T. ohne dass er ein Entgelt bekommt. Es gibt Schranken für die über Verwertungsgesellschaften ein Entgelt eingesammelt wird, und es gibt andere Beschränkungen, die entgeltlos erfolgen, z. B. eine wenig bedeutsame entgeltlose Schranke ist, dass in Gerichtsverhandlungen, wenn es notwendig ist, urheberrechtlich geschützte Werke in der Verhandlung vorgeführt werden dürfen, ohne dass der Urheber dafür ein Entgelt bekommt. Dann gibt es Schranken wie die Privatkopieschranke, die mit einem Entgelt verkoppelt sind, welches i. d. R. von Verwertungsgesellschaften eingesammelt wird (im Musikbereich die GEMA, im Textbereich die VG Wort, im Bildbereich die VG Bild Kunst für Fotos und Illustrationen), und es gibt daneben noch einen ganzen Bereich von Spezialschranken für den Wissenschaftsbereich. Darunter fallen z. B. Nutzungen in Intranets von Hochschulen, darunter fallen in Bibliotheken auch bestimmte Nutzungen, z. B. das Aufstellen sogenannter Lese-Terminals, in denen man Bücher zugänglich macht, die die Bibliotheksbenutzer nutzen dürfen, indem sie über diese Schranke Zugriff bekommen.

Was wäre das völlig Neue an der Wissenschaftsschranke für die Verlage?

Zurzeit wird diskutiert, eine allgemeine Bildungs- und Wissenschaftsschranke einzurichten. Was das genau ist, wissen wir solange nicht, bis wir vom Gesetzgeber eine konkrete Idee gemacht bekommen, wie er sich das vorstellt. Das dauert noch ein paar Tage oder Wochen, jedenfalls gibt es zurzeit noch keinen Gesetzentwurf. Aber diese allgemeine Bildungs- und Wissenschaftsschranke hat schon verschiedene Urheberrechtler zu Ideen, wie das aussehen könnte geführt, die sie bereits in Publikationen veröffentlicht haben. Dabei orientieren sich manche an dem Vorbild des angloamerikanischen Rechts. Insbesondere im amerikanischen Recht gibt es das sogenannte fair-use, also den fairen Gebrauch von urheberrechtlich geschützten Werken,  d. h. es gibt dort nur eine einzige Schranke für das gesamte Urheberrecht, etwas vereinfacht gesprochen, die heißt, dass der Nutzer einen fair-use des urheberrechtlich geschützten Werkes machen darf, was auch gesetzlich gestattet ist. So etwas schwebt manchen auch vor, die sagen: „Genau das muss eine allgemeine Bildungs- und Wissenschaftsschranke sein, nämlich: sie muss den Studenten, den Schülern, den Dozenten, den Forschern und den Bibliothekaren den fair-use ( fairen Gebrauch) urheberrechtlich geschützter Werke ohne eine gesonderte Genehmigung des Urhebers, und ohne eine Lizenzpflicht gestatten.“ Soweit eine Idee für eine allgemeine Wissenschafts- und Bildungsschranke.

Die andere Idee für eine Wissenschafts- und Bildungsschranke wäre nicht zu sagen, wir machen eine einzige Schrankenbestimmung, sondern wir gliedern die jetzigen sehr unübersichtlichen schwer verständlichen Vorschriften, die sich über das ganze Urheberrechtsgesetz verstreuen, bündeln sie an einer bestimmten Stelle zusammen, und versuchen sie klarer zu fassen, so dass die Nutzer in den Hochschulen, Bibliotheken und Schulen sich leichter orientieren können, was sie dürfen, und wo sie ohne den Kauf oder einen Lizenzerwerb oder eine Genehmigung etwas nicht nutzen dürfen.

In Ihren Ausführungen ging es bisher ja nur um die Nutzer. Dabei muss man die Urheber ja auch noch berücksichtigen. Ich selbst bin ja auch Autorin und ich möchte ja auch nicht immer so ohne weiteres zitiert werden, sondern ich möchte auch gefragt werden.

Das gibt man tatsächlich bei einer Schranke ab. Wenn der Gesetzgeber die Benutzung durch eine Schrankenbestimmung erlaubt, dann endet das Urheberrecht des Urhebers, das des Kreativen, in dem Moment, wo die Schranke beginnt, und d. h. er kann nicht verhindern, dass unter einer Schranke Gebrauch von seinem Werk gemacht wird. So kann es niemand verhindern, Sie auch nicht, dass Sie sagen: Mein schöner Beitrag hier für das Stadtradio: „Ich möchte aber nicht, dass ihn jemand privat für sich mitschneidet, und dann nochmals anhört.“ Das können Sie einfach nicht verhindern, weil es vom Urheberrechtsgesetz erlaubt ist, so zu handeln. Aber Sie haben schon recht, das große Thema, um das es bei dieser Diskussion, auch um die allgemeine Bildungs- und Wissenschaftsschranke geht, ist, der gerechte Ausgleich zwischen den Interessen des Nutzers und den Interessen des Urhebers. Wenn es gelänge, diesen gerechten Ausgleich zu schaffen, hätte man am Schluss etwas, was identisch wäre, denn primär hat auch der Nutzer ein Interesse daran, dass überhaupt der Urheber da ist, und dass es sich für ihn lohnt, das Werk zu schaffen, was für den Nutzer wiederum interessant ist zu nutzen. Das heißt der Nutzer will sehr wohl, dass die Bedingungen, die das Urheberrechtsgesetz vorgibt, für den Urheber einen Anreiz bieten – und auch für seine Partner, also z. B. die Verleger, die Sender, die Tonträgerhersteller, die Filmhersteller… – das es für sie alle lohnt, Inhalte herzustellen, die es z. B. Wert machen, dass man das Werk privat kopiert. Das will auch der Nutzer, aber der Nutzer hat manchmal auch Interessen, wo er sagt: „Ich habe jetzt keine Lust das Werk zu kaufen, denn ich will aus z. B. diesem Buch nur ein paar Seiten, aber ich möchte sie gerne im Intranet verbreiten, und ich möchte das jetzt einfach so können.“ Da genau fangen dann die Schwierigkeiten an, den gerechten Ausgleich zu treffen zwischen den berechtigten Interessen des Urhebers und dem für die Gesellschaft wichtigen Schutz des Anreizes für sein Schaffen, und den berechtigten Interessen des Nutzers, der einen Werkzugang haben will, vielleicht ohne aufwändig lizensieren zu müssen, oder ohne mit Anschaffungskosten belastet zu sein, die zu seiner Nutzung außer Verhältnis zu stehen scheinen.

Aber es gibt ja auch noch das Zitatrecht.

Das Zitatrecht deckt nicht alle Nutzungen ab, vor allem setzt das Zitatrecht erst einmal voraus, dass man selbst ein urheberrechtlich geschütztes Werk schafft, in dem man das Zitat aufnimmt. Wir haben es aber bei Nutzungen im Wissenschafts- und Bildungsbereich, die jetzt für die Wissenschaftsschranke interessant sind, eher mit konsumtiven Nutzungen zu tun. Das heißt jemand möchte nicht selbst ein Werk schaffen, und darin andere Werke zitatweise nutzen, sondern er möchte beispielsweise in seiner Unterrichtsgruppe ein Kapitel eines Lehrbuchs seinen 30 Mitseminaristen zugängig machen, und eher konsumtive Nutzungsregelungen sollen da getroffen werden.

Herr Professor Sprang, gäbe es tatsächlich durch  eine Wissenschaftsschranke eine große finanzielle Einbuße auf Seiten der Verleger? Damals als der Paragraph § 52a des Urhebergesetzes eingeführt wurde, sprach man auch vom Untergang des Schulbuches. Heute denkt man eher an den Untergang der Wissenschaftsverlage.

Na ja, Untergang ist immer etwas übertrieben, aber wir haben schon Anhaltspunkte dafür, dass die Einführung z. B. des §52a – das ist eine Regelung, die erlaubt es, in Hochschulintranets urheberrechtlich geschützte Werke ausschnittsweise zugänglich zu machen, ohne dass man um Genehmigung fragen muss bei einem nur sehr geringen Entgelt an eine Verwertungsgesellschaft. Da haben wir schon Fälle gesehen – einer ist Gegenstand eines großen Gerichtsverfahrens gewesen –  3 Psychologieautoren haben in einem Psychologieverlag oder in einem Philosophie- und Psychologieverlag ein Werk geschaffen, nach einem neuen Konzept, das hieß am Schluss „Meilensteine der Psychologie“. Irgendwann realisierte der Verlag, dass an der Fernuniversität Hagen – mit über 4500 Psychologiestudenten im Erstsemester – dieses Werk (91 Seiten davon) im Intranet eingestellt waren, und bekamen weiter mit, dass der Dozent den 4500 Studenten gesagt hatte: „Alle prüfungsrelevanten Teile dieses Buches ‚Meilensteine der Psychologie‘ findet ihr im Moodel , d. h. Im Hochschulintranet. Der Verlag konnte 1+1 zusammenzählen und einfach feststellen, dass er 4500 Käufer, oder potentiell jedenfalls über 100 Käufer losgeworden war, die sich sonst dieses Buch zugelegt hätten, weil dieser Dozent diese 91 Seiten – fast ein Drittel des Buches – über diese Intranetnutzungen den Studenten kostenlos und digital zugänglich gemacht hatte. An dieser Stelle stellt sich die Frage: Wo gehen Nutzungen so weit, dass sie nicht mehr unter eine Schranke fallen dürfen, weil der Primärmarkt zerstört wird?  … Stellen wir uns das extrem vor: Man dürfte alle Schulbücher an Schulen ohne Genehmigung des Verlages, und ohne Zahlung nutzen, es dürfte beliebig kopiert werden, beliebig in Schulintranets gestellt werden. Das Ergebnis wäre nach kurzer Zeit: Es gäbe keine Schulbuchverlage noch Schulbuchautoren mehr, weil die Investitionen, die diese treffen müssten, sich nicht mehr lohnen würden. Wer würde sich noch am Wochenende als Lehrer hinsetzen und am Schulbuch basteln, oder abends, und seine Familie vernachlässigen. Und welcher Unternehmer würde das Geld in die Hand nehmen, eine Redaktion zu beschäftigen, Layouter zu beschäftigen, alle möglichen anderen Leute zu beschäftigen, um das Produkt optimal rauszubringen, zu vermarkten, zu veredeln. Da fehlt dann komplett der Anreiz, und dann würde eine soweit geartete Schulbuchschranke einen Effekt haben, den keiner will, nämlich, dass es am Schluss keinen Urheber und keinen Verwertungspartner des Urhebers mehr gibt, der überhaupt solche Inhalte macht. Und dann hätte man irgendwann eine Situation, wo das ganze Internet ein Testbild wäre, weil niemand mehr, wenn alles im Internet frei wäre, das selbige bestücken würde, wenn sich das wirtschaftlich nicht lohnt. Deswegen geht es immer um diese feine Abwägung zwischen der zu weit gehenden Schranke, die prohibitiv in den Primärmarkt eingreift, den der Urheber hat und den seine Partner haben im Markt, und der berechtigten Schranke, die einen Zugang zu einem Werk in einer Konstellation erleichtert, wo man sagt: „Es gibt ein berechtigtes Interesse des Schülers, des Studenten, des Forschenden, jetzt dieses Werk leicht verwerten zu können, um beispielsweise der Schaffung weiterer wissenschaftlich relevanter Inhalte zu dienen.“ Und genau um diese schwierige Abwägung geht es.

Teilweise könnte doch die Zahlung des Kopierpfennigs das abfedern.

Das ist zwar richtig, dass man das natürlich nicht entschädigungslos machen darf, weil dann eine Art Enteignungssituation bei den Urhebern hätte. Aber auch der sogenannte Kopierpfennig, den sie ansprechen, oder die Vergütung für das private Vervielfältigen über die Verwertungsgesellschaften hat seine Grenzen, und zwar deswegen, weil nicht erfasst werden kann und wird, welche Werke kopiert werden. Wenn z. B. in einem bestimmten Zeitraum ihr Buch 10000 mal kopiert wird, und mein Buch 10 mal, wir aber exakt dasselbe von der Verwertungsgesellschaft bekommen, weil die nicht feststellen kann,  (das) Sie viel mehr bekommen müssten als ich, weil Ihr Werk mehr genutzt ist, dann merkt man natürlich, dass so eine pauschale Entschädigungsregelung auch nur eine Krücke ist, weil sie letztlich die Faulen und wenig markterfolgreichen privilegiert, auf dem Rücken der Fleißigen, Guten, Leistungsstarken. Wir brauchen aber ein Anreizsystem, wo gerade die, die die gute Leistung bringen, natürlich, wie das in der Marktwirtschaft so ist, dann auch Vorteile im Markt erreichen können. Insofern ist dieser Kopierpfennig (diese Pauschalabgabe) nur ein begrenzt eingreifendes Abgabe- und Kompensationssystem. Das macht irgendwann für die Gesellschaft auch keinen Sinn mehr, wenn es dazu führt, dass statt der nutzungs- und werkbezogenen Primärerlöse, die erzielt werden können, weil dort erfasst wird, was für ein Werk genutzt wird, so ein Regen erfolgt, jeder ein gleicher Tropfen, von irgendwelchen Pauschalsummen, die verteilt werden. Das kann nicht leistungsgerecht sein.

Kommen wir noch einmal auf die Wissenschaftsschranke zurück. Welche Punkte kritisieren Sie am meisten an den bisherigen Vorschlägen?

Bisher wie gesagt, gibt es noch keinen Gesetzentwurf des Ministeriums oder der Bundesregierung. Insofern kann man noch nicht konkret einen Vorschlag kritisieren. Es gibt verschiedene Ideen, die ich teilweise gut, teilweise weniger gut finde. Mich überzeugen die Ideen, wo z. B. bestimmte Kriterien berücksichtigt sind, dass bzw. ein angemessenes Lizenzangebot eines Verlages Vorrang hat vor der Nutzung durch eine Schranke. Das halte ich für eine sinnvolle Steuerung, wenn man das in einer Vorschrift vorsieht. Genauso finde ich es wichtig, dass man die Primärmarktbereiche ausnimmt, also Schulbuch und Lehrbuch. Das sind ja Bücher, die werden exakt für einen bestimmten kleinen Markt, der sehr abgegrenzt ist, hergestellt, mit hohen Kosten. Wenn man den Markt freigibt über eine Schranke, dann vernichtet man den Anreiz, für diesen Markt überhaupt zu arbeiten. Darum sollte es in diesen primärmarktrelevanten Bereichen eben solche Bereichsausnahmen geben, wie es sie jetzt im geltenden Recht jetzt schon für Schulbücher gibt. Da gibt es noch zwei oder drei weitere Kriterien, die aus meiner Sicht hilfreich und wichtig wären, wenn man über eine allgemeine Wissenschaftsschranke nachdenkt. Aber einen konkreten Entwurf, an dem jetzt schon mal man sich argumentativ auslassen könnte, den haben wir heute noch nicht.

Die vorgestellte Studie von Justus Haucap, Gerald Spindler u.a. anderen war ja nur aufgrund von Erhebungen der Bibliotheken erstellt worden. Die Verlage wurden ja nicht berücksichtigt.

Es war jetzt eher eine wirtschaftlich betonte Überlegung, welche volkswirtschaftlichen Auswirkungen die Ausweitung bestehender Schranken im Urheberrecht gerade in den Bereichen Wissenschaft, Forschung und Bildung hätte.  Diese Untersuchung hat in der Tat schon im Design gewisse Probleme, weil sie nur über die Bibliotheken spricht, und aus deren Sicht das ganze darstellt, und weil sie die Auswirkungen auf die Verlage nicht an Echtzahlen aus den Verlagen analysiert hat, und dann zu Aussagen kommt, die wahrscheinlich die meisten Verlage als nicht mit ihrer Wirklichkeit identisch einschätzen. Da kommt dann das vor, was man in Diskussionen über dieses Thema häufiger hat, … dass man aus verschiedenen Welten übereinander spricht, und nicht über die gemeinsame Welt, in der man eigentlich lebt. Und man muss in diesen Diskussionen immer versuchen hinzubekommen, dass man ein gemeinsames Verständnis des Marktes und der Wirklichkeit entwickelt, und dann auch der Auswirkungen, die bestimmte Regelungen haben werden. Das ist sicherlich ein Diskurs, der uns da aufgegeben ist, der nicht ganz ohne ist.

Herr Professor Sprang, Open Access als Veröffentlichungsform wurde während der Tagung auch angesprochen. Open Access ist ja nicht immer unbedingt frei und kostenlos. Es gibt zum Beispiel das Open Access Modell, bei dem der Autor einige tausend Euro bezahlt, damit das Werk Open Access veröffentlicht wird.

Open Access stehen wir grundsätzlich erst einmal liberal und offen gegenüber. Also Open Access per se ist nichts Verwerfliches, im Gegenteil. Für uns ist nur eines entscheidend: Der Urheber muss sich frei entscheiden können. Will er Open Access Veröffentlichungen oder hat er vielleicht jemanden der die Veröffentlichungsgebühren für seine Open Access Veröffentlichungen bezahlt, dann soll er es unbedingt tun. Und dann muss der Markt ihm die Angebote stellen, damit sich für ihn das Passende bietet. Da gibt es keine Diskussion, da ist überhaupt nichts gegen einzuwenden, wenn jemand sich entscheidet Open Access zu veröffentlichen. Problematisch wird es dann, wenn der Autor unter Zwang gesetzt wird. Open Access ist auch ein Eingriff in die Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit, die dem wissenschaftlichen Autor garantiert ist. Und problematisch wird das Open Access in dieser „grünen“ Spielart, wo man sagt: „Wir zwingen die Verlage nach einer gewissen Zeit bestimmte Beiträge zur Zweitverwertung freizugeben.“ Da nutzt man letztlich die von den Verlagen finanzierte Leistung umsonst aus. Da macht man den Sparefroh quasi als öffentliche Hand und sagt: „Ich habe zwar jetzt nicht das Geld, selbst diese Verlagsleistung zu erbringen, aber ich will sie schon umsonst nutzen“, und zwinge deswegen den Verlag dazu, diesen „grünen“ Weg freizugeben, und nach einer gewissen Zeit der Veröffentlichung die Zweitverwertung zu gestatten. Das ist, glaube ich, kein wirklich nachhaltiges Modell. Wenn man Open Access macht, wogegen nichts spricht, dann sollte es strikt dann Anwendung finden, wenn der Autor freiwillig diesen Weg wählt, – und das ist auch nicht das Schlechteste, wenn er das tut, sondern das sollte seine freie Option sein. … Diejenigen, deren Leistungen er weiter braucht  – Verlage o.ä. Organisationen, …  Navigation, Veredelung, Marketing, diese notwendigen Elemente – die sollen in jedem Fall, auch beim Open Access System für ihre Leistungen entgolten werden.

Bei normalen Sammelwerken sind einige Verlage darauf übergegangen, sich die Rechte exklusiv an den Artikeln einräumen zu lassen. Aber andererseits erlauben sie, dass der Autor seinen Artikel auch auf seine Homepage stellen kann. Wie ist das bei Open Access?

Es gibt im Bereich Open Access schon Ampeln, die rot, gelb und grün zeigen. und wo Open Access Policies, wie sie neudeutsch heißen, also die Open Access Lizenzstrategien von Verlagen im Wissenschaftsbereich nachlesbar sind. Es gibt Verlage, die sind liberal, und sagen: „Wir gestatten dem Autor , nach einem Jahr nach der Veröffentlichung in unserer Zeitschrift, dass er in der publizierten Form auf seiner Website oder auch in speziellen Repository-Websites, es nochmals zweitverwerten darf. Das sind die Verlage, bei denen oft die Halbwertszeit des Inhaltes sehr knapp ist. Das heißt es ist so aktuelle Forschung, dass das ein Jahr nach der Veröffentlichung schon im Wesentlichen seinen Wert so eingebüßt hat, dass es nicht mehr den Primärmarkt gefährdet. In anderen Bereichen (z. B. in philologischen Bereichen), ist die Halbwertszeit wesentlich länger von Beiträgen in Zeitschriften, und da wird man eher Verlage finden, die entweder gar nicht gestatten, oder nur gestatten nach einer geraumen sogenannten Embargofrist, oder auch zusammen mit einer Auflage, nicht die zitierfähige publizierte Version zu nehmen, in die der Verlag investiert hat. Insofern ist das von Bereich zu Bereich, von Verlag zu Verlag verschieden, und kann auch noch zwischen dem Urheber und dem Verlag individuell geregelt werden. Es gibt wie gesagt Websites, die dokumentieren, wie die Verlage grundsätzlich zu dem Thema stehen, aber es ist immer möglich, dass sich Verlag und Autor auf anderes verständigen.

Sie haben vorhin die Verwertungsgesellschaften erwähnt. Es wäre es schön, wenn Sie noch kurz etwas zu dem Vogel-Urteil sagen würden.

Das hat eigentlich nur mittelbar mit den Wissenschaftsschranken zu tun. Das ist eine Entscheidung, die der Bundesgerichtshof am 21. April dieses Jahres (2016) getroffen hat, in einem Rechtsstreit, wo um die Frage gestritten wurde: Darf … die VG Wort, das von ihr aus gesetzlichen Vergütungsansprüchen, d. h. als Entgelt für Schrankennutzung wie Privatkopie, Bibliothekstantieme usw., eingenommene Geld, wie sie es bisher taten, nach ihren Verteilungsplänen unter Verlag und Autor aufteilen, oder unter Autor und Verlag – das ist seit 1958 die hergebrachte Praxis bei der VG Wort – oder – so hat (es) der klagende Autor Martin Vogel mit seiner Klage erreichen wollen – ist ein pauschaler Abzug zugunsten der Verlage von diesen Erlösen nicht zulässig. Darüber hat der Bundesgerichtshof aus verschiedenen Gründen entschieden, insbesondere auch, weil es ein Europäisches Gerichtshofs-Urteil gab (im November 2015, nicht lange her), wo anhand eines belgischen Gesetzes der Europäische Gerichtshof gesagt hat: „Verleger sind nicht Rechtsinhaber. Das ist nur der Autor  und deswegen entsteht ihnen gar kein Schaden durch so eine Schrankenregelung, und deswegen steht ihnen auch kein gerechter Ausgleich dafür zu“. Das ist etwas, was man aus Sicht von Verlagen gar nicht nachvollziehen kann. .. Eine Privatkopie erfolgt ja nicht am Manuskript des Autors, sondern am verlegten Werk. Und Autoren und Verlage haben schon genau gewusst, dass sie das lieber gemeinsam machen wollen, das gesamte Geschäft einschließlich der Wahrnehmung dieser Schrankenentgelte. Und es sieht jetzt so aus, als sollte sowohl auf nationaler Ebene als auch auf europäischer Ebene diese Rechtsprechung  – dieses Vogel-Urteil des Bundesgerichtshofs und dieses Urteil des Europäischen Gerichtshofs – korrigiert werden. Aber bis das korrigiert ist – solche Korrekturen dauern bei der Gesetzgebung immer länger – gilt jetzt das als bindendes Recht. Und es gilt nicht nur derzeit, heute und morgen, sondern es gilt vor allem auch rückwirkend, weil sich das auf Zeiträume der Vergangenheit erstreckt. Das führt jetzt dazu, dass die Verwertungsgesellschaften z. B. VG Wort, die strikt an Recht und Gesetz gebunden ist, die jetzt durch das Vogel-Urteil weiß, dass ihr Verteilungsplan, den sie seit 1958 anwendet, rechtswidrig ist, das sie diesen Verteilungsplan nicht mehr anwenden darf in der Zukunft, und dass sie Ausschüttungen an Verlage auf Grund dieses Verteilungsplans, der ja rechtswidrig war, soweit es geht zurückholen muss. Und es gilt, soweit die Rückholungsansprüche nicht verjährt sind.  Und damit stehen die VG Wort, die VG Bild Kunst, die GEMA und die VG Musikedition – alle Verwertungsgesellschaften , die Ausschüttungen für gesetzliche Vergütungsansprüche an Verlage gemacht haben – jetzt in der Situation, dass sie sich diese Gelder, die sie von 2012 – 2015 an die Verlage ausgeschüttet haben, von denen zurückholen müssen. Das heißt für viele Verlage, dass sie jetzt mit Rückforderungen konfrontiert sind, die locker 200%, 300%, 400% ihres jährlichen Renditeerlöses – der bei Verlagen sehr oft schmal ist – entsprechen, und die Verlage in existenzielle wirtschaftliche Schwierigkeiten bringen. Wir haben schon die ersten Insolvenzfälle gesehen, und die Rückforderungsschreiben sind eigentlich gerade erst rausgegangen, und die Fälligkeit der Rückforderung ist noch gar nicht erreicht. Also da muss man jetzt fürchten, dass dieses überraschende Urteil dazu führt, dass dutzende Verlage wirtschaftlich nicht mehr weiterkönnen, und damit aber natürlich auch viele Autoren ihre verlegerische Heimat verlieren. Und die anderen Verlage, die irgendwie noch die Rückzahlung bewältigen, müssen natürlich in ihren nächsten Kalkulationen – solange die gesetzgeberische Korrektur der Urteile nicht da ist – sich überlegen: „Wo spare ich das Geld ein, das ich jetzt von den Verwertungsgesellschaften nicht bekomme.“ Da die Autoren ja dieses Geld jetzt bekommen, das bisher die Verlage bekommen haben, liegt es nahe zu überlegen, ob es nicht eine Umverteilung z. B. beim Primärhonorar ist. Da würde letztlich – wenn jetzt nicht die schnelle Korrektur kommt –  dieser eigentlich in der Verwertungsgesellschaft erfolgreich und harmonisch seit Jahren beigelegte Streit „Wie verteilen wir die Erlöse von Werken?“ jetzt völlig neu aufbrechen und neu geführt werden, und das ist sicherlich nicht sinnvoll, und deswegen setzen wir darauf, dass wir zu diesem System –  das wir einvernehmlich seit 1958 – Urheber und Verlage (z. B. VG Wort)  praktizieren (die GEMA noch wesentlich länger) zurückfinden werden mit Hilfe des Gesetzgebers.

Soll die Prozentzahl für die Verlage dann verringert werden?

Ich glaube am Schluss sind das kommunizierende Röhren. Man kann nicht sagen: „Na gut, Ihr kriegt noch wieder was, aber nicht mehr 50%, nicht mehr 30%, sondern nur noch 25% oder 15%“, denn das würde nur dazu führen, dass der Verlag dann sagt: „Okay, in der Kalkulation des Werkes kann ich dann auch, z. B. bei der Vorschusshöhe, dem Autor nicht mehr das geben, was ich ihm bisher gegeben habe, weil sich das jetzt nicht mehr rechnet in der Werkkalkulation“, und dann hätte letztlich der Autor einen sicheren Vorschuss, den er bisher hatte, verloren, und hätte ungewisse Zweitverwertungseinnahmen, die er von dem VG Wort oder anderen Verwertungsgesellschaften bekäme. Das ist auch nicht im Sinne des Autors. Insofern hoffe ich – ohne dass man es sicher sagen kann – dass es letztlich bei diesem althergebrachten System, auch was die Höhe der Anteile (in der Regel erhält der Autor 70%, der Verlag 30%, in manchen Bereichen 50%/50%), bleiben wird.

© Ingeborg Lüdtke

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Sendetermin:20.11.2016 um 9 h im StadtRadio Göttingen

LINK zum anhören der Sendung:

http://www.stadtradio-goettingen.de/beitraege/kultur/interview_zum_urheberrecht_mit_christian_sprang_boersenverein_des_deutschen_buchhandels/index_ger.html

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Buchmesse 2016 – Impressionen

Heute ist der zweite Tag der Frankfurter Buchmesse. Ich komme gut per Bahn in Frankfurt an.

Auf dem Weg vom Bahnhof zur U-Bahn höre ich Geigenmusik. Der Künstler hat einen auffallend langen weißen Bart. Er spielt klassische Musik. Leider bin um diese Uhrzeit dafür noch nicht empfänglich.

Niemand drängelt in der U-Bahn. Niemand stiehlt mir meine Brieftasche samt Gutschein für die Eintrittskarte und hebt dann in kürzester Zeit 900,- € von meinem Konto ab. Inzwischen kennt man den Namen des international tätigen Diebes. Da sein Wohnsitz nicht bekannt ist, wurde das Verfahren nach über einem Jahr eingestellt.

Softwaremodule für Verträge und Honorare

Mein erster Weg führt mich zur Triagon Software GmbH. Da wir eine Werbe-E-Mail erhalten haben, schaue ich mir die Module für Verträge und das Honorar an. Die Module bieten viele Vorteile, die ich bei der Anwendung unserer Firmensoftware vermisse. Obwohl der Projektbetreuer am Stand von Anfang an weiß, dass ich nicht entscheidungsbefugt bin, lerne ich viel über das Programm und ganz nebenbei werden mir auch Fragen beantwortet, die ich mir schon immer zum Thema Verlagssoftware gestellt habe. Es ist ein sehr nettes und ehrliches Gespräch.

Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, ist dass ich während des Gespräches eine E-Mail von einem mir bekannten Rechtsanwalt und Verleger erhalte, der mir vorschlägt, uns gemeinsam das Programm anzusehen. Leider lese ich diese E-Mail erst am Abend.

Der Bergsteiger Reinhold Messner läuft am Stand vorbei. Seit über 35 Jahren sehe ich ihn auf der Buchmesse. Es gibt nur wenige Frankfurter Buchmessen, auf denen er mir nicht über den Weg gelaufen ist.

Das VG Wort Urteil

Die VG Wort bietet auf der Agora (Platz vor Halle) in der Open Stage eine Veranstaltung zum Thema „Das VG Wort Urteil – Aktuelle Entwicklungen und Konsequenzen für Verlage“ an.

Open StageIch verlasse die Halle 4. Es nieselt und es ist draußen ungemütlich. Glücklicherweise habe ich meinen Schlauchschal nicht an der Garderobe abgegeben. Unter „Open Stage“ hatte ich mir allerdings nicht vorgestellt, dass der Veranstaltungsort zur Hälfte offen ist. Während ich nach einem nicht so zugigen Platz suche, fällt mein Blick auch eine weiße Kiste mit roten Decken. Eine davon hänge ich mir um. Vor mir steht eine Stehheizung. So ist es wenigsten von vorne warm.

Prof. Dr. Christian Sprang von Börsenverein, Dr. Robert Staats  von der VG Wort und Wolfgang Schimmel von der Gewerkschaft Verdi stellen ihre Standpunkte vor.

Die VG Wort wurde 1958 mit dem Ziel gegründet, dass Verleger und Autoren an den Erlösen beteiligt werden. Bis 2002 habe es auch in der Anwendung nie Diskussionen darüber gegeben. Durch das neue Urhebergesetz sei es dann erstmals zur Forderung gekommen, dass nur Autoren an den Erlösen zu beteiligen wären. Das Urheberrecht sei korrigiert worden, um deutlicher zu machen, dass Autoren und Verlage Nutznießer sein sollten. Der Autor Martin Vogel habe geklagt und die Richter hätten diesmal anders entschieden (21.4.2016) und die Verteilungsprämie als ungültig erklärt. Nur wer die Rechte einbringen würde, könne auch beteiligt werden. Allerdings habe man nicht über die abgeleiteten Rechte gesprochen. Das EuGH hätte allerdings nicht gesagt, dass die Verlage überhaupt nicht an den Erlösen beteiligt werden dürften. Die eigentliche Frage müsse sein: Wie hoch ist die Verteilung an die Autoren und Verleger?

Zurzeit bekämen weder die Autoren noch die Verlage einen Anteil. Die Rückzahlungsforderungen der VG-Wort hätten begonnen. Dadurch kämen einige Verlage an den Rand ihrer Existenz. Man versuche auf dem schnellsten Weg eine Korrektur des Urteiles zu erwirken. Man  habe dem Justizministerium Vorschläge für eine Übergangslösung unterbreitet. Eventuell käme eine nationale Urheberrechtsregelung in Frage.

Die Gewerkschaft Verdi wolle nicht aus Prinzip eine Verlegerbeteiligung, akzeptiere aber das Gründungsprinzip der VG Wort: Autoren und Verleger einigen sich auf einen bestimmten Bonus. Der Kompromiss müsse innerhalb der VG Wort getroffen werden und nicht vom EuGH. Dies könne Probleme bringen.

Der Dt. Börsenverein des Buchhandels und Verdi verstehen sich als Interessensvertreter, die gemeinsam nach außen auftreten wollen. Dies schaffe eine andere Position, als wenn jeder nur die eigenen Interessen vertreten würde. Man wolle gemeinsam mit der Politik versuchen den Urstand der Verteilungen wieder herzustellen.

Fragen zu Navision 2015

Bei KNK treffe ich mich mit zwei für unsere Firma zuständigen Mitarbeiter. Ich lasse mir die Standardanwendung des Honorar- und Lizenzabrechnungsmodules zeigen. Ich bin gespannt, ob ich diese Tipps umsetzen kann oder ob mir noch einige Dinge eingerichtet werden müssen. Tatsache ist, dass unsere IT-Abteilung auch individuelle  Programmierungen vorgenommen hat.

Fragestunde zu Bildrechten

Da ich noch etwas Zeit vor dem nächsten Termin habe, begebe ich mich wieder in Halle 4.1. Es ist sehr voll an einigen Ständen und ich versuche auf Umwegen die bisher noch nicht angesehenen Gänge zu erreichen. Plötzlich höre eine Stimme, die meinen Namen nennt. Es ist Beate Brüggemann-Hasler vom ZB MED – Leibniz-Informationszentrum Lebenswissenschaften in Köln. Eigentlich hoffte ich, sie auf der Urheberrechtstagung in drei Wochen zu treffen. Ich freue mich sie heute schon zu sehen.

Vor dem Raum „Consens“ in Halle 4.C treffe ich Ilona Raiser von der Dt. Bibelgesellschaft und umarme sie spontan. Letztes Jahr habe ich ihr den Tipp mit der Bildrechtfragestunde gegeben. Auch auf die Verlegerin Reinhilde Ruprecht treffe ich hier wieder. Wir werden uns insgesamt dreimal treffen. Auch Ilona Raiser treffe ich zu meiner Freude später noch einmal.

Der  Raum „Consens“ ist noch belegt. Anke Simon vom Börsenverein kommt kurz vor die Tür und bittet noch um etwas Geduld. Auch sollen wir dem Referenten sagen, dass er schon eintreten solle. Außer mir scheint ihn aber keiner zu kennen. Wenig später trifft der Referent und  Rechtsanwalt Dr. Adil-Dominik Al-Jubouri ein. Ich richte ihm aus, dass er eintreten darf.

Während der Fragestunde hat Dr. Al-Jubouri heute viele Fragen zu beantworten. Einige lauten:

Wo muss man die Quellenangabe bei einem kleinen Teaser anbringen?

Muss auf einer Verpackung auch die Bildquelle genannt werden?

Muss im Copyright das Erscheinungsjahr angeben werden?

Sollte man eine Art Beschwichtigungsformel in der Bildquellenangabe aufnehmen, die besagt, dass man den Urheber nach gründlicher Recherche nicht auffinden konnte und ihn auffordern sich zu melden?

Soll man ein Bildzitat immer nur in schwarz-weiß verwenden?

Sind Google-Earth-Bilder Bildzitate?

Kann ich ein Bild ungefragt 1:1 täuschend abmalen?

Wie ist die rechtliche Situation bei markenrechtlich geschützten Symbolen auf dem Cover (Bild und Text) wir z.B. die Olympischen Ringe?

Müssen die Autokennzeichen verpixelt werden?

Ist ein Sprayer-Kunstwerk urheberrechtlich geschützt?

Muss ich das Haus-und Eigentumsrecht beachten, wenn  ich ein Foto von einer Skulptur verwenden will, deren Lizenz abgelaufen ist?

Im Vorbeigehen aufgespießt

Da ich nun etwas Zeit bis zum nächsten Termin habe, schaue ich mich in den Hallen 3 und 4 um.

Der Autor und ehemalige niederländische Fernsehmoderator Adriaan van Dis  stellt auf einer Bühne sein Buch „Das verborgene Leben meiner Mutter“ vor. Er sagt gerade: „Schreiben Sie sich eine neue Mutter.“

Auf der Bühne der Kulturstation LITCAM geht es um das Thema Motor/Reise- und Mobilitätsjournalismus. Herbert von Halem interviewt Per Schnell, Prof. Dr. Hektor Haarkötter und Michael Müller. Es gäbe kaum noch einen Fleck auf der Erde, der noch nicht touristisch erschlossen sei. Dazu beigetragen hätten die Reisejournalisten. Dies wird aber etwas wehmütig ausgesprochen. Voraussetzungen für einen erfolgreichen Reisejournalismus seien:

Man müsse die Sprache des Landes beherrschen.

Man sollte möglichst unabhängig von außen sein, wie zum Beispiel von Reiseagenturen.

Man solle den Willen haben, das Land kennen zu lernen.

Man müsse bereit sein, monatelang unterwegs zu sein.

Man müsse schreiben und fotografieren können

Man sollte einen gutverdienenden Lebenspartner haben.

Auch solle die Leidenschaft für die Arbeit vorhanden sein, dann würde man nicht wegschauen, wenn man Negatives sähe.

An einem Stand lese ich: „Sie lügen wie gedruckt. Wir drucken ihre Lügen.“

Am Stand der Deutsche Bibelgesellschaft spricht der Kirchenpräsident Volker Jung von der Religiosität des Fußballtrainers Jürgen Klopp.

In zwischen schmerzen meine Füße und ich habe Hunger. So setze ich mich vor die Halle 4.2. Hier gibt es einige Lederhocker. Hinter mir sitzt ein junger Korrespondent, der in London lebt. Er spricht keine Sendungen mehr. Er hält zu seinen Kollegen per Internet Kontakt. So kommt es vor, dass er Tage lang kaum mit jemanden spricht. Einsamkeit ist ein Thema für ihn. Vielleicht ist das der Grund, weshalb er so viel für alle hörbar mit der Frau hinter mir spricht.

Wieder zu neuem Leben erwacht, begebe ich mich zurück in Halle 4.1. Am 3-Sat-Stand wird das Autorenehepaar Herfried und Marina Münkler interviewt. Sie haben das Buch „Die neuen Deutschen“ geschrieben. Der österreichische Moderator Ernst A. Grandis fragt sie, was man tun müsse, um Deutscher zu werden. Herfried Münkler antwortet, dass er schon einmal die wichtigste Voraussetzung erfüllen würde, da er Deutsch spräche. Er sagt später noch, dass die Einwanderung auch eine Chance sei zu hinterfragen, was wir sind und was wir wollen.

Es sind noch wenige Minuten bis am Stand des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht das jährliche Autorentreffen stattfindet. Ich beschließe noch etwas zu warten und setze mich in die Nähe der Rolltreppe vor Halle 3.1. Ein Kamerateam kommt vorbei, gefolgt von dem deutschen Philosophen, Kulturwissenschaftler und Buchautor Peter Sloterdijk. Peter Sloterdijk geht Hand in Hand mit einer reiferen Blondine hinterher.

Als ich dann beim Vandenhoeck-Stand zum Autorentreffen ankomme, ist es sehr voll. Die Geschäftsführerin Carola Müller spricht gerade von dem Zusammenschluss mit dem Böhlau-Verlag. Anschließend gibt es noch freundliche Worte von den Seniorverlegern Dr. Peter Rauch (Böhlau) und Dr. Dietrich Ruprecht (Vandenhoeck). Dann darf mit Sekt angestoßen werden.

Die chinesische Praktikantin und ich machen uns stattdessen auf den Weg zum Bahnhof. Der Geiger mit dem weißen Bart, der heute morgen Klassik spielte, packt gerade seine Geige ein.

Wir haben noch etwas Zeit. Der Zug fährt früher ein, so brauchen wir nicht in der Kälte zu stehen. Da wir beide müde sind, schlafen wir etwas. Irgendwie höre ich zwar, dass Göttingen die nächste Station ist, aber ich reagiere erst, als wir schon in den Bahnhof einfahren. Da wir beide kein großes Gepäck bei uns haben, stehen wir noch rechtzeitig auf.

© Ingeborg Lüdtke

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Göttinger Widerstand im Nationalsozialismus: neue Website

Neues Göttinger Rathaus

Neues Göttinger Rathaus

Im Auftrag der Stadt Göttingen hat der Historiker Dr. Rainer Driever sich mit den verschiedenen Widerstandsformen (religiös, politisch, Einzelpersonen) in Göttingen zur Zeit des Nationalsozialsozialismus beschäftigt und in den Archiven geforscht.

Nun hat er seine Ergebnisse auf der Webseite des Göttinger Stadtarchivs vorgestellt:

http://www.stadtarchiv.goettingen.de/widerstand/frames/fr_abschliessende-betrachtungen.html

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Tagung: Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam 1939-1945

HannoverDie Stiftung niedersächsische GedenkstättenGedenkstättenförderung Niedersachsen lädt zur Tagung „Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam 1939-1945“ nach Hannover ein.

Die Tagung fand vom 14. bis 16. Oktober 2016 statt.

Tagungsort und Unterkunft: Hotel Amadeus, Fössestraße 83, 30451 Hannover

Programm der Tagung Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam 1939-1945

 

 

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FORUM Religion im Dialog (Uni Göttingen): Zeugen Jehovas

FORUM Religion im Dialog an der Universität Göttingen ist „für eine Gesellschaft frei von Vorurteilen, Misstrauen und Ignoranz. Die Dialogveranstaltungen sind offen sind für alle, Gläubige und Nichtgläubige.“

Am Donnerstag, den 21.4.2016 lud das „FORUM Religion im Dialog“ die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas ein.

WIlfried Voigtländer u. Holger Brandt

WIlfried Voigtländer u. Holger Brandt

Die beiden Referenten Wilfried Voigtländer und Holger Brandt wurden von Monia Bode und David Keller unterstützt. Sie untermauerten all ihre Aussagen mit einem Bibeltext.

Dreizehn der insgesamt  25 Zuhörer waren keine Jehovas Zeugen. Überwiegend waren es jüngere Personen, die sich über die Religionsgemeinschaft unverbindlich informieren wollten.

Die Veranstaltung wurde in drei Programmteile unterteilt: Die Vorstellung der Glaubenslehren u.a. anhand von im Vorfeld eingereichter Fragen, Jehovas Zeugen und die Bluttransfusionen und ein allgemeiner Fragenteil.

Vorstellung der Glaubenslehren

Zeugen Jehovas  würden die ganze Bibel als Gottes Wort betrachten. Die entsprechenden Bibeltexte seien 2. Timotheus Kapitel 3 Vers 16 (2. Tim 3:16) und 2. Petrus  1:20,21. Die Mitglieder der Zeugen Jehovas kämen aus verschiedenen Kulturkreisen  und es gäbe hunderte von Sprachen unter ihnen. Als gemeinsames Ziel verbände es sie, dass sie Jehova (Name ihres Gottes) ehren möchten (1. Petrus 2:12).

Im Alltagsleben versuche man so gut wie möglich Jesus Christus nachzufolgen (2. Petrus 2:21). Christen genannt zu werden, sei eine Ehre (Apg. 11:26).

Vom Königreich predigen

JW.ORG

JW.ORG

Der Auftrag Jesu sei es bis zum entferntesten Teil der Erde zu predigen (Apostelgeschichte 1:8). Ein weiterer Auftrag sei es, Jünger aus allen Nationen zu machen und zu lehren (Matthäus  24:14; 28:19,20). Dies sei heute per Internet (jw.org) und den eigenen TV-Kanal (http://tv.jw.org/#de/home) noch besser möglich.

Der Wunsch sei es, die Menschen für die Bibel und Gottes Königreich zu begeistern (Matthäus 6:9,10; 10:7) und von Gottes Königreich zu erzählen bzw. Zeugnis abzulegen.

Name Gottes JHWH

JHWH - Tetragrm

JHWH – Tetragram

Als Zeuge Jehovas sei man ein  „Zeuge für Gottes Namen“, so wie dies in Jesaja 43:10,11 und Apostelgeschichte 15:14,17 gezeigt werde. Heute wisse man nicht mehr, wie der Name Gottes ausgesprochen werde. Belegt sei das Tetragramm JHWH (JHVH) (https://de.wikipedia.org/wiki/JHWH) .Da der Name Jehova in Deutschland schon eine lange Tradition habe, spräche man den Namen Gottes mit Jehovas aus.

Das Königreich Gottes zweigeteilt

Es gäbe das „himmlische Leben“ in dessen Genuss nur 144.000 Personen kämen. Diese würden in der Zukunft mit Jesus Christus als Könige für 1000 Jahre über die Erde regieren (Offenbarung 14:1-3; 20:6).

Auf der Erde hätten die Menschen die Aussicht ewig in einem Paradies leben können (Lukas 23:42,43; Offenbarung 21:3,4).

Tod

Wenn der Mensch stirbt, sei er ohne Bewusstsein (Psalm 146:4; Prediger 9:5).

Kein Teil der Welt

Sich getrennt von der Welt zu halten, bedeute, dass man z.B. politisch neutral bliebe. Dies würde auch zu Hass und Verfolgung führen (Johannes 15:19,20; 17:15,16).

Anwendung biblischer Ratschläge im täglichen Leben

Zeugen Jehovas sind nicht vollkommen, aber sie versuchen die biblischen Ratschläge in allen Lebensbereichen anzuwenden. (2. Timotheus 3:16,17; Hebräer 4:12)

 

Jehovas Zeugen: Religiöser und ethischer Standpunkt

 Holger Brandt erklärte, dass Jehovas Zeugen das Leben lieben und deshalb auch alle vernünftigen Anstrengungen unternehmen würden, um lange zu leben. Sie seien auf hochwertige medizinische Versorgung bedacht und würden die allermeisten Behandlungsmethoden akzeptieren.

Sie lehnten Bluttransfusionen ab. Niemand könne mit Sicherheit sagen, dass ein Patient sterben werde, weil er eine Bluttransfusion ablehne  — oder dass er überleben werde, weil er sie akzeptiere.

Ablehnung der Bluttransfusion ist biblisch begründet

Die Ablehnung von Bluttransfusionen sei biblisch begründet. Der erste Hinweis befände sich in 1. Mose 9:4  (Luther 1964). Noah sei das Gebot nach der Sintflut gegeben worden:  „ …essen alles Fleisch nicht mit seinem Blut, in dem sein Leben ist“. Dies sei keine Speisevorschrift,  sondern ein sittlicher Grundsatz.

Dies sei in das Jüdische Gesetz übernommen worden: 3. Mose 17:11:  „Denn des Leibes Leben ist im Blut“.

Das Blut sei gleichgesetzt mit Leben. Wenn Blut ein Lebewesen verlasse, solle es zur Erde ausgegossen werden. Es würde gleichsam dem Schöpfer zurückgegeben  (5. Mose 12:16)

Für Christen sei dies Gesetz übernommen (Apostolisches Konzil  um das Jahr 49 u.Z.)worden: Apostelgeschichte 15:29  „ …dass ihr euch enthaltet … Blut …“

Besonders in der Ärzteschaft gäbe es das Leitprinzip „Das Leben ist des Menschen sein höchstes Gut“.

Jehovas Zeugen würden aber sagen, dass das Verhältnis zu Gott das  „höchste Gut“  sei. Sie würden von einem Arzt nicht erwarten, dass er ihre Wertvorstellungen teile, bzw. verstehe, aber dass er sie respektiere.

Bevor jemand ein Zeugen Jehovas werde, müsse er Glaubensimperativ sich des Blutes zu enthalten zustimmen.

Kinder und Bluttransfusionen

Eine besondere Situation ergäbe sich bei Kindern. Das Elternrecht nach Artikel 6 (2) GG (Grundgesetz) schließe auch den Lebens- und Gesundheitsschutz für die Person des Kindes ein.

Eltern, die sich für eine Behandlung ohne die Verwendung von Blutprodukten für ihr Kind entscheiden würden, gefährdeten nicht zwangsläufig das  „Kindeswohl“. Bluttransfusionen bürgen auch  Gefahren in sich.

Der Staat habe ein Wächteramt.  Ein Gericht könne dem Arzt eine Genehmigung zur Verabreichung einer Bluttransfusion erteilen.

Habe der Arzt  sorgfältig alle verfügbaren und geeigneten Transfusionsalternativen angewandt, räume § 34 StGB „Rechtfertigender Notstand“ dem Arzt die Möglichkeit ein, im Notfall Bluttransfusionen auch gegen den Willen der Eltern und ohne Gerichtsbeschluss zu verabreichen.

Jehovas Zeugen respektierten diese Rechtslage.

Grundlegende Haltung zu Fremd- und Eigenblut

Die Übertragung der Hauptbestandteile des Blutes Erythrozyten, Leukozyten, Thrombozyten oder Blutplasma würde nicht akzeptiert. Jeder Zeuge Jehovas treffe aber in Bezug auf die Verwendung von Hämoglobin, Hämin, Interferone, Albumin, Gerinnungsfaktoren, Fibrinogen und Immunglobuline seine eigene Gewissensentscheidung.

Die Wiederzufügung von Eigenblut nach vorheriger Abnahme würde nicht akzeptiert, da dies aus dem Körper ausgelagert sei und die Lagerung  5. Mose 12:16 wiederspräche, das Blut auf die Erde auszugießen.

Eine normovolämische Hämodilution (Blutverdünnung), Dialyse, Herz-Lungen-Maschine, und die Blutrückgewinnung würden von vielen akzeptiert, aber jeder müsse seine eigene Gewissensentscheidung treffen.

Organspende und Transplantation:

Während Blutgenuss in der Bibel ausdrücklich verboten würde, gäbe es kein biblisches Gebot, über die Aufnahme von Gewebe oder Knochen eines anderen Menschen.

Organtransplantation und Organspende seien eine persönliche Entscheidung. Diese Gewissensentscheidung träfe auch auf Vorzellen (Retikulozyten) zu.

 

Patientenverfügung

Üblicherweise trügen Zeugen Jehovas eine Patientenverfügung bei sich, in der sie ihre Ablehnung eine Bluttransfusion zu erhalten darlegten, sowie ihre persönliche Ansicht zur Verwendung von Blutbestandteilen.

In Deutschland könne man in der Patientenverfügung  auch eine Person als Bevollmächtigte in Gesundheitsfragen einsetzen, der für den Patienten die medizinische Entscheidung träfe, wenn dieser nicht mehr ansprechbar sei und seinen Willen nicht darlegen könne.

 

Alternativen zu Fremdbluttransfusionen 

Eine Methode sei es, das Erythrozythenvolumen vor der OP zu optimieren. Das Mittel Erythropeitin (EPO) sorge für  keine schnelle Anhebung des HB-Wertes, deshalb sei es wichtig früh mit der Behandlung zu beginnen.

Der Blutverlust bei einer OP müsse minimiert werden.

Die Anwendung von Gerinnungsmitteln [Anmerk.: normale Gewinnung aus  Blutfraktionen, können inzwischen auch synthetisch hergestellt werden], die aus dem Blutplasma (Hauptblutbestandteil) gespalten und damit aktiviert würden, wäre Entscheidung des einzelnen Zeugen.

Die großzügige Gabe von Sauerstoff (O2) sei von elementarer Bedeutung und  für fast alle Zellen in biologischen Geweben wichtig.

Fazit

Pro Jahr müssten ca. 3.000 Patienten (Zeugen Jehovas) in den  USA einer medizinischen Behandlung unterziehen, darunter gäbe es nur  250 – 275 größere Operationen.

Es gäbe weder  längere Krankenhausaufenthalte, noch eine höhere Sterblichkeit bei einer Behandlung ohne Blut zu verzeichnen.

 

Krankenhausverbindungskommitees

Zeugen Jehovas hätten weltweit Krankenhausverbindungskomitees (ca. 1700 in 110 Ländern)  aufgestellt.

Sie sollen das  Verständnis zwischen Patienten und ihren Ärzten verbessern.

„Mitglieder des Krankenhausverbindungskomitees“  gingen in die Krankenhäuser, sprächen  Ärzte an und fragten, ob diese bereit seien bei Zeugen Jehovas-Patienten Behandlungsalternativen  zu Fremdblut anzuwenden.

Einige Ärzte dokumentieren ihre Bereitschaft und könnten so im Bedarfsfall als Ansprechpartner genannt werden.

Das ärztliche Gewissen würde individuell dokumentiert.

Zu den Aufgaben des Krankenhausverbindungskomitees gehöre es auch, Ärzte mit aktuellen Fachartikeln renommierter medizinischer Zeitschriften zu versorgenArzt-Arzt-Konsultationen mit Spezialisten zu vermitteln oder auch Präsentationen vor Ärzten, Ethikkommissionen oder Juristen zu halten.

Krankenbesuchsgruppen

Versammlungsälteste, die am Ort des behandelnden  Krankenhauses wohnten, würden sich um die seelsorgerische Betreuung der Patienten kümmern.  Wenn nötig sorgten sie auch für eine Übernachtungsmöglichkeit für Angehörige.

Allgemeiner Fragenteil

Wie stellen Sie sich den Tod vor, als Schlaf?

Ja, wie Schlaf ohne Bewusstsein. Die Bibel spräche nicht von einer unsterblichen Seele.

Die 144.000 würden sterben und würden mit einem geistigen Leib auferweckt.

Es gäbe eine  Auferstehung der Toten (1 Korinther 15:13, Johannes 5:22,28).

Wie ist der Umgang mit Fleisch und dem Blut von Geschlachtetem? Achten Sie darauf, dass das Fleisch „koscher“ und „halal“ ist?

Es gibt keine besonderen Vorschriften. Ob jemand Fleisch esse, sei seine persönliche Entscheidung. Es könne nicht jeder Tropfen Blut ausgepresst werden. Das biblische Gebot sei, das Blut zur Erde auszugießen.[Anmerk.: 5. Mose 12:16 Nur das Blut sollt ihr nicht essen. Auf die Erde solltest du es ausgießen wie Wasser.] Mit diesem Gebot sei aber bereits klar, dass noch immer etwas Blut im Fleisch enthalten sei, auch wenn es ausgeblutet sei.

Wie reagieren die Ärzte in Bezug auf Informationen zu alternativen Behandlungsformen, die statt einer Bluttransfusion eingesetzt werden können?

 In letzter Zeit seien die Ärzte dankbar für die Informationen. 80 % seien aufgeschlossen und 20 % dagegen.

Kein Teil der Welt zu sein? Wie ist die Beziehung zu der Welt?

Zeugen Jehovas bekleiden keine politischen Ämter, hetzten nicht gegen die Regierung und machen keine Propaganda gegen Parteien.

Jeder Zeuge Jehovas entscheide selbst, ob er zur Wahl ginge und einem Kandidaten eine Stimme gäbe oder nicht. Allerdings würde er dies im Sinne seiner Funktion als „Gesandter  an Christi statt“ (Christus sei der inthronisierte himmlische König)  entscheiden (Wachtturm vom 1.11.1999 S. 28-29 Fragen von Lesern:  Wie betrachten Jehovas Zeugen das Wählen?). Von Gesandten würde erwartet, neutral zu sein; sie mischten sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Länder ein, in die sie gesandt würden.

Im Kindergarten, in der Schule, im Sportverein und in der Nachbarschaft hätte man Kontakt zu Andersgläubigen.

Es sei eine persönliche Entscheidung, ob man im Elternrat, im Betriebsrat oder als Klassensprecher tätig sei.

Wie oft kommen Sie zusammen?

Zweimal die Woche. (Es würde ein Video über eine Zusammenkunft im Königreichsaal gezeigt.)

Geht jeder von Haus-zu-Haus?

Jeder Zeuge Jehovas gehe unterschiedlich lange in den Dienst und auf unterschiedliche Weise, dies hänge auch von dem Gesundheitszustand des Einzelnen ab.

Hat sich eine Wandlung in Bezug auf die Blutfrage und Transplantationen vollzogen?

Eine Zuhörerin bemerkte, dass sich anscheinend eine Änderung in Bezug auf die Sicht zu Bluttransfusionen Organtransplantationen vollzogen hätte. Ihr sei ein Fall einer Hamburger Asiatin bekannt, die von Zeugen Jehovas betreut worden wäre. Bedingt durch eine Krankheit wäre es nach Ansicht der Ärzte nötig geworden, dass sie eine Transplantation und Bluttransfusion erhalten müsse. Die Zeugen hätten sie so beeinflusst, dass sie dann Abstand davon genommen hätte. Später habe sich ihre Ansicht geändert und sie wollte eine Transplantation mit Bluttransfusion akzeptieren. Die Zeugen hätten sie daraufhin fallen gelassen.

Den Referenten war dieser Fall nicht bekannt. Die Fragestellerin konnte nicht alle Fakten darlegen. Es blieb unklar, ob es sich tatsächlich um eine Zeugin Jehovas gehandelt habe oder ob diese nur Interesse an der Lehre der Zeugen Jehovas bekundet hätte. Auch konnte nicht nachvollzogen werden, welche Umstände zur Akzeptanz der Organtransplantation Bluttransfusion im Nachhinein führten oder was es genau bedeutete, dass „sie fallen gelassen wurde“.

Bei Wilfried Voigtländer und Holger Brandt ging die Frage nach der geänderten Ansicht über Transplantationen unter. [Anmerk.: Die Zeugen Jehovas sprachen sich früher gegen eine Transplantation aus, weil diese zum einen ohne Bluttransfusion nicht möglich war, außerdem waren einige Zeugen der Meinung, dass es eine neuzeitliche Form des Kanibalismus wäre. Seit Jahrzehnten ist eine blutlose Transplantation auch eine Entscheidung des einzelnen Zeugen Jehovas. Siehe Leserfrage vom  15. 6.1980 Wachtturm S. 31]  Sie antworteten nur auf die Frage bezüglich der Bluttransfusion. Sie machten klar, dass jeder, der ein Zeuge Jehovas werden möchte, keine Bluttransfusion akzeptieren könne. Wenn er dies nicht akzeptieren würde, würde er nicht zu Taufe zugelassen.

Würde ein Zeuge Jehovas, der von Ärzten oder anderen Personen unter Druck gesetzt würde, eine Bluttransfusion akzeptieren, würde er nicht automatisch aus der Religionsgemeinschaft ausgeschlossen. Es käme auf die Sicht des Zeugen zur Bluttransfusion an. Wolle er weiterhin den Zeugen Jehovas angehören und denke, seine Entscheidung sei falsch gewesen, würde er von den Ältesten weiterhin betreut. Würde er aber kein Zeuge Jehovas mehr sein wollen, würde dies auch akzeptiert. Er habe aber die Chance, wieder aufgenommen zu werden, wenn er seine Meinung ändern würde.

Ausgeschlossene würden von den Ältesten einmal im Jahr angesprochen, wenn sie es gestatten würden. Man ginge für solche Gespräche sogar in Gefängnisse.

Fragen, die schon vorher eingereicht wurden

Sind Jehovas Zeugen tolerant gegenüber anderen Religionen?

Ja, Jehovas Zeugen sind tolerant gegenüber allen Religionen  (Matthäus 7:12, 1. Petrus 2:17)

Eine Vertreterin der jüdischen Kultusgemeinde bat mit Hinweis auf die lateinische Bedeutung des Wortes Toleranz (tolerare: erdulden, ertragen)  darum, dass man nicht von Toleranz,  sondern von Akzeptanz (laccipere:  gutheißen, annehmen, billigen) sprechen solle. Wilfried Voigtländer und Holger Brandt sprachen sich für das Wort Respekt (respecto : zurücksehen, berücksichtigen) aus.

Gehen Zeugen Jehovas von Haus zu Haus, um ihre Rettung zu verdienen?

Nein, das sei nicht möglich, da die Rettung durch das Loskaufsopfer Jesu Christi möglich geworden sei. Durch Gottes unverdiente Güte Gottes sei es möglich ewiges Leben zu erlangen.

Warum feiern Jehovas Zeugen keinen Geburtstag und kein Weihnachten?

Dies sei kein biblisches Gebot. Es gäbe nur zwei Bibelverse, die von Geburtstagsfeiern berichten. Beide Feiern wurden nicht von Anbetern Gottes begangen. Es wurde bei beiden Feiern jeweils ein Person hingerichtet (1. Mose 40:18-22; 1. Mose 41:13; Matthäus 14:6-11; Markus 6:21-28).

Jesus habe nirgendwo geboten, seinen Geburtstag zu feiern (Lukas 22:19, 20).

Die Apostel und die ersten Jünger Jesu hätten kein Weihnachten gekannt. In dem Werk Religion in Geschichte und Gegenwart hieße es: „Christi Geburtstag als liturgische Feier am 25. 12. ist erstmals im röm. Chronographen von 354 bezeugt“. Weiter würde dort erklärt, „begann Rom in der Ära Konstantins … das Natalis Christi““ oder die Geburt Christi zu feiern.

Es gäbe keinen Beleg dafür, dass Jesus am 25. Dezember geboren wurde. An welchem Tag Jesus zur Welt kam, sage die Bibel nicht.

Weihnachten habe seine Wurzeln in heidnischen Bräuchen (Weihnachtsbaum, Geschenke und Riten und sei daher nach dem Bibelverständnis der Zeugen Jehovas für Gott nicht akzeptabel (2. Korinther 6:17).

Warum feiern Jehovas Zeugen kein Ostern?

Dem Osterbrauchtum fehle die biblische Grundlage.

Jesus habe geboten, jährlich an seinen Todestag zu erinnern, nicht an seine Auferstehung. Man gedenke jedes Jahr feierlich seines Todes an dem Tag, an dem er gemäß dem biblischen Mondkalender starb (Lukas 22:19, 20).

Viele Osterbräuche hätten ihren Ursprung in alten heidnischen Fruchtbarkeitsriten. Man könne sich nicht vorstellen, dass Gott dies gutheißen würde, zumal sie auch Elemente aus der Verehrung anderer Götter enthalten würden (2. Mose 20:5; 1. Könige 18:21).

Abschluss der Veranstaltung

Die Forums- Veranstaltung war bis 20 h angesetzt. Da aber um 20 h schon andere Veranstaltungen begannen, verließen einige Zuhörer schon früher den Raum. Da eine Zuhörerin aus Zeitdruck ihre Fragen nicht mehr stellen konnte, blieben diese unbeantwortet.

(C) Ingeborg Lüdtke

Wilfried Voigtländer ist am 13.10.2023 verstorben.

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Siehe auch:

Fragen von Leser, Wachtturm vom 15.10.2000

Akzeptieren Jehovas Zeugen irgendwelche kleinen Blutfraktionen?

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Führung: KZ Moringen am 4. März (Bericht)

Freitag, 4. März 2016, 14.00 Uhr

Öffentliche Führung zu den Zeuginnen Jehovas im Frauen-KZ Moringen mit Jakob Fesca

KZ Gedenkstätte Moringen S760>Rechtzeitig komme ich beim Torhaus der KZ-Gedenkstätte Moringen an und so habe ich noch genügend Zeit, um einen Blick in die Räume der KZ-Gedenkstätte zu werfen.

Vor ca. 14 Jahren war ich das letzte Mal im Torhaus, denn meist besuchte ich danach die Veranstaltungen in der Stadthalle oder in den Räumen der ehemaligen Kommandantur (Maßregelvollzugszentrum Niedersachsen – Moringen). Es hat sich viel in den Räumen der Gedenkstätte geändert.

Damals wirkte der größere Raum im Erdgeschoss dunkel und gedrungen auf mich. Der Raum war vollgestellt mit den Stellwänden der Ausstellung „Wir hatten noch gar nicht angefangen zu leben“, Stuhlreihen und dem riesigen Modell des ehemaligen KZ Moringens.

Ich bin angenehm überrascht, heute an dieser Stelle zwei helle und modern ausgestattete Büroräume vorzufinden. So können di e Mitarbeiter in Ruhe zu forschen.

Arne Droldner von der KZ-Gedenkstätte Moringen, Jakob Fesca (FSJ freiwilliges soziales Jahr

(c) Edmund Kolowicz

(c) Edmund Kolowicz

Politik) und einige mir unbekannte Teilnehmer der Führung befinden sich bereits im ersten Büro.

Noch bevor ich mich in die 1. Etage in die Bibliothek begebe, treffen weitere Teilnehmer ein. Ich sehe einige mir bekannte Gesichter.

Geschichte des Wegsperrens

Wir versammeln uns vor dem Parkplatz der Moringer Stadthalle. Wir sind ca. 26 Teilnehmer.

Nach der Begrüßung erklärt uns Jakob Fesca, wo sich das Gelände des KZ Moringen

befand. Das KZ Moringen umfasste nicht nur den großen Häuserkomplex des ehemaligen Waisenhauses mit den roten Backsteinhäusern, sondern es gab auch noch ein Barackenlager. Dieses erstrecke sich zwischen der Langenstraße und der Mannenstraße.

Wir gehen durch die heutige Straße „Waisenhausmauer“ und befinden uns somit auf dem Gelände des ehemaligen Barackenlagers. Linkerhand steht die Kapelle, in der anfangs noch Gottesdienste für die Inhaftierten stattfanden.

Jakob Fesca berichtet uns über die Geschichte des „Wegsperrens“:

Von 1732-1818 befand sich in dem alten Gebäudekomplex des heutigen Maßregelvollzugszentrum Niedersachsen – Moringen ein Waisenhaus. Im Anschluss daran gab es bis 1838 darin eine Straf- und Korrekturanstalt und bis 1871 das Polizeiliche Werkhaus. Als Provinzial-Werkhaus wurde es danach bis 1944 benutzt. Parallel dazu gab es dort die 3 Konzentrationslager: Das Männer-KZ (April- November 1933), das Frauen-KZ (Sommer 1933-1938) und das Jugend-KZ (1940-1945). Ab 1945-1951 diente es den Alliierten als DP-Camp (desplaced Persons). Gleichzeitig wurde es bis 1966 als Landeswerkhaus genutzt. Seit 1966 wurde hier das Landeskrankenhaus untergebracht, dass inzwischen in das Maßregelvollzugszentrum Niedersachsen – Moringen übergegangen ist.

Auch heute ist das „Maßregelvollzugszentrum Niedersachsen – Moringen“ mit einem Gitterzaun umgeben. Durch das Gitter kann man aber auch einen Blick auf die dahinterliegenden Gebäude werfen.

Ehemalige Kommandantur

Wir gehen nun zur ehemaligen Kommandantur (oder auch ehemaliges Waisenhaus genannt) ehemalige Kommandanturund steigen die steile Treppe zum Eingang hinauf. Im Vorraum steht

Modell KZ Moringen

Modell KZ Moringen

heute, dass riesige Modell des ehemaligen Konzentrationslagers.

An den Wänden sind große Informationstafeln über die verschiedenen Abschnitte der Geschichte dieses Gebäudes aufgehängt.

Es ist geplant den Eingangsbereich der ehemaligen Kommandantur neu zu gestalten.

Früher war es bei Führungen nicht immer möglich die Kommandantur zu betreten. Mit viel Glück erhielt der Leiter der Führung den Schlüssel zum Vorraum, damit die kleine Ausstellung über das KZ gezeigt werden konnte. Bei der ersten von mir besuchten Führung über die drei Moringer Konzentrationslager konnten wir auch einen Blick in den Keller werfen. Dies war nur möglich, weil dort ein öffentlicher Basar stattfand.

Inzwischen wurde der KZ Gedenkstätte in der ehemaligen Kommandantur ein fester Raum für Veranstaltungen zur Verfügung gestellt.

Vom Vorraum aus gehen wir durch die rechte Glastür. Die Tür wird hinter uns abgeschlossen. Wir begeben wir uns über die Treppe nach oben.

(c) Gedenkstätte Moringen

(c) Gedenkstätte Moringen

Hier in dem Veranstaltungsraum waren früher KZ-Häftlinge untergebracht. Nichts in diesem hellen großen Raum erinnert uns mehr an das Leid der ehemaligen Häftlinge. Es ist für mich kaum vorstellbar, dass in einem solchen Raum einmal 70-80 Frauen den ganzen Tag lang an einem großen Tisch gesessen haben. Da sie keine Stühle mit Lehnen hatten, saßen immer zwei Frauen Rücken an Rücken. Die hintere sitzende Frau war die sogenannte „Lehne“. Da die Frauen anfangs nicht arbeiten mussten, konnten sie noch Handarbeiten machen. Eine Zeit lang wurden die Frauen für Näharbeiten für das Winterhilfswerk herangezogen. Da diese Kleidung für die Soldaten gedacht war, haben die Zeuginnen Jehovas diese Arbeit abgelehnt.

Appellplatz

Der tägliche Hofgang auf dem Appellplatz brachte etwas Abwechslung in den monotonen Blick auf den ehemaligen AppellplatzTagesablauf der Frauen.

Von dem Veranstaltungsraum aus können wir auf den ehemaligen Appellplatz sehen, der noch heute von den Patienten für einen kleinen Spaziergang benutzt wird.

Ein Blick von oben auf Appellplatz ist etwas anderes, als wenn man direkt auf dem ehemaligen Appellplatz steht. Bei der damaligen Führung durfte unsere kleine Gruppe durch das Gittertor auf den Appellplatz gehen. Wir standen dort einige Minuten schweigend mit einem mulmigen Gefühl. Im Geist sahen wir die Häftlinge ihre Runden um die Bäume ziehen.

Power-Point-Präsentation

Jakob Fesca hat für uns eine Power-Point-Präsentation mit Schwerpunkt der Opfergruppe „Zeugen Jehovas“ vorbereitet. In der NS-Zeit hat es ca. 25.000 Zeugen Jehovas gegeben. Davon wurden ca. 11.300 Zeugen inhaftiert. Von den ca. 1.500 Zeugen, die ihr Leben verloren wurden rund 370 durch Hinrichtung ermordet.

Jacob Fesca weist als Besonderheit dieser Opfergruppe auf den großen Zusammenhalt der Frauen hin.

Wir sehen zwei Luftbilder von dem ehemaligen KZ-Komplex, ein Foto von dem Appellplatz und ein Foto der Kommandantur. Ein Foto zeigt Hugo Krack, der dort von 1930-1954 in verschiedenen Positionen tätig war: Von 1930 bis 1944 als Werkhausdirektor und Direktor des Frauen-KZ und von 1948 bis 1954 als Landeswerkhausdirektor.

Handarbeiten und Tagesablauf

 Aus einem Karton holt Jakob Fesca nun einige Exponate von Handarbeiten hervor, die die Frauen in Moringen angefertigt haben.

Wir erfahren etwas über den Tagesablauf der im Frauen-KZ untergebrachten Frauen und sehen einen Speisezettel. In der Theorie liest sich alles sehr schön, doch wie reichhaltig die Speisen tatsächlich waren erfahren wir nicht.

Verbringung in die KZ Lichtenburg, Ravensbrück und Sachsenhausen

 Ein Deutschlandplan zeigt, wo es überall Konzentrationslager und Außenlager gegeben hat.

Die Zeuginnen Jehovas wurden 1937/38 in das KZ Lichtenburg deportiert. Es lag nordöstlich von Leipzig bei Torgau an der Elbe. 1939 kamen sie in das neuentstehende Frauen-KZ Ravensbrück.

Auch Maria Chrupalla war unter den Frauen, die in das KZ Ravenbrück kamen. In Moringen wurde sie am 11. Januar 1935 eingeliefert. Laut dem Stolperstein wurde sie am 6. Februar 1942 in der Tötungsanstalt Bernburg ermordet.

Eine weitere Folie handelt von Erna Ludolph. Sie kam erst Ende 1939 nach Moringen. Auf der Suche nach einem Bettplatz, fand sie erstaunlicherweise ein freies Bett im Saal. Später merkte sie, dass über ihr ein Loch war und es manchmal hereinschneite. Von ihrer Mutter erhielt sie ein Paket mit einer Bibel. Da die Aufseherin durch das Telefon abgelenkt wurde, konnte sie die Bibel verbotenerweise an sich nehmen. Diese Bibel begleitete sie über das KZ Lichtenburg auch nach Ravenbrück. Erna Ludolph überlebte.

Ein weiterer Stolperstein ist dem Zeugen Jehovas Jonathan Stark gewidmet. Er kam Anfang 1944 in das Jugend-KZ Moringen. Im Herbst 1944 wurde er in das KZ Sachsenhausen verschleppt .Am 01.11.1944 wurde er im Alter von 18 Jahren durch den Strang wegen Kriegsdienstverweigerung hingerichtet.

Wir verlassen nun wieder die ehemalige Kommandantur und bleiben kurz vor der Hinweistafel am Treppenaufgang stehen. Auch wenn sie noch das nicht korrekte Wort „Jugendschutzlager“ enthält, ist sie ein wichtiger Hinweis auf die drei Moringer Konzentrationslager.

Gräberfelder

Wer möchte, kann nun noch die Gräberfeld auf dem städtischen Friedhof in Moringen

Gräberfelder Zwangsarbeiter

Gräberfelder Zwangsarbeiter

besuchen. Für Gehbehinderte besteht die Möglichkeit mit dem Auto gefahren zu werden.

Die Gräberfelder für verstorbene Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene bzw. Displaced Persons befinden sich ziemlich am Anfang des Friedhofes auf der linken Seite.

Vor einem Gedenkstein bleiben wir stehen. Wir lesen: „Zum Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Moringen.“ Dahinter liegt das Gräberfeld der Toten des Jugend-KZ.

Auch hier hat sich die letzten Jahre etwas verändert: Das Gräberfeld war früher an der linken Seite durch Bäume begrenzt. Doch nun ist es von allen Seiten sichtbar und zugänglich.

Jacob Fesca steht neben dem Gedenkstein für die Opfer der nationalsozialistischen

Grabstein Hugo Krack (c) Edmund Kolowicz

Grabstein Hugo Krack
(c) Edmund Kolowicz

Gewaltherrschaft. Er macht uns darauf aufmerksam, dass schräg gegenüber das Grab von dem Lagerleiter Hugo Krack liegt. Es ist verwildert und mit Efeu zugewachsen. Von seinem Namen kann man nur noch die Buchstaben AC klar erkennen.

Jakob Fesca sagt in seiner offenen unbefangenen Art mit der KZ-Vergangenheit in Moringen umgehend, dass Hugo Krack ein Nazi war.

Hugo Krack trat am 1. Mai 1933 in die NSDAP und im Herbst 1933 in die SA ein. Er ist sicherlich nicht mit den Lagerkommandanten der

Gräberfelder Jugend-KZ

Gräberfelder Jugend-KZ

großen Konzentrationslager zu vergleichen. Er selbst hat niemanden getötet, aber er hat sich durch seine Führungsberichte am Tod einiger Opfer mitschuldig gemacht. Seine Beurteilungen führten dazu, dass einige Frauen in weitere KZs eingeliefert wurden und z. B. über das KZ Lichtenburg nach Ravensbrück gelangten, wo sie zu Tode kamen.

Mir war bisher unbekannt, dass das Grab von Hugo Krack in unmittelbarer Nähe der Gräber der NS-Opfer und Zwangsarbeiter liegt.

Es ist schon etwas seltsam, dass im Tod „Opfer und Täter“ so dicht bei einander begraben liegen.

Die Pflege der Grabstätten könnte nicht gegensätzlicher sein: Das Grab des Täters vergessen und verwildert und die Gräber der Opfer gepflegt und öffentlich sichtbar.

Rückweg und Verabschiedung

Wir kehren über die Mannenstraße wieder zurück zum Parkplatz der Moringer Stadthalle.

hier wohnte der Lagerarzt Dr. Otto Wolter-Pecksen

hier wohnte der Lagerarzt Dr. Otto Wolter-Pecksen

Unterwegs kommen wir an einem lila gestrichenen Haus vorbei. Hier wohnte früher der Lagerarzt Dr. Otto Wolter-Pecksen . Auch er war Mitglied der NSDAP und der SA. Einerseits setzte er sich für gefolterte KZ-Insassen ein, andererseits wird vermutet, dass er dem Direktor des Werkhauses Vorschläge für Zwangssterilisierungen unterbreitete.

Bei der Stadthalle verabschieden wir uns von Arne Droldner und Jakob Fesca. Wir sind sehr angetan von der Präsentation seines FSJ (freiwilliges soziales Jahr)- Projektes und seiner freundlichen und ernsthaften Art.

Im Sommer wird es eine weitere Führung zur Opfergruppe der Zeugen Jehovas geben.

(c) Ingeborg Lüdtke

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Der Bericht von Jacob Fesca über die Veranstaltung kann nachgelesen werden unter:

https://www.facebook.com/moringenmemorial/

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