Noah Klieger – Gesprächssplitter

Noah Klieger 11.4.2014 Mittelbau DoraDie Sendung wurde am  26. April 2014 um 10h und 21 h im StadtRadio Göttingen ausgestrahlt.

Noah Klieger hielt stellvertretend für die jüdischen Häftlinge am 11.April.14 eine bewegende Ansprache in der rekonstruierten Baracke der KZ Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Anlässlich des 69. Jahrestages der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora war er zum wiederholten Mal zurückgekommen. Zurückgekommen an den Ort, wo er Unmenschliches sehen und erleiden musste.

Noah Klieger ist kein gebrochener Mann. Er spricht voller Überzeugung. Seine Stimme ist immer noch sehr kraftvoll. Obwohl das Mikrophon vier Mal ausfällt, kann man ihn  hinten in den letzten Reihen der Baracke auch ohne Mikrophon verstehen. Noah Klieger erzählt klar, verständlich und flüssig. Seine Worte sind gut gewählt, hin und wieder blitzt sein Humor hervor.

Trotz seiner 88 Jahre ist er immer noch als Journalist tätig. Obwohl er körperlich inzwischen etwas gebrechlich wirkt, ist sein Verstand hell wach. Das Denken hat Noah Klieger sich nie verbieten lassen.

So lange er lebt, wird er seine Meinung äußern, solange er Worte dafür findet.

Allerdings gibt er zu, dass es keine Worte dafür gibt für das, „was er an Grausamkeiten erlebt hat. Manches könne man nicht mit menschlicher Sprache schildern.“

Selbst wenn man Worte finden würde, würde man sie auch begreifen?

Noah Klieger erklärt: „Erzählen kann man, aber nicht begreifen kann es niemand. Es gibt keinen Menschen, der sich in die Lage versetzen kann. Es gibt keinen Menschen, der so was begreifen kann.“

Noah Klieger erzählt bei Zeitzeugengesprächen vor unterschiedlichen Zuhörergruppen oft über die Umstände, wie er ins KZ kam. Er hat sich mit 15 Jahren einer jüdischen Widerstandgruppe in Frankreich angeschlossen:

Noah Klieger wird 1942 von der Gestapo verhaftet. Er kommt zuerst in das belgische  SS-Sammellager Mechelen und wird später nach Auschwitz gebracht. Als die „Rote Armee“ naht, wird er auf einen der Todesmärsche geschickt und kommt bereits unter den grausamsten Bedingungen in Dora an.

Waggon Mittelbau-DoraZehn Tage dauert die Bahnfahrt von Gleiwitz bis zum KZ Mittelbau-Dora bei Nordhausen. In einem Waggon sind ca. 150 Häftlinge untergebracht.  „Wir konnten noch nicht mal stehen, … die Schwächeren  … sind einfach umgekippt und wir standen auf ihnen“, sagt Noah Klieger. Wenn der Zug stoppte, mussten sie die „Leichen in andere Waggons schleppen“. Die Waggons wurden wieder gefüllt.  „Es gab viel mehr Tote als Lebende und die lagen also in Schichten in den Waggons und wir saßen auf ihnen“.

Noah Klieger wird bei seiner Ankunft im KZ Mittelbau-Dora bei Nordhausen  im Kinosaal untergebracht. Bei der Registrierung gibt er sich als französischer politischer Gefangener aus. Gleich am nächsten Tag werden Feinmechaniker gesucht. Er meldet sich, obwohl er keine Ahnung davon hat. Er muss eine Prüfung anlegen. Besteht er sie nicht, wird er gehängt.

Noah Klieger hat Glück. Er entgeht dem Tod durch Erhängen. Ein französischer Häftling verschafft ihm zweimal die Lösungen für die Prüfung. Er besteht die Prüfung  als Bester und er wird Vorarbeiter.

Noah Klieger ist sich die ganze Zeit bewusst, das sein Leben an einem seidenen Faden hängt.

Er verrät niemandem, dass er Jude ist und entgeht so dem sichern Tod.

Einige Tagen später müssen die jüdischen Häftlinge gesondert antreten und ca. 1500 Juden wurden abtransportiert. Später  erfährt Noah Klieger, dass sie per LKW nach Ellrich gebracht und getötet werden. Die Leichen werden im Krematorium im KZ-Mittelbau-Dora verbrannt.

Noah Klieger berichtet über die Arbeitsbedingungen und die Verpflegung im Stollen des KZ Mittelbau-Dora:

Stollen heute„Die Zustände im Stollen waren etwas besser als, das heißt der Häftlinge in dem Stollen, waren besser als im übrigen Lager. Wir hatten einen sogenannten Stollenzuschuss. Wir bekamen ein Brot am Tag und konnten auch mittendrin in der Arbeit. Wir arbeiteten zwar 2x  Mal 12 Stunden. Konnten uns aber ab uns zu mittendrin ausruhen“.  Die Häftlinge versuchen so wenig wie möglich zu arbeiten.

Noah Klieger arbeitet zwei Monate im Stollen und wird dann am 4. April 1945 wieder auf einen Todesmarsch geschickt. Er marschiert 10 Tage durch den Harz und kommt zum KZ Ravensbrück bei Fürstenberg an Hier wird er am 29. April von der „Roten Armee“ befreit.

Noah Klieger hat in den KZ Auschwitz, Mittelbau-Dora und Ravensbrück viele Grausamkeiten gesehen und erlebt. Auf die Frage „Wie man damit fertig wird?“, antwortet er: „Man wird überhaupt nicht damit fertig“. Er sei nach 2 Jahren im KZ Auschwitz zwar etwa gestählt gewesen,  „aber man kann sich an solche Zustände ja gar nicht gewöhnen“. Wenn er heute über seine Erlebnisse berichtet, kommt es ihm manchmal so vor, „ als ob ich die Geschichte von jemand, von anderen Leuten erzähle, als es nicht meine eigene wäre“. Ihm ist heute noch unvorstellbar, wie es passieren konnte, dass sich „Menschen so erniedrigen, um andere Menschen so zu quälen? …“.

Trotz allem hat Noah Klieger keine Hassgefühle. Er gibt den heutigen Deutschen auch keine Schuld daran. Er kann nur nicht verstehen, dass ihm vor 30-49 Jahren „Deutsche …  erzählen wollten, sie hätten davon nichts gewusst“, da es doch fast in jeder Stadt und jedem Dorf Lager gegeben hätte.

Museumsgebäude Mittelbau-DoraADie Dauerausstellung der KZ Gedenkstätte Mittelbau-Dora beschäftigt sich auch mit den Deutschen, die in der Umgebung der Lager gewohnt haben und den Häftlingen nicht halfen.

Dr. Jens-Christian Wagner, der Leiter der KZ Gedenkstätte Mittelbau-Dora bei Nordhausen  zeigt auf, welche Fragen in der Ausstellung gestellt werden:

„Was war die Motivationsstruktur erstens Häftlingen feindselig gegenüber zu treten, zweitens das NS-System tatsächlich bis zum letzten Tag weitgehend zu stützen? Das sind Fragen, die meines Erachtens einen starken Aktualitätsbezug haben, denn es geht ja zum Teil um mentale und auch politische gesellschaftliche Strukturen von heute. Diese können zwar nicht direkt mit dem Nationalsozialismus verglichen werden, aber es gibt gewisse Ähnlichkeiten. Nehmen wir nur den Rassismus, der natürlich ein wesentlicher Beweggrund gewesen ist Häftlingen gegenüber feindselig aufzutreten. Einen latenten, häufig auch einen aggressiven Rassismus erleben wir auch heute noch. Das sind meines Erachtens Fragen, die sehr viel stärker geeignet sind einen Aktualitätsbezug zu heute herzustellen, als sich in KZ-Gedenkstätten mit dem Völkermord in Ruanda auseinander zu setzten. Wir geraten da sehr schnell in die Gefahr ein singuläres Verbrechen zu relativieren.“

Langfristig werden sich die KZ Gedenkstätten mit der Frage beschäftigen müssen, wie man Gedenkarbeit ohne Zeitzeugen gestaltet.

Politikerreden und Kranzniederlegungen machen wenig Sinn, wenn auch die Besucher den Gedenkveranstaltungen fern bleiben. Viele der heutigen Besucher kommen, um diejenigen zu treffen, die wirklich die Grausamkeiten in den KZ´s erlebt haben.

Schon heute verweigern sich einige Schüler aus den umliegenden Orten zu Gedenkveranstaltungen zu kommen, obwohl die Zeitzeugen auch zu persönlichen Gesprächen zur Verfügung stehen.

Wie kann man den künftigen Generationen die weitgreifenden grausamen Auswirkungen des Nationalsozialismus näherbringen, ohne die Geschichte abstrakt werden zu lassen?

Eine einheitliche Methode gibt es nicht. Jeder Mensch wird anders innerlich berührt. Es müssen verschiedene neue Formen der Erinnerung gesucht oder bewährte Formen ausgeweitet werden.

Noch leben viele Zeitzeugen. Nutzen wir die kostbare Zeit, sie zu befragen.

Und deshalb: Danke Noah Klieger! Danke für das Gespräch!

© Ingeborg Lüdtke (Text der Sendung leicht aus rechtlichen Gründen leicht  gekürzt)

Text- und Data-Mining: Ich behalte mir eine Nutzung aller Inhalte dieser Webseite für kommerzielles Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Bilder: Mit freundlicher Genehmigung der KZ Gedenkstätte Mittelbau-Dora

Interviewsplitter: Sie entstammen aus 2 Interviews (von mir + der KZ Gedenkstätte Mittelbau-Dora), die an einem Tag geführt wurden. Die Auszüge aus dem Interview über die KZ Gedenkstätte Mittelbau wurden mit freundlicher Genehmigung der KZ Gedenkstätte zur Verfügung gestellt.

Veröffentlicht unter Allgemein, KZ Auschwitz, KZ Außenlager Ellrich, KZ Mittelbau-Dora, NS-Geschichte | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Noah Klieger spricht zum 69. Jahrestag der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora

Mittelbau-DoraVor fünf Jahren nahm ich das letzte Mal an der Gedenkfeier zur Befreiung des KZ Mittelbau-Doras bei Nordhausen teil.  Ist das wirklich schon solange her? Anscheinend schon, denn die Autobahn 38 nach Leipzig ist durchgehend befahrbar. Kein zeitaufwändiges Fahren durch die Dörfer. Auch  in Nordhausen hat sich einiges geändert. Der Bahnübergang von Werder auskommend hat eine Unterführung erhalten. Ich habe nun keine Orientierung mehr, wie ich früher zur KZ Gedenkstätte Mittelbau-Dora gefahren bin und folge den Hinweisschildern.  Sie führen mich über einen sehr langen Umweg  an mein Ziel.

 

Gäste

Die Gäste sind mit Großraumtaxen, Busse und Autos angereist. Ein externer Parkplatz Mittelbau-DoraSicherheitsdienst weist die Parkplätze zu. Der gutgelaunte Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes ist wohl der Meinung, ich setze zu schwungvoll zurück.  Er gibt mir eilfertig Zeichen, dass der Abstand in Ordnung sei.

Auch die Polizei ist auf dem Gelände präsent. Heute wird neben der lokalen politischen Prominenz auch Prof. Dr. Thomas Deufel erwartet. Er ist Staatssekretär im Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur.

rekonstruierte BarackeNun gehe ich die Stufen zur rekonstruierten Baracke hinauf. Ein Fernsehsender ist gerade dabei die Kameras auszurichten. In der Eingangstür steht die stellvertretende Gedenkstättenleiterin Dr. Regine Heubaum. Wir kennen uns von dem Interview für mein Hörbuch über das KZ Mittelbau-Dora. Sie bittet mich in den rechten Teil der Baracke zu gehen.

In dem linken Teil der Baracke ist die Bühne aufgebaut und hier sind die Plätze für die Überlebenden und ihrer Begleitung  sowie für die Prominenz reserviert. Auch im rechten Teil sind die Sitzreihen bereits  besetzt. Dahinter gibt es Stehplätze und einige Tische.  Ich ziehe meinem Mantel aus, stelle meine Rucksacktasche auf den Tisch an der Wand und setze mich auf die Tischkante. Ein jüngerer Feuermann beäugt mich etwas misstrauisch. Der Versuchung ihm den Inhalt meines Rucksackes zu zeigen, gebe ich nicht nach. Stattdessen hole ich einen Stift und ein Notizbuch heraus.

Es wird voll in der Baracke. Meine “innere Heizung“ läuft auf vollen Tour. Ich wundere mich, dass der neben mir stehende Mann (ca. 30 J) noch seinen wadenlangen schwarzen Trenchcoat anbehält. Auch  ein Herr (ca. 50) daneben mit angegrauten Haaren und Pferdeschwanz trägt seine dicke dunkelbraune Lederjacke.

Noah Klieger, einer der Überlebenden kommt in unseren Bereich und spricht mit jemandem und entfernt sich wieder. Er geht leicht gebeugt, nicht mehr so dynamisch wie vor 7 Jahren als ich ihn das erste Mal traf. Er ist inzwischen 88 Jahre alt und immer noch als Journalist tätig.

 

Programm

In dem Stimmengewirr ertönt leise Klezmer Musik, die dann lauter und der erste Bestandteil des Veranstaltungsprogramms wird.

Dr. Jens Christian Wagner, der Leiter der KZ Gedenkstätte Mittelbau-Dora [Anm.: bis Herbst 2014], begrüßt die Gäste. Er weist darauf hin, dass der 11. April nur ein symbolischer Jahrestag der Befreiung sei,  da die meisten Häftlinge sich noch am 11. April 1945 in „den Händen ihrer Peiniger befunden hätten und viele auch noch nach dem 11. April ermordet worden seien“.

Anlässlich des 70. Jahrestages der Deportation und  Ermordung der ungarischen Juden sei das diesjährige Leitthema der Gedenkveranstaltung  die  „Geschichte der jüdischen Häftlinge im KZ Mittelbau-Dora“.  Ende Mai 1944 seien ca. 1000 ungarische Juden in Dora und den Lagern Ellrich und Harzungen eingetroffen. Bedingt durch die Räumung der KZ´s Auschwitz und Groß-Rosen sei die Zahl der nach Mittelbau-Dora verschleppten jüdischen Häftlinge auf über 6000 gestiegen.

 

„Vernichtung und Arbeit“

Jens-Christian Wagner stellt die neuveröffentlichte Broschüre der Gedenkstätte mit dem Titel „Vernichtung und Arbeit“  vor.  Er weist daraufhin, dass der Titel auf einen Widerspruch hinweise. Normalerweise sei es nicht üblich die Arbeitskraft, auf die man dringend angewiesen sei, zu vernichten.  In Mittelbau-Dora habe die Arbeit nicht vor der Vernichtung gerettet, sondern getötet.

„Opfer der Zwangsarbeit, des Hungers und der Gewalt“ in Mittelbau-Dora  seien neben den jüdischen Häftlingen auch politische Häftlinge“ aus ganz Europa, “Sinti und Roma, sowjetische und italienische Kriegsgefangene, Wehrmachts-Deserteure, als ‚kriminell‘ oder  ‚asozial‘ verfolgte Menschen, Homosexuelle und Zeugen Jehovas“.

 

„Das Auschwitz-Album. Geschichte eines Transportes ungarischer Juden“

69. GedenkfeierDer Beitrag von Staatssekretär Prof. Dr. Thomas Deufel  vom Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur befasst sich mit der Ausstellung in der Feuerwache. Die Sonderausstellung wird um 13 Uhr eröffnet.  Sie trägt den TitelDas Auschwitz-Album. Geschichte eines Transportes ungarischer Juden.

Thomas Deufel erklärt, dass die ungarische Jüdin Lilly Jacob von ihrer Familie auf der „Rampe“ in Auschwitz brutal getrennt worden sei. Sie habe als einzige aus ihrer Familie überlebt. Lilly Jacob sei kurz vor Kriegsende nach Mittelbau-Dora transportiert worden. Am Tag der Lagerbefreiung habe sie in einer verlassenden SS-Baracke ein Fotoalbum gefunden. Die fast 200 Fotos würden den Ablaufder Selektion, die Registrierung, die Entlausung, der Abnahme der Habseligkeiten und den Weg zu den Gaskammern in Ausschwitz“  dokumentieren. Lilly Jacob habe Fotos von sich selbst und ihrer Familie bei ihrer Ankunft in Auschwitz Birkenau entdeckt. In der Ausstellung hier am Ort werden 35 Fotos aus dem Album gezeigt.

 

Noah Klieger

Die vergangenen sieben Jahre seit unserem Treffen  sind an Noah Klieger zwar nicht ganz spurlos vorübergegangen, aber  seine Stimme ist immer noch sehr kraftvoll. Dies sagt mir auch der neben mir auf dem Tisch sitzende Herr,  als das Funkmikrophon zumNoah Klieger 11.4.2014 Mittelbau Dora 3. Mal ausfällt. Noah Klieger kann man hier hinten auch ohne Mikrophon verstehen. Er erzählt klar, verständlich und flüssig. Seine Worte sind gut gewählt, hin und wieder blitzt sein Humor hervor.

Es ist keine leichte Kost, die die Zuhörer zu hören bekommen. Wir erfahren, wie er in einem offenen Güterwagen mit ca. 150 Mithäftlingen zusammengepfercht nach Mittelbau-Dora transportiert wurde. Die Häftlinge hätten  10 Tage lang weder Essen noch Trinken erhalten. Viele seien auf dem Transport gestorben. Bei seiner Registrierung in Mittelbau-Dora habe er sich als französischer politischer Häftling ausgegeben. Er sei in Straßburg aufgewachsen und spreche daher perfekt Französisch. Er sei sich bewusst, dass dies ihm einige Male, dass Leben gerettet habe.

Als Feinmechaniker für Arbeiten in der unterirdischen Fabrik gesucht wurden, habe er sich gemeldet. Er habe aber überhaupt keine Ahnung von Feinmechanik gehabt. Die SS habe herausfinden wollen, ob die Häftlinge tatsächliche Feinmechaniker seien. Die Häftlinge hätten eine Prüfung ablegen müssen. Wenn herausgekommen wäre, dass er keine Ahnung habe, wäre er gehängt worden. Ein französischer Häftling habe ihm die Lösungen besorgt. Leider habe er sich bei „seinem Engel“ nie bedanken können. Auch bei der 2. Prüfung habe er Hilfe erhalten und sei zum Vorarbeiter im Stollen ernannt worden. Zwei Monate sei er im Stollen gewesen. Das, was er an Grausamkeiten erlebt habe, könne man nicht mit menschlicher Sprache schildern. Dafür gäbe es keine Worte.“ Am  4.4.1945 sei er dann auf den Todesmarsch nach Ravensbrück geschickt worden. Selbst in Ravensbrück habe er noch arbeiten müssen. Ravensbrück sei am 26.4.45 geräumt worden, er habe sich aber geweigert das Lager zu verlassen. Dies sie sein Glück gewesen. Das Lager sei am 29.4.1945 von der Roten Armee befreit worden.

 

Glauben und KZ-Haft

Katharina Friedek und Carl-Lukas Pokoj,  junge Freiwillige an der KZ Gedenkstätte Mittelbau-Dora, stellen die Frage:  „Wie konnte ein Mensch, dem fast alles genommen worden war, was ihn zum Menschen machte, sich selbst retten vor der Selbstaufgabe, vor dem Tod?“

Drei Möglichkeiten als Antwort auf die Frage sind:  1. Der Glaube an Gott durch Gebet und Einhaltung religiöser Feiertage zum Ausdruck gebracht;  2. Das Vertrauen an das Gute im Menschen; 3. In Gedanken in eine andere bessere Welt zu fliehen.

Sie belegen ihre Antworten mit Zitaten von den Überlebenden Jerzy Jasinski, Jean Mialet, Chayim Perl und Primor Levi.

Die  Besucher strömen  in Richtung Gedenkplatz vor dem ehemaligen Krematorium.

 

Schüler wollen keine Gedenkveranstaltung besuchen

Während ich auf Jens-Christian Wagner warte, belausche ich ein Gespräch.  Der Mann, anscheinend ein Lehrer,  erklärt: „ Ich muss jetzt wieder zurück zum Unterricht.  Ich habe meiner  Klasse eine Arbeit aufgegeben.“ Er bedauert auch, dass keiner seiner Schüler und Schülerinnen  ihn zur Gedenkfeier habe begleiten wollen. Ich finde dies sehr schade, da die Gedenkstätte doch offensichtlich ganz in der Nähe der Schule zu sein scheint. Andererseits hat mich das Thema KZ oder NS-Geschichte als Schülerin auch nicht so sehr interessiert.  Allerdings kamen wir im Geschichtsunterricht nur bis zur Machtergreifung Hitlers und niemand kam auf die Idee mit den Schülern zu einer KZ Gedenkstätte zu fahren. Da besuchte man doch lieber eine Kaserne oder das Stahlwerk Salzgitter. Noah Klieger hatte zum Schluss appelliert: „Dann liegt es an Ihnen und Ihren Kindern, dass nicht vergessen wird, was uns von den Deutschen im 3. Reich angetan wurde.“  Hier sind aber auch Gedenkstätten gefordert.  Wie können sie bei den Schülern am besten das Interesse wecken? Sind es neue Formen der Gedenkarbeit wie Theaterstücke und Comic-Werkstätten?

Jens-Christian Wagner kommt nun aus der Baracke.  Ich freue mich ihn, wenigstens kurz persönlich sprechen zu können. Wir hatten uns geeinigt, dass wir es offenlassen, wann und ob wir ein Interview führen. Das Veranstaltungsprogramm ist ziemlich straff und ich habe heute noch einen Termin in Göttingen.

Ich betrete wieder die Baracke. Noah Klieger kommt mir mit seinen Begleitern entgegen. Ich frage ihn, ob ich ihn kurz ansprechen dürfe. Er antwortet schlagfertig. „Sie sprechen ja schon mit mir.“

Ich sage ihm nur kurz, dass wir schon einmal ein Interview geführt hätten und dass ich auch das Hörbuch über das KZ Mittelbau-Dora herausgebracht habe. Auch sei ich wegen ihm zur Veranstaltung gekommen.  An das Hörbuch erinnert er sich anscheinend und er freut sich mich zu sehen. Ob er sich auch an  mich erinnert, weiß ich nicht, aber ich bin überzeugt, dass er ein sehr gutes Gedächtnis hat.

Wie er so vor mir steht, komme ich mir so riesig vor. Ich überrage  ihn sicherlich um einen halben Kopf. Mir war dies vor 7 Jahren gar nicht aufgefallen, aber wir haben das Interview ja auch im Sitzen durchgeführt. Die wirkliche Größe eines Menschen hat ja bekanntlich nichts mit seiner körperlichen Größe zutun. „Das Denken macht die Größe des Menschen aus“, schreibt der französischer Religionsphilosoph und Naturwissenschaftler Blaise Pascal. Das Denken hat Noah Klieger sich nie verbieten lassen.

Jetzt fordere ich noch die Pressemappe am Info-Stand an und gehe hinunter zum eigentlichen Gedenkstättengebäude. Ich erwerbe die neue Broschüre „Vernichtung und Arbeit“.

Ich wundere mich auch hier über das gute Gedächtnis von Jörg Kulbe an der Anmeldung.

 

Rückfahrt und Alibi

Als ich an dem ehemaligen Zugang des Stollens vorbeifahre, sehe ich eine Originalschienen Stolleneingang AVeränderung. Früher war hier alles zugewachsen. Jetzt ist  ein Teilstück alter Schienen zu sehen. Mein Auto stelle ich auf einem Nebenweg ab und überquere die Straße, um Fotos zu machen. Ein weißes Auto fährt  währenddessen die Straße herunter,  wendet und hält am Straßenrand. Der Fahrer droht mir mit dem Zeigefinger. „Aber hier steht doch gar nicht: Betreten des Rasens verboten?“,  denke ich. Der gutgelaunte Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes von heute früh macht mir klar, dass ich „wild“ parken würde. Stimmt, ich vergaß das Schild am Anfang des Geländes. „Ich parke ja nicht, sondern halte nur.“  Nach einigen Worten über die Neugestaltung des alten Waggon Mittelbau-DoraStolleneinganges gehe ich zum Auto. Dort hat man die ehemalige Bahntrasse mit ehemalige SchienenMittelbau-Dorahellem Schotter aufgefüllt. Ich mache noch schnell ein Foto und fahre weiter. Kurz vor dem Verlassen des Geländes sehe ich rechts den Güterwagon auf den Schienen stehen und frage mich, ob er schon immer hier gestanden hat. Um nicht den Sicherheitsdienst erneut auf mich aufmerksam zu machen, halte ich kurz und mache ein Foto aus dem Auto.

Eins ist mir jedenfalls bei  dieser Sicherheitsüberwachung klar: Falls mich jemand befragen sollte, wo ich mich heute früh zwischen 10:30 Uhr und 13 Uhr aufgehalten habe, hätte ich ein fast lückenloses Alibi aufzuweisen.

Auf dem Rückweg fahre ich über die Straße der Opfer des Faschismus zurück. Dieser Weg ist wesentlich kürzer als der ausgeschilderte Weg. Mein Auto freut sich, dass es endlich wieder einmal auf der Autobahn fahren kann und “fliegt“ nur so dahin. So kann ich noch stressfrei meinen zweiten Termin in Göttingen wahrnehmen.

 

© Ingeborg Lüdtke

Text- und Data-Mining: Ich behalte mir eine Nutzung aller Inhalte dieser Webseite für kommerzielles Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Veröffentlicht unter Geschichte, KZ Auschwitz, KZ Mittelbau-Dora, NS-Geschichte | Verschlagwortet mit , , , , , , , | 6 Kommentare

Comics im Geschichtsunterricht und in der Gedenkstättenarbeit?

Zeitzeugen sterben. Immer weniger Zeitzeugen stehen für Interviews zur Verfügung.

Historiker und Gedenkstätten suchen nach neuen Formen, den nachfolgenden Generationen die Geschichte des Nationalsozialismus und seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit näher zu bringen. Eine Form der Vermittlung sind Comics.

Himmler in MoringenDer Arbeitskreis Pädagogik der KZ Gedenkstätte Moringen bei Göttingen startete 2008 das Pilotprojekt „Comicwerkstatt“. Der Arbeitskreis wurde von dem Historiker Dr. René Mounajed betreut. Er hat seine Dissertation zum Thema „Comic und Geschichte geschrieben.

In einem Interview beantwortete Dr. René Mounajed viele Fragen zu Comics im Geschichtsunterricht und in der Gedenkstättenarbeit:

Was ist der Unterschied zwischen einem Comic, Graphic Novels  und einem Cartoon?

Ein Comic ist eine Erzählung, die aus mindestens 2 Bildern bestehen muss. Die Bilder sind in der Regel gezeichnet und mit einem Text versehen. Mit Comics wird meist etwas Komisches, Lustiges und Drolliges verbunden, weil die ersten amerikanischen Comics in den Zeitungen so ausgerichtet waren. Ein Comic muss nicht immer lustig sein.

Das  Längenformat umfasst 64 Seiten im Album. „Graphic Novels“ hingegen sind abgeschlossene Comicromane, für die es keine Seitenzahlbegrenzung gibt.

Cartoons sind in der Regel immer lustig und sie haben meistens ein aktuelles politisches Ereignis im Hinterkopf. Ein Cartoon ist meistens ein Einzelbild, er kann aber ein Doppelbild, eine Sequenz sein.

Seit wann gibt es Comics?

Die Forscher streiten sich über die Frage, wann der erste Comic entwickelt wurde. Es ist eine ganz große Forschungsfrage.

Einige Forscher sehen in dem „Teppich von Bayeux“  bereits einen Comic. Andere beziehen die ägyptischen Hieroglyphen, antike Malereien und mittelalterliche Spruch-, Heiligen- und biblische Darstellungen mit ein. Vorformen könnten auch bereits mehrdimensionale Geschichtsbilder sein, die eine Sequenz erzählen oder biblische Geschichten im 15. Jahrhundert, sowie Holzstiche oder Flugschriften.

Für den Comic ist nicht die Sprechblase entscheidend, sondern die „enge Bildfolge“. Unter einer engen Bildfolge versteht man eine Folge von Szenen, die innerhalb eines kurzen Zeitraumes spielen.

Wilhelm Busch wird als Urvater der Comics gesehen, obwohl er selbst keine Comics gezeichnet hat. Aber seine Zeichnungen  von „Max und Moritz“ sollen dem US-amerikanischen Verleger Randolph Hearst zur ersten Comic-Strip-Serie „The Katzenjammer Kids“  als Vorlage gedient haben.

Comics mit geschichtlichem Hintergrund sind nicht neu, welche frühen bekannten Comics gibt es?

Der erste Comic, der sich mit Geschichte befasst ist „Prinz Eisenherz von Hal Foster aus den 1950er Jahren. Der Comic beschäftigt sich zwar mit dem Mittelalter, aber er nimmt auch viele neuzeitliche und gegenwärtige moralische und Verhaltensvorstellungen mit in den Comic hinein.  In der Comicforschung besteht die These, dass durch „Prinz Eisenherz“ Jugendliche in den 1960/70er Jahren für  Geschichte interessiert worden sind.

Allerdings gibt er nicht unbedingt die Geschichte des Mittelalters wieder. Es gab auch von dem Zeichner Hansrudi Wäscher weitere Rittercomics wie „Sigurd“ und „Falk“.

Es gab auch schon früh sogenannte pädagogische didaktische Produkte z.B. die „Abenteuer der Weltgeschichte“. Hier wurde der Versuch unternommen Geschichte historisch triftig zu erzählen.

Comics über den Nationalsozialismus

Im Moment wählen sehr viele Künstler und Künstlerinnen die Epoche des Nationalsozialismus für ihre Geschichten aus.Teilweise sind das auch eigene Lebensgeschichten oder die der Eltern oder der Großeltern. Aber es wird auch etwas aus dem Nationalsozialismus erzählt. In seinem Comic „Auschwitz“  (2005) versucht der französische Künstler Pascal Croci das Grauen von Ausschwitz in Bilder historisch triftig darzustellen. Der Niederländer Eric Heuvel hat die Comics „Die Entdeckung“ und die „Suche“ gezeichnet. „Die Suche“ zeigt das Schicksal einer jüdischen Familie in der NS-Zeit. Die Entdeckung“ thematisiert anhand der Familie des niederländischen Jungens Jeroen die NS-Besatzung in den Niederlanden.

„Hitler“ von Dieter Kalenbach (Zeichnung) und  Friedemann Bedürftig (Text) wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung und der Stiftung Lesen gefördert, aber später hatte man Bedenken und nahm den zweibändigen Comic wieder vom Markt.

Kann man mit Comics tatsächlich die Gräuel Nationalsozialismus darstellen?

Es handelt sich um ein Kunstwerk und Kunst muss nicht historisch triftig sein, aber sie kann. Man kann die Künstler nicht verpflichten, sich mit Quellen und historischen Darstellungen und Zeitzeugenberichten auseinander zusetzen. Aber es gibt eine große Gruppe von Künstlern, die versucht haben ein historisches Kunstwerk zu erarbeiten, mit der Intention Geschichte aufarbeiten. Ich sage bewusst aufzubereiten nicht darstellen. Geschichte darstellen kann keiner, auch nicht der beste Comickünstler, auch nicht, wenn er einen Historiker im Hintergrund hat.

Ein Comic zeigt nur die Vorstellung, die ein historisch interessierter Mensch zu einem historischen Sachverhalt entwickelt hat.

In dem Comic „Auschwitz“ erkennt man die Vorstellungen, die sich Pascal Croci von dem Ort Auschwitz gemacht hat. Seine Motivation sich mit dem Thema auseinander zu setzten, ist nicht erkennbar. Er beschäftigt sich aus freien Stücken mit dieser Thematik und man erkennt auch, wie er seine geschichtliche Recherche betrieben hat. Er geht von Zeitzeugen aus. Croci hat viel gelesen. Er ist emotional aufgewühlt. Ihn lässt Auschwitz nicht kalt. Er findet keine Worte des Happy Ends. Für ihn ist das ein wirklich grauenhafter Ort. Die Täter und Täterinnen werden dämonenhaft dargestellt. Sie bleiben zwar Menschen, aber sie entwickeln Fratzen. Sie bleiben auch noch im Rahmen realistischer Darstellungen, aber Croci zeichnet ein düsteres Bild von Ausschwitz und den Tätern.

Allerdings sind die der neueren geschichtlichen Forschungen unberücksichtigt. Auschwitz war für die Täter kein so düsterer Ort, obwohl es für sie ein Arbeitsplatz gewesen ist, wo als „lebensunwert“ bezeichnete Menschen umgebracht wurden. Viele Täter haben dies auf die leichtere Schulter genommen.  Eric Heuvel, dem z.B. Wolf Kaiser vom Haus der Wannseekonferenz kritisch über die Schulter geschaut hat, sieht die Diskrepanz und zeigt in seinem Comic „Die Suche“, wie ein Kindergeburtstag von einem hohen SS-Offizier gefeiert wird. Die Familie wohnt gleich neben Auschwitz. Während des Dienstes treffen die Täter auch Absprachen wie: „Gehen wir heute noch einen Kaffee trinken nach  Feierabend?“ Es ist ein guter Comic und das Grauen wird auch deutlich.

Könnte man nicht diese historischen Comics mit Fußnoten über den historischen Hintergrund versehen?

Ja, so etwas gibt es auch bei einem Comic zur römischen Antike und zwar heißt der Comic „Prisca und Silvanus“.

Außerdem ist ein Anhang enthalten, dort findet man Informationen zu den abgebildeten Orten und Gegenständen.

Gibt es Reaktionen von Comic-Lesern?

Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, da es kaum empirische Werte gibt. Schüler und Schülerinnen von heute kennen Comics kaum, schon gar nicht solche mit historischem Hintergrund jenseits von „Asterix“. In den östlichen Bundesländern kennen die meisten auch noch „Mosaik“, weil das ein populärer Comic zu DDR-Zeiten gewesen ist. Er erscheint noch heute, aber er ist in den westlichen Bundesländern noch nicht so ganz angekommen. „Maus“ von Art Spiegelman ist noch recht bekannt bei den Älteren der Lehrer, aber von den Schülern kennt ihn im Moment kaum jemand. Obwohl es eine Welle der „Graphic Novels“, der Comicromane mit geschichtlichem Hintergrund gibt, sind diese bei Lehrern und Schülern wenig bekannt.

Wenn die Schüler und Schülerinnen aber mit dem Medium Comics arbeiten, macht es ihnen Spaß. Allerdings kommen sie nicht von selbst darauf, dass diese Comics nicht die historische Wirklichkeit zeigen, sondern auch nur die Vorstellung von Künstlerinnen und Künstlern wiedergeben. Man muss ihnen klarmachen, dass selbst der objektivste und sachlichste Historiker immer nur eine subjektive Geschichte erzählt und dass sie auch sehr von seinem eigenen Standpunkt abhängt. Auf jeden Fall ist erkennbar: Geschichte ist ein Konstrukt. Das ist auch die große Chance, die ein Comic leisten  kann.

War dies dann Ihr Grund, weshalb Sie diese Comic-Werkstatt gegründet haben?

Ja, richtig, aber wir sind vor allem von dem Gedanken getrieben worden, dass die Gedenkstättenpädagogik neue Wege finden muss, um junge Menschen für diese Themen zu gewinnen.

Die Gedenkstättenlandschaft befindet sich im Wandel. Das liegt an 2 Punkten: Zum einen sterben immer mehr Zeitzeugen und  zum anderen bekommen wir neue Gedenkstätten: z. B. die Gedenkstätten der DDR-Diktatur.

Schüler finden einen anderen Zugang zum Thema Nationalsozialismus, wenn die Zeitzeugen persönlich im Raum sind und sie sich nicht nur Filme mit Interviews der Zeitzeugen ansehen können.

Gedenkstätten mit lebenden Zeitzeugen sind durchaus als Konkurrenz zu sehen. Die Gedenkstättenpädagogik ändert sich. Das muss man nicht nur negativ sehen, sondern auch begrüßen. Es stellt sich die Frage:  „Was machen wir jetzt daraus?“. Und da ist der einfache Punkt: Wir müssen, wenn wir uns mit dem Nationalsozialismus beschäftigen, den Schülern klar machen, dass auch heute nicht alles gut ist.

Die Geschichte geht weiter und auch in unserer heutigen Zeit besteht durchaus noch immer die Gefahr von rassischen und ausgrenzenden Tendenzen.

Müssten neue Comics geschrieben werden?

Ja, aber man muss sich auch überlegen, wie man die Schüler und Schülerinnen dazu bewegen kann, sich mit solchen Themen zu beschäftigen. Meiner Meinung nach machen solche Formate Sinn, wo die Schüler und Schülerinnen selbst tätig werden müssen. Am besten geschieht dies mit künstlerischen Produkten. Es müssen nicht nur Comics sein, aber es können Comics sein. Denkbar wären auch die Produktion eines Theaterstücks oder eines Films. Hier kann handlungsorientiert gearbeitet werden.

Da die künstlerische Version ein bisschen mehr Freiheit als alle Dokumentationsformate bietet, haben wir uns dafür entschieden das einmal mit der Comic-Werkstatt auszuprobieren.

Wie haben Sie Ihre Idee eine Comic-Werkstatt zu gründen in die Tat umgesetzt?

Wir haben eine solche Comic-Werkstatt für Schüler und Schülerinnen in ganz Niedersachsen ausgeschrieben. Statt dem riesigen Andrang, den wir erwartet haben, haben nur wenige Schüler und Schülerinnen ihre Arbeiten eingesandt.

Es gab für das Einreichen der Arbeit ein doppeltes Profil zu erfüllen:  1. Man sollte gerne zeichnen und 2. Man sollte sich für Geschichte interessieren und insbesondere für die Geschichte des Nationalsozialismus. Wir hatten vier Bewerbungen. Nach dem wir die Finanzierung geklärt hatten, haben wir mit der Arbeit begonnen.

Die Ergebnisse, die vorliegen sind wirklich Klasse. Die Schüler und Schülerinnen haben sich sehr mit der Geschichte auseinander gesetzt. Sie haben aber auch künstlerisch Enormes geleistet. Es sind wirklich Talente gefunden worden. Wir haben ja nicht nur historisch gearbeitet, sondern wir konnten die Comic-Künstlerin Elke Steiner gewinnen, die die künstlerische Seite begleitet hat.

Zwei der Jugendlichen haben auch noch an einem Wettbewerb bei Zivilcourage vereint“ teilgenommen und eine Studienreise nach Griechenland gewonnen. Wir selbst sind auch begeistert und können uns vorstellen,  diese Comics in geeigneter Weise als Schulmaterial zu veröffentlichen.

Gab es Nachfragen von Lehrern und Lehrerinnen zur Comic-Werkstatt und wie waren die Reaktionen?

Ja, es gab nach Fragen und die Reaktionen waren alle positiv. Offen und skeptisch.

Was kommt dann nach der Geschichtsdarstellung in Form von Comics?

Da gibt es noch weitere Medien, die wir noch nicht untersucht haben. Ganz naheliegend ist das Computerspiel gerade zum Thema Nationalsozialismus. Allerdings muss man bei den Spielen vorsichtig sein, da es auch viele kriegsverherrlichende Spiele gibt.

Die Frage ist: Was können wir selbst tun, damit diese Geschichte sich nicht in anderer Form wiederholt? Wir können nur durch gute Präventionsmaßnahmen weiter kommen. Dazu müssen wir aber auf die Jugendlichen zugehen. Das bedeutet, dass die Gedenkstättenarbeit nicht nur in der Gedenkstätte stattfindet, sondern, dass die Gedenkstätte auch in die Schulen geht z.B. in Form von eines Theaterstücks [Anm.: die KZ-Gedenkstätte Moringen hat gemeinsam mit der Theatergruppe „Stille Hunde“ das Theaterstück „Die Besserung“ https://www.radio-uebrigens.de/?p=179 entwickelt. Dies kann für die Schule gebucht werden.]. Meiner Meinung nach sollte es eine wichtige Aufgabe der Gedenkstätten sein, sich mehr mit dem Aspekt der Menschenrechtserziehung auseinandersetzen. Aus vielen Gesprächen mit Zeitzeugen weiß ich, dass sie sich wünschen, dass in den Gedenkstätten auch auf aktuelle Menschenrechtsverletzungen aufmerksam gemacht wird.

Kommen wir zum Schluss noch einmal zu den Comics oder Graphic Novels. Gibt es auch einen Comic über das KZ Moringen?

Ja, der Comic ist von Gianni Carino und heißt „Oltre la Notte“. Er behandelt das Schicksal von einem jungen Häftling, der aus Italien als Widerstandkämpfer nach Werkhaus MoringenMoringen gelangt ist und überlebt  hat. Der Künstler ist mehrfach in Moringen gewesen und hat sich die Örtlichkeiten angesehen. Er hat nach Quellen gesucht und sich Darstellungswerke angeschaut.

Wir haben für die Gedenkstätte eine Arbeitsübersetzung in Deutsche angefertigt. In dem Comic sind sehr gute Sequenzen drin, wie  z.B. über die Ankunftssituation in Moringen. Er zeigt auch, wie man zum Häftling wird. Gianni Carino hat sich auch sehr schön mit den Örtlichkeiten hier auseinander gesetzt. Aber  von einer Gesamtveröffentlichung dieses Comics haben wir abgesehen, weil dafür die Handlung im KZ Moringen zu wenig Raum innehat. Die Liebesgeschichte steht zu sehr im Vordergrund. Moringen ist nur ein Unterkapitel. Wir wollen aber 1-2 Sequenzen daraus für Schüler veröffentlichen.

© Ingeborg Lüdtke [Zusammenfassung des Interviews]

Text- und Data-Mining: Ich behalte mir eine Nutzung aller Inhalte dieser Webseite für kommerzielles Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

 Gesendet am 27.1.2009 im StadtRadio Göttingen

Cartoon: Der Dialog soll so zwischen Heinrich Himmler und Anni Pröll im Frauen-KZ Moringen stattgefunden haben.

Literaturhinweis:

Mounajed, René
Geschichte in Sequenzen
Über den Einsatz von Geschichtscomics im Geschichtsunterricht
Peter Lang Verlag, 2009

Veröffentlicht unter Geschichte, KZ Auschwitz, KZ Moringen, NS-Geschichte | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Grenzlandmuseum Teistungen bei Duderstadt

Gesendet am 15.12.2003 MixUp-Magazin im StadtRadio Göttingen

Interview mit Vera Köster, GrenzlandmuseumTeistungen

 

Ingeborg Lüdtke:

Frau Köster seid wann gibt es das Grenzlandmuseum?

Grenzlandmuseum (C) Markus Grabautzki

Grenzlandmuseum (C) Markus Grabautzki

Vera Köster:

Das Grenzlandmuseum gibt es seit dem 11.11.1995.

Ingeborg Lüdtke:

Wer ist der Initiator dieses Grenzlandmuseums?

Vera Köster:  

Initiator des Grenzlandmuseums ist ein Verein. Der hat sich Anfang der 1990er Jahre gebildet und zwar aus den Gemeinden Teistungen in Thüringen und Duderstadt in Niedersachsen.

Ingeborg Lüdtke:

Was kann man sich eigentlich unter diesem Grenzlandmuseum vorstellen? Ist das eine reine Dokumentensammlung?

Vera Köster:

Das Grenzlandmuseum ist, wie der Name schon sagt, ein spezielles Museum. Sicherlich ist es auch eine Dokumentensammlung, aber hauptsächlich die Vermittlung der regionalen Geschichte. Und die war ja sehr bedeutend, weil hier an dieser Stelle früher der  Grenzverkehr ging. Der kleine Grenzverkehr wurde 1973 eröffnet.

Für die Region war dies auch von großer Wichtigkeit, weil hier die deutsch-deutsche Grenze Familien, Freunde und Bekannte  getrennt hat. Dies war für die Eichsfelder Bevölkerung auch mit Sicherheit schrecklich. Zum Beispiel hat eine Mutter die Tochter 40 Jahre lang nicht hat sehen dürfen. Die Eichsfelder sind ja sehr bodenständig und hängen auch aneinander. Die Familie sowie Freundschaft und Bekanntschaft wird noch groß geschrieben. Dadurch war seine solche Trennung von heute auf morgen sehr hart.

Ingeborg Lüdtke:

Grenzlandmuseum (c) Markus Grabautzki

Grenzlandmuseum (c) Markus Grabautzki

Wie ist dieses Grenzlandmuseum von der Bevölkerung aufgenommen worden?

Vera Köster:

Im Osten ist es nicht so gut aufgenommen worden, wie im Westen. Im Westen hat man das Museum natürlich gut geheißen. Viele Menschen sind im alten DDR-System verhaftet [Anm.:Stand 2003]  und behaupten oftmals, wir würden die Geschichte nicht korrekt darstellen. Solche Äußerungen kommen von einigen ehemaligen DDRGrenzern [Anm.: Grenzsoldaten],  die dem Kommunismus ein wenig nachtrauern. Durch die Öffnung der Grenze haben sie ihre Existenz verloren.

Wir haben also nicht nur Befürworter für das Grenzlandmuseum, aber die Befürworter sind letzten Endes in der Mehrheit.

Ingeborg Lüdtke:

Wie viele Besucher kommen durchschnittlich im Monat?

Vera Köster:

Das ist unterschiedlich. Man kann im Jahr mir 40.000 Besuchern rechnen. Die Besucher kommen von überall her: Sie kommen u.a. aus Korea, den USA, Japan, China, Russland, Spanien, Frankreich und den  Niederlanden.

Es sind viele Touristen dabei. Es ist immer wieder erstaunlich, dass sich gerade ausländische Besucher für unsere Geschichte interessieren.

Ingeborg Lüdtke:

Wie sieht so die Reaktion der Besucher aus?

Vera Köster:

Wir können mit Stolz sagen, dass die Besucher beeindruckt sind. Sie sind nicht nur von unserer Dauerausstellung beeindruckt, sondern auch von den Informationen, die sie erhalten. Sie erfahren Dinge, die ihnen so gar nicht bewusst waren, wie  z. B. die Trennungen der Familien, die fürchterlich gewesen sind.

Ingeborg Lüdtke:

Was gibt es denn in Ihrer Dauerausstellung zu sehen?

Vera Köster:

Grenzlandmuseum (c) Markus Grabautzki

Grenzlandmuseum (c) Markus Grabautzki

Wir zeigen überwiegend die regionale Geschichte der Grenze. Diese Geschichte kann man natürlich nicht einfach darstellen, ohne die DDR in der Gesamtheit zu sehen. Wir geben auch einen Überblick darüber, warum die Grenze kam. Ein Thema ist der 2. Weltkrieg. Es geht auch  um die Zeit der grünen Grenze, als noch kein Zaun stand. Einige gingen heimlich über die Grenze und haben gehamstert [Anm.: z.B. Zigaretten gegen Lebensmittel eintauschen]. Bis zum Mauerbau war es auch noch möglich, Verwandte in der DDR heimlich zu besuchen.

Ein Thema der Ausstellung ist auch die Aufgabe, die die Stasi [Anm.: Staatssicherheitsdienst] übernommen hat:  Wo und wie hat sie geschnüffelt?

Die Ausstellung befasst sich ebenfalls mit der Geschichte der Grenze und mit dem Leben

Grenzlandmuseum (c) Markus Grabautzki

Grenzlandmuseum (c) Markus Grabautzki

im Sperrgebiet,  aber auch mit der Alltagsgeschichte und der Erziehung in der DDR, der vormilitärischen Ausbildung der Pioniere (FDJ), GST bis hin zur Wende.

Ingeborg Lüdtke:

Es gibt ja jetzt nicht nur diese Dauerausstellung.

Vera Köster:

Es gibt natürlich auch spezielle Sonderausstellungen zur politischen Themen in der DDR oder überhaupt zu DDR-Themen. Wir haben auch schon in diesem Jahr (2003) zur Alltagsgeschichte gemacht. Die ist nicht zur verwechseln mit dem Alltags-DDR-Boom. Wir haben auch schon Alltagsgeschichte dargestellt in Form der Dinge, die man dort kaufen konnte z.B. Töpfe und Eierbecher.

Ich denke man muss nicht immer politisch sein. Man muss den Leuten auch einfach mal den Alltag darstellen können. Die andere Seite des Alltags nicht nur die des Kuschens.

Ingeborg Lüdtke:

Es gibt derzeit auch eine Sonderausstellung [Anm.: 3.12.2003 – 25.1.2004] über die DDR-Verfolgungsgeschichte der Zeugen Jehovas

Vera Köster:

Die Zeugen Jehovas sind ja eine Minderheit in der DDR gewesen. Ihre Geschichte ist eigentlich auch nach der Wende untergegangen. Viele Personen, die mitbekamen, dass wie eine Ausstellung über die Zeugen Jehovas in der DDR machen, waren ganz erstaunt und haben gesagt. „Wir haben gar nicht gewusst, dass es da so viele bei uns gab.“ Sie sind eigentlich unterdrückt und beschimpft worden. Sie haben ein ganz übles Schicksal hinter sich und das muss aufgearbeitet werden. Dies macht die Wissenschaft seit einigen Jahren.

©  Ingeborg Lüdtke

Text- und Data-Mining: Ich behalte mir eine Nutzung aller Inhalte dieser Webseite für kommerzielles Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Rundweg Grenzlandstreifen bei DUDAktualisierung der Ausstellung: Die Ausstellung wurde 2010 überarbeitet. Heute kann man auf dem Rundweg außerhalb der Gedenkstätte teilweise entlang des ehemaligen Grenzstreifens wandern. 24 Infotafeln bieten einen Einblick in historisch-politische und ökologische Inhalte.Grenzlandstreifen DUD

Es sind zum Teil Original-Grenzanlagen vorhanden wie der  Beobachtungsbunker und der Wachturm neben Streuobstwiesen.

Anmerkung: Wer an einer Gruppenführung teilnehmen möchte, sollte unbedingt auf die Preise achten. Zusätzlich zum Eintrittpreis (4,- €) kommen noch je Führung folgende Tarife dazu: eine Innenführung  (15,00 €) und eine Außenführung (25,00 €). Bei einer Gruppe von 3 Personen wären dies pro Person 14,- €.

Links:

http://www.grenzlandmuseum.de/

http://de.wikivoyage.org/wiki/Grenzlandmuseum_Eichsfeld

http://de.wikipedia.org/wiki/Teistungen

Literaturhinweis:

Jürgen Ritter/ Peter Joachim Lapp, DEUTSCHLAND-GRENZENLOS (Bildband), Ch. Links Verlag, Berlin, März 2014

Hans-Hermann Dirksen, „Keine Gnade den Feinden unsere Republik“ – Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ/DDR 1945-1990 (Zeitgeschichtliche Forschungen 10), Duncker & Humblot, Berlin 2001

Gerhard Besier/Clemens Vollnhals (Hrsg.), Repression und Selbstbehauptung – Die Zeugen Jehovas unter der NS- und der SED Diktatur (Zeitgeschichtliche Forschungen 21, Tagungsband), Duncker & Humblot, Berlin 2003

Film:

Fritz Poppenberg, Folget mir nach http://www.dreilindenfilm.de/shop/folget-nach-p-142.html

Veröffentlicht unter DDR, Geschichte, Göttingen - Duderstadt | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Buchmesse 2013

Um 7:15 Uhr ist es noch frisch auf dem Göttinger Bahnsteig. Der Zug ist pünktlich.

CosplayerAn der Haltestelle der Frankfurter S-Bahn stehen drei junge Mädchen mit sonderbaren Perücken. Ein Mädchen kämmt dem anderen Mädchen die überlangen rosafarbenen Haare. Auf meinem Weg zum ARD Forum auf dem Messegelände begegne ich vielen Menschen in bunten Kostümen. Es sind Cosplayer. Comic-Fans verkleiden sich wie ihre Lieblingscharaktere aus Büchern, Filmen und Computerspielen. Am Sonntag wird der Gewinner oder die Gewinnerin der Deutschen Cosplay-Meisterschaft gekürt.

Wolfgang Niedecken

Beim ARD Forum treffe ich frühzeitig ein. Der Moderator ARD Forum Uwe Berndt interviewt Tina und Wolfgang Niedecken eine Stunde für eine Radiosendung. Die Sendung wird später mit Musik aufbereitet und eine Woche später im ARD Radio gesendet.

Wolfgang Niedecken berichtet über die Umstände, die zu seinem Schlaganfall geführt haben und darüber wie seine Frau sofort den Notarzt gerufen hat. Er stellt sein neues Buch „Zugabe. Die Geschichte einer Rückkehr“ vor. Er und seine Frau kommen sehr natürlich und sympathisch rüber.

Um 11 Uhr geht es hier mit einem Interview mit Peter Härtling weiter. Ich begebe mich in Halle 3.1.

Halle 3.1

Es ist sehr voll. Die Menschenmassen schieben sich durch die Gänge. Ich lasse mich mit treiben und gelange zum Deutschland Radio. Auf der Bühne steht eine junge, blonde, schlanke Frau mit Pferdeschwanz und trägt einen Text vor. Ihre Vortragsweise ist sehr monoton. Der Inhalt kommt dadurch bei mir nicht an und ich gehe weiter. Am Ende des GangesSPIEGEL Regal schaue ich in ein mir sehr bekanntes Gesicht. Auch er hat mich sofort erkannt. Es ist mein Bruder mit Frau. Das „Hallo“ ist groß. Wir tauschen unsere Messeeindrücke und Familieninterna vor den Regalen der „SPIEGEL-Bestseller“ aus. Ich schaue nach links und frage mich, woher ich den grauhaarigen schlanken Herrn mit Brille kenne. Es ist der ehemalige hessische Ministerpräsident Roland Koch, der sich nun ebenfalls den Regalen nähert.

Wir beenden unseren Familienplausch. Unsere Wege trennen sich wieder.

Beim Podium Rheinland-Pfalz liest Sarah Katharina Kayß aus ihrem Gedichtband „Ich mag die Welt so wie sie ist“. Ich kann ihre Gedanken gut nachvollziehen. Besonders gefällt mir das Gedicht über Kunst.

Die Volontäre und der Auszubildende am Stand von Vandenhoeck & Ruprecht freuen sich mich zu sehen. Ich erhalte ein Glas Mineralwasser. Das tut bei der Hitze in der Messehalle gut.

Vandenhoeck BuchmesseDer Stand wurde modernisiert. Er wirkt heller und luftiger. Eine Computerbildanimation hängt an der Wand und zeigt ausgewählte Titel. An dem großen Tisch mit Touchscreen-Funktion kann man jeweils neben dem Titel auch ein Foto der Autoren und Herausgeber und deren Vita sehen.

Halle 4.1 und Halle 1 4.2

Jetzt wird es Zeit in den Hallen 4.1 und 4.2 vorbei zu schauen. Auch hier sind die Gänge voller Besucher, aber es ist nicht so erdrückend wie in Halle 3.1.

Die Autoren, die am Stand von 3SAT interviewt werden oder etwas aus ihren Werken lesen, kenne ich nicht. Nichts hält mich hier.

In einem Gang sehe ich den Blogger Sascha Lobo. Ein anderes Mal höre ich, wie hinter mir ein junges Mädchen fragt: „Darf ich ein Bild mit Ihnen machen?“ Der angesprochene Herr ist einverstanden. Sie wird mehrfach fotografiert. Der Herr schreitet davon, gefolgt von einem Mann, der Mikrophon und Kamera trägt. Die Mädchen kreischen, als sie sich das Bild auf dem Smartphone ansehen. Ein älterer Herr fragt die Mädchen, wer das gewesen sei. Er schaut genauso ratlos wie ich. Wir können mit dem Namen nichts anfangen. Wahrscheinlich sind wir nicht seine Zielgruppe.

Soldaten

Bevor ich mich auf den Rückweg zum Bahnhof mache, suche ich die Toiletten. Auf dem Boden sitzen zwei als Soldaten verkleidete Menschen mit Helmen und Strumpfmasken. In der Tür zur Vorhalle kommt mir ein Soldat mit Gasmaske entgegen. Im Vorraum der Damen-Toilette steht ein junger Mann mit Irokesenschnitt, der in seiner Tasche nach Schminkutensilien sucht und schimpft. Seine Freundin hilft ihm die kahl geschorene Kopfhaut mit großen roten Flecken zu bemalen. Diese erhalten einen schwarzen Rand. Der Hahnenkamm ist lila, blau und grün.

Erst später stelle ich mir die Frage: „Was macht der Mann eigentlich im Vorraum der Damen-Toilette?“

Viel zu früh komme ich am Bahnhof an und gehe in die Buchhandlung. Ich genieße die Ruhe und die Möglichkeit ohne Gedränge in die Bücher zu schauen.

Als blutjunge Buchhändlerin habe ich während des ersten Buchmessebesuches noch eine ehrfürchtige Hochachtung vor der schreibenden Zunft empfunden. Nach all den Jahren in der Branche ist eine Entzauberung eingetreten, die mich von Jahr zu Jahr nüchterner auf diesen Medienrummel sehen lässt.

Mein Zug kommt sehr zeitig an, so muss ich nicht länger in der Kälte warten. Ein Lob an die Deutsche Bahn.

© Ingeborg Lüdtke

Text- und Data-Mining: Ich behalte mir eine Nutzung aller Inhalte dieser Webseite für kommerzielles Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Veröffentlicht unter Allgemein, Buchmesse | Verschlagwortet mit , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Der Pfarrer hat sie bei der Stasi angezeigt

Reneate Bekheet erhielt vom Bundespräsidenten Joachim Gauck eine Einladung zum Sommerfest 2013.

Gesendet am 4.1.2012 im Stadt Radio Göttingen

Kennen Sie das auch? Sie kennen einen Menschen viele Jahre lang vom Sehen. Möglicherweise sprechen sie sogar an der Bushaltestelle miteinander. Jahrzehnte später erfahren Sie, dass dieser Mensch eine interessante Lebensgeschichte hat. Sie möchten mehr darüber wissen und fragen nach.

So ging es mir mit Renate Bekheet aus Witzenhausen.
Sie wuchs unter der Nazi- und der DDR-Diktatur auf. Renate Bekheet war in der DDR im Frauenzuchthaus Hoheneck wegen „verbrecherischer Spionagetätigkeit, Boykotthetze und Mordhetze gegendemokratische Politiker“ inhaftiert.

Um zu erfahren, warum sie tatsächlich inhaftiert war, habe ich sie in Ihrer Wohnung in Witzenhausen besucht.

(Motorengeräusch)

Die wuscheligen blonden Haare sind hoch gesteckt, die Wangen sind rot geschminkt, die Augenbrauen nachgezogen.
Unter dem dunkelblauen Pullover schaut ein weißer Spitzenkragen hervor. Sie trägt eine lange dunkle Hose. Die wachen Augen sind freundlich auf mich gerichtet, als sie mich an der Wohnungstür begrüßt.
Man sieht ihr nicht an, dass sie 80 Jahre alt ist. Mir scheint sie in den letzten 30 Jahren kaum gealtert zu sein. Lediglich ein paar Kilo mehr zeigt die Waage an. Aber die Jahre sind nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Sie musste im DDR-Gefängnis Hoheneck schwere Kanalarbeiten durchführen und wurde als 55-Jährige an der Hüfte operiert. Heute geht sie an zwei Stöcken.

(Musikakzent)

Um zu verstehen, warum sie wegen angeblicher Spionagetätigkeit verhaftet wurde, muss man auch die Vorgeschichte und ihre Kindheit kennen.

Renate Bekheet hatte keine leichte Kindheit. Als sie noch klein ist, wenden sich ihre Eltern den Lehren der Bibelforscher zu. Die Zeugen Jehovas wurden damals auch Bibelforscher genannt.

„ … meine Eltern hatten Nachbarn, die waren Zeugen Jehovas und die haben meinem Vater von der Wahrheit erzählt. Und er war begeistert und er hat dann sämtliche Bücher von Bruder (John F.) Rutherford bestellt, hat die alle gelesen. Aber meine Mutter wollte nichts wissen. Sie hatte ganz schlechte Erfahrungen in ihrer Kindheit mit der Kirche gemacht.“

Nachdem ihre Mutter fast bei ihrer Geburt gestorben ist, beschließt sie Gott und die Bibel kennenzulernen:

„Sie hat dann auch die Bibel kennengelernt und sie war dann nachher im Predigtdienst noch eifriger wie mein Vater.“

Ihre Eltern erzählen ihr auch etwas über ihre neue Religion.

Leischnig_otto-martel-renate_Picknick„Und natürlich haben die Eltern mir erzählt.… ich war ein Kind furchtbar mitteilsam.
Was man mir erzählt hat, bin ich zu den Nachbarn gegangen und hab´das gleich weitererzählt und da hab ich immer gesagt: ‚Bald wird ein großer König regieren, aber nicht den Nazis sagen.’ Und für mich waren nur die Nazis, die da immer in Uniform durchs Dorf liefen. Aber in Brünlos, wie der kleine Ort hieß, gab es sehr viele Nazis und das waren auch Nazis und die haben dann meinen Eltern Vorhaltungen gemacht, was die mir für`n Quatsch erzählen würden. Und da merkten meine Eltern, dass das sehr gefährlich war, wenn ich zuviel wusste.“

Renate Bekheets Eltern erzählen danach ihrer Tochter nur noch indirekt etwas über Ihren Glauben. Da die Zeugen Jehovas verboten werden, treffen sich nur noch heimlich mit anderen Glaubensgeschwistern.
1934 wird ihr Vater Otto Leischnig das erste Mal verhaftet und kommt nach einigen Monaten wieder frei.
Buchenwald1936 wird ihr Vater wegen Kriegsdienstverweigerung erneut für 15 Monate verhaftet. Nachdem er die Strafe verbüßt hat, wird er in das KZ-Buchenwald eingeliefert.
Renate Bekheet sieht ihren Vater aber erst 9 Jahre später wieder.

(Musik)

Otto Leischnig, der Vater von Renate Bekheet, war Schneider von Beruf.
Im KZ-Buchenwald wird er in der SS-Schneiderei eingesetzt. Als ungetaufter Zeuge Jehovas näht er keine Wehrmachtskleidung, aber er näht verschiedentlich Zivilkleidung für SS-Angehörige.
Eine Zeitlang geht es ihm besser als anderen Häftlingen im KZ-Buchenwald.
Dies ändert sich im Februar 1939, als der zivile Schneidermeister bei der SS in Ungnade fällt. Es fliegt auf, dass der Schneidermeister sich ein Buch über Schneiderei aus dem Privatbesitz von Otto Leischnig zusenden ließ.
Wegen dieses angeblichen Vergehens erhält das gesamte Häftlingskommando die Prügelstrafe von je 25 Stockhieben. Auch am nächsten Tag erhalten alle erneut 25 Stockhiebe.
Anschließend kommen sie in den „Schwarzen Bunker“.
Der „Schwarze Bunker“ ist völlig abgedunkelt, abgedichtet und nicht beheizt. Es gibt nur wenig zu essen.
Die Häftlinge schlafen auf Dielen. Die Mützen dienen als Kopfkissen und die Jacken als Zudecken. Der Gestank der Fäkalien ist unerträglich. Waschen können sie sich nur alle 2-3 Tage. Einige Inhaftierte sterben.
Nach über 2 Monaten wird Otto Leischnig aus dem „Schwarzen Bunker“ entlassen. Er ist am Ende seiner Kräfte.
Allerdings wird er erst 6 Jahre später aus dem KZ von den Amerikanern befreit.
.
„Und wie mein Vater dann 1945 entlassen wurde, da haben die Amerikaner … er wurde ja von den Amerikanern befreit.
Und dann haben die Amerikaner gesagt: „Ihr habt hier so lange ausgehalten. Auf den Straßen ist Chaos. Flüchtende Soldaten, Flüchtlinge und Kriminelle. Es ist katastrophal auf den Straßen. Wir haben alle hier Papiere. Wir stellen Euch Papiere aus, warum ihr hier wart. Es gab ja auch Kriminelle. Und wenn es sich beruhigt hat, … hat er gesagt: ‚Euch fahren wir bis an die russische Zone und übergeben Euch den Russen. Das die Euch dann bis nach Hause bringen, aber wir fahren Euch …’, und die anderen die vom Westen waren, haben die dann alle transportiert. Das haben die Amerikaner gemacht, die haben es organisiert.“

(Musik)

Während Renate Bekheets Vater in Haft ist, versucht ihre Mutter Marthel Leischnig für den Lebensunterhalt aufzukommen:

„ … meine Mutter hatte es dann sehr schwer. Sie hat ja kein Pfennig Geld vom Staat bekommen, die hat dann versucht Heimarbeit und alles Mögliche zu machen, dass wir über die Runden… Miete zahlen und Essen zahlen konnten. Aber im Dorf gab es auch nette Leute und wie ich in die Schule kam, ich habe Geschenke gekriegt (lacht) und hatte sogar 2 Zuckertüten.“

Renate Bekhet kommt im Frühjahr 1937 in die Schule. Die Sommerferien verbringt sie bei den Großeltern auf dem Bauernhof.

„Und wie die großen Ferien vorbei waren, da sagt meine Oma: „Willst Du bei uns bleiben?“ Und da sage ich: „Und meine Mutti? Erlaubt die denn das?“ „Ja, Deine Mutter ist im Krankenhaus.“ „Ja.“ „Ja, dann holen wir Deine Schulsachen, dann holen wir alles.“ Und ich war begeistert, dass ich dableiben konnte.“

Renate Bekheet erfährt erst später, dass ihre Mutter Marthel Leischnig verhaftet wurde.

„ … in Chemnitz, hat sie diese Traktate gegen Hitler verbreitet. Dass er es lassen soll die Zeugen zu verfolgen, sonst würde eben Gottes Strafe über ihn kommen. Und das haben die nachts um 4 Uhr überall unter die Hausmatten gelegt und die haben nicht geklingelt, nur überall, dass alle Leute das kriegten und die waren aber verraten worden von jemandem.“

Sie ist zuerst 2 ½ Jahr in Leipzig und Cottbus inhaftiert. Anschließend wird sie ohne Prozess ins Frauen-KZ Ravensbrück gebracht.

KZ Ravensbrück
In Ravenbrück muss sie schwere Arbeiten verrichten.

„Die mussten im KZ immer Sandberge verschaufeln und Steine schleppen und dann musste sie auch in der Landwirtschaft arbeiten. Aber eben ganz wenig Essen.“

Obwohl Marthel Leischnig keine getaufte Zeugin Jehovas ist, verweigert sie mit vielen anderen Zeuginnen Jehovas Munitionstaschen oder andere Dinge für den Gebrauch der Soldaten herzustellen. Dafür erhalten sie die Prügelstrafe.

„ … im KZ war sie auch bei denen dabei, die 25 Schläge auf den nackten Hintern gekriegt haben, wo die SS dabei gestanden hat, mit Marschmusik, die wurde so über den Bock geschnallt. Du dann haben die Marschmusik gemacht. 2 kriminelle Häftlinge wurden gut gefüttert, dass sie Kraft hatten und da hat jede Schwester 25 Schläge mit Knüppel auf  Ravensbrück 063den Hintern gekriegt. Die Hautfetzen sind nur so weggeflogen, Fleisch hatten die schon gar nicht mehr. Und der Himmler hat grinsend dabei gestanden.“
„Und nachts mussten sie im Bunker im Keller auf Steine liegen, da gab es 3 Tage gar kein Essen und am 3. Tag mal ein Kanten Brot, dass sie wenigsten überlebt haben … “

Marthel Leischnig ist gesundheitlich sehr angegriffen. Als ihre Freundin ermordet wird, verliert sie den inneren Halt. 1942 entschließt sie sich eine Verpflichtungserklärung zu unterschreiben und wird aus dem KZ entlassen. Welche der verschiedenen Texte der Verpflichtungserklärung sie unterschrieben hat, ist unklar. Anfangs unterschreibt man nur, dass man sich nicht mehr staatsfeindlich betätigen will. Später erklärt man durch die Unterschrift, dass man erkannt hat, dass die Lehre der Bibelforscher falsch ist und das man sich davon lossagt.
Obwohl sie die Verpflichtungserklärung unterschrieben hat, gibt sie ihren Glauben nicht auf. Sie lässt sich 1947 sogar als Zeugin Jehovas taufen und ist auch in der DDR noch aktiv verdeckt tätig.

(Musik)

Während die Eltern von Renate Bekheet im Gefängnis sind, verlebt sie ein glückliches Jahr bei ihren Großeltern und hat in der Schule nichts auszuhalten.
Ihre Tante ist der Meinung, sie müsse strenger erzogen werden und nimmt sie zu sich nach Chemnitz. Hier wird sie zum Schlüsselkind.

„… meine Tante war den ganzen Tag im Büro und mein Onkel war vom Militärdienst befreit, der war Werkmeister in einer großen Firma und unabkömmlich. Aber der war nur in der Firma, wie die anderen beim Militär. Der kam nur mal zum Schlafen nach Hause.“

Da ihre Tante ganztägig arbeitet und sehr vergnügungssüchtig ist, benutzt sie Renate Bekheet nur als Putzfrau und Hausangestellte.

„Und da hatte ich das Gefühl, die hat ein Dienstmädchen gebraucht und ich bin zu ihr mit 7 Jahren.“

Nach der Schule ist Renate Bekheet den ganzen Tag allein und liest sehr viel. Sie kann deshalb sehr gute Aufsätze schreiben, aber sie erhält nur schlechte Noten und wird ständig geschlagen. Sie schreibt für ihre Freundin die Aufsätze. Ihre Freundin bekommt die Einsen.
Ihre Lehrerin Frau Oswald ist nationalsozialistisch eingestellt. Sie lässt eines Tages alle Mappen in der Pause auf dem Schreibtisch liegen.

„Und wie ich Tafeldienst hatte, hat sie die ganzen Schülermappen liegen lassen auf dem Pult und ich sofort mal bei mir reingeguckt. Und da war so eine Pappmappe und da war so quer auf die erste Seite so rübergeklebt ‚Eltern im KZ, Bibelforscher’.“

Während des Krieges wird die Hälfte ihrer Schule als Lazarett genutzt und so kommt sie in eine andere Schule. Hier werden ihre Leistungen wieder gerecht bewertet.

(Musikakzent)

Einmal in der Woche muss Renate Bekheet zur NS-Umerziehung ins Jugendamt gehen.

„Und ich bin da gerne hingegangen. Die war sehr nett. Die hat vieles spielerisch mit mir gemacht, aber ihre Nazi-Sachen, die haben mich nicht interessiert, denn ich hatte einen festen Glauben an die Bibel.“

Sie kennt sich in der Bibel aus:

„Mein Großvater war ja sehr kirchlich, aber jeden Abend, vor allem im Winter, wenn es früh dunkel wurde, wurde Dämmerstunde gehalten und dann mussten auch die andern Enkel von oben mit runter kommen. Das waren 3 und ich war dann die 4. Und dann hat er jeden Abend so 3-4 Kapitel aus der Bibel vorgelesen, aber ohne jede Erklärung.“

Ihr Großvater schenkt ihr Bücher, in dem die Mädchen immer brav zuhause Strümpfe stopfen und dafür in den Himmel kommen.

„Und da waren dann Bilder, wo die Teufelchen das Feuer schmorten und die Leute mit schreckverzehrten Gesichtern in den Flammen standen.“:

Sie fragt einen Pfarrer:

Zeigen Sie mir doch mal, wo das in der Bibel steht, dass der Teufel das Feuer so schürt und die Leute so schmort. Ich kann es in der Bibel nicht finden. Ich suche es schon immer.“ Und da hat er gesagt: „Du hast nicht zu fragen, Du hast zu glauben.“. Da habe ich gedacht: „Na der ist vielleicht doof. Wozu habe ich einen Verstand?“ Da war es für mich gegessen. Den habe ich nie wieder gefragt.“

Renate Bekheet macht sich auch weiterhin Gedanken, über das, was in der Kirche gesagt wird.
„ …Als ich immer in den Ferien bei meinen Großeltern war, hat mich mein Oma mit in die Kirche genommen und es war ja schon mitten im Krieg. Und jeden Sonntag hingen mehr Kränze in der Kirche von den Gefallenen. Der Pfarrer hat dann immer den Tod dieser gefallen Soldaten bekannt gegeben. Und das war ein Geschluchze in der Kirche. Es war furchtbar. Und am Ende seiner Predigt hat er für den Sieg der deutschen Soldaten gebetet. Ich bin mit meiner Oma nach Hause. Meine Oma hatte 6 Kinder und da habe ich gesagt: „Oma, wenn Deine Kinder sich streiten, welchem Kind hilfst Du?“ „Meine Kinder streiten sich nicht.“ Und dieses Wortgeplänkel ging hin und her, bis sie dann sagte: „Was soll Deine blöde Frage?“ Da habe ich gesagt: „Hast Du es nicht gehört? Der Pfarrer hat für den Sieg der deutschen Soldaten gebetet. Guckt mal, es sind doch alles Gottes Kinder: Russen, Franzosen, Polen, Engländer und die beten jetzt doch alle für den Sieg ihrer Soldaten. Wem soll denn Gott jetzt helfen?“ „Ach“, hat sie gesagt, „lass mich in Ruhe“.

Ihre Mutter schreibt ihr einen Brief aus dem Gefängnis und erzählt ihr über ihre Religion, aber sie erhält den Brief nicht. Ihre Tante versteckt ihn. Sie findet ihn später und hat viele Fragen dazu.
Als Renate Bekheet bei ihren Großeltern wieder zu Besuch ist, findet sie auf der Toilette Auszüge aus dem Bibelbuch Daniel. Sie ist nun überzeugt, dass ihre Eltern die richtige Religion haben.

(Musik)

Renate Bekheet ist 11 Jahre als ihre Mutter aus dem KZ Ravenbrück zurückkehrt. Marthel Leischnig ist nur noch Haut und Knochen. Sie hat ständig Hunger. Sie lebt nun wieder bei ihren Eltern und traut sich nicht, sich bei ihnen satt zu essen. Heimlich isst sie die Kartoffeln der Hühner und ranziges Hafermehl.
Es dauert einige Zeit bis es ihr gesundheitlich besser geht.

Durch einen SS-Mann bekamen Renate Bekheet und ihre Mutter wieder Kontakt zu ihrem Vater.
„Und dann haben wir eines Tages Briefe von einem SS-Mann bekommen. Der hieß Gassmann und der hatte Freundschaft im KZ mit meinem Vater geschlossen und jetzt konnten wir über diesen SS-Mann Brief an meinen Vater schicken und Pakete.“

Renate Bekheet hatte inzwischen Steno gelernt und schreibt Wachtturm-Artikel in Steno ab.
Diese überbrachte der SS-Mann unwissentlich ihrem Vater ins KZ-Buchenwald.

(Musikakzent)

Inzwischen hat Marthel Leischnig ihrer Tochter einiges über ihre Erlebnisse erzählt.

„Wie meine Mutter da war, hat die mir alles erzählt. Und ich war bei den Jungmädchen und hatte eine Uniform. Da hat meine Mutter gesagt: ‚Renate, erspar mir diesen Anblick. Wenn du da hingehst, zieh Dich nicht um, damit ich Dich nicht sehe’. Und da habe ich das ganze Zeug in den Waschkeller gebracht. Habe mich unten umgezogen und dann habe ich gedacht: Die Nazis waren so schlimm … Da gehst du jetzt nicht mehr hin.’ Und in der Schule habe ich nicht mehr ‚Heil Hitler’ gesagt.

Sie wird von dem Schulleiter oft bestraft.

Und deswegen wollten die mich in ein Erziehungsheim bringen, weil ich in der Schule das alles nicht mehr mitgemacht habe. Aber die kamen nicht mehr dazu. Die Russen waren schneller. Das war das Gute.“

(Musik)

Sechs Wochen nach Kriegende kommt auch Renate Bekheets Vater aus dem KZ zurück.
Da er nachweisen kann, dass er im KZ gewesen ist, müssen die Großeltern ihr Haus nicht den Russen überlassen. Auch wird die russische Kommandantur nicht in Bockau eingerichtet.

Leischnig_otto-martel-renate_PicknickNun ist die Familie wieder vereint. Marthel Leischnig lässt sich 2 Jahre später als Zeugin Jehovas taufen.
Die Deutsche Demokratische Republik wird 1949 gegründet. Anfangs werden auch Zeugen Jehovas als Opfer des Faschismus anerkannt. Im Sommer 1950 werden die Zeugen Jehovas verboten. Die Anerkennungen werden wieder aberkannt.
Die Stasi sah mit Besorgnis das Wachstum dieser Religionsgemeinschaft. Für sie vertraten die Zeugen Jehovas eine „rivalisierende Ideologie“.

(Musikakzent)

Renate Bekheet absolviert eine Ausbildung in der Landwirtschaft und zieht zu ihrem Onkel auf den Bauernhof. Sie soll später den Hof übernehmen.
Renate Bekheet nimmt die Lehren der Zeugen Jehovas an und verweigert die Teilnahme an der Wahl.

„Und dann war Bauernversammlung an dem Tag wo Wahl war. Ich war natürlich nicht dort. Und dann hat einer von den Kommunisten gesprochen und dann hat er gesagt: „Ja, hier Dorf hat eine nicht gewählt. Das sind Helfershelfer für die amerikanischen Imperialisten, das sind Kriegshetzer, Boykotthetzer und hat geschimpft. Und hat meinen Namen genannt.

Sie lässt sich 1950 auf einem Kongress in Berlin taufen. Die Stasi versucht vergeblich ihre Reise nach Berlin zu verhindern.
Als Renate Bekheet zurückkehrt wird sie verhaftet. Der Hof ihres Onkels wird durchsucht und ihre Notizen beschlagnahmt.

„Und dann sollte ich ihm die Notizen erklären, was das heißt, weil ich bei 1.Kor. 15 und so hat ich da alles, haben die gedacht, das wären alles so Geheimcodes. … . Da habe ich gedacht: ‚Die Bibelstellen kann ich denen ja nennen, …’ Und dann hat er mir die Notizen in die Hand gegeben, dass ich sie ihm erklären sollte und habe ich ritsch ratsch in tausend Fetzen zerrissen und hingeschmissen.“

Das Verhör dauert mehrere Tage.

„Und dann hat er, am dritten Tag hat er gesagt: ‚Haben Sie Hunger?’ ‚Ich habe 3 Tage nichts zu essen, nichts zu trinken gekriegt und nicht geschlafen.’ ‚Sie waren doch auf den Kongress. Soviel geistige Speise.’ Das hat er direkt so gesagt. ‚Ach so’, habe ich gesagt, ‚wenn Sie auf einer politischen Schulung waren, essen Sie wohl auch 8 Tage nichts.’ Haben die alle gelacht da drinne. Halbe Stunde später hatte ich einen Pott schwarzen Kaffee, aber keine Bohnenkaffee, mit einem Stück Brot. Das hat gewirkt.“

Ein höherer Stasi-Offizier aus Dresden verhört sie danach.

„Und dann hat er gesagt: ‚Wieso haben Sie die Notizen zerrissen vor den Augen der Polizei?’ Habe ich gesagt: ‚Weil ich die für mich gemacht habe und nicht für die Polizei.’ Das lachten die anderen wieder. Und dann hat er noch so ein paar Fragen gestellt. Und das hat (denen) imponiert, wenn Du schlagfertig bist. Und dann hat er gesagt: ‚Sie Rotzgöre, Sie Grünschnabel. Hauen Sie ab, verschwinden Sie.“ Und da bin ich rückwärts gegangen, die wollen mich jetzt erschießen von hinten. Aber ich will von vorne erschossen werden. Bin ich rückwärts. Haben die gesagt: „Die traut uns nicht. Die geht rückwärts zur Tür. Die traut uns nicht.“

Renate Bekheet missioniert weiter und trifft sich mit anderen Zeugen Jehovas. Ein behinderter und sehr kranker Glaubensbruder verrät die Gruppe.
Renate Bekheet wird mit den anderen erneut verhaftet. Alle kommen nach 2 Wochen wieder frei.
(Musik)

Renate Bekheet zieht nach Zeuthen Kreis Königs Wusterhausen bei Berlin und missioniert nach der Arbeit.

Sie versorgt die russischen Soldaten mit verbotener Literatur der Zeugen Jehovas. Die Russen rufen sie „Fräulein Wachtturm“.

„Und dann war ja noch die eine Geschichte, wo wir im Regen standen und die Russen auf uns zukamen … Und … wir haben uns mit denen unterhalten. Weil es so geregnet hat und die waren sehr, vertrauenswürdig sahen die aus. Die haben gesagt: ‚Wir setzen uns hier in den LKW.’ Die waren da mit dem LKW. Dann werden wir nicht so nass und die Unterhaltung würde sie interessieren. Und dann hat dieser eine Offizier gesagt, ja er wäre im kommunistischen Kinderheim groß geworden. Die Deutschen hätten seine Eltern umgebracht und er hätte noch nie eine Bibel gesehen. Wer ist Jesaja? Wer ist Mose? Und wir hatten wirklich eine tolle Unterhaltung, weil die andere Pionierin konnte auch ganz gut Russisch. Noch besser wie ich. Und dann habe ich denen auch Literatur gegeben. Und dann hat der, der andere war Mongole, das war sein Bursche. (Das) wussten wir aber nicht. Da habe ich dann gesagt: „Die Literatur ist verboten“. Das habe ich den Russen immer gesagt, damit sie die ein bisschen versteckten. … ich habe gesagt: ‚Ihr dürft das nicht große Offiziere zeigen.’ Und dann hat der Mongole gesagt: ‚Was ist denn großer Offizier?’ Und da habe ich gesagt: ‚Wer hier so viele Sterne hat.’ Da hat der gelacht. Der wurde nicht wieder. Hat er gesagt: ‚Weißt Du, wer das ist? Das ist zweithöchste Mann von der Regierung in Karlshorst.’ In Karlshorst saß die russische Regierung.“

Renate Bekheet wird gesagt, dass die Stasi die Person sucht, die die Literatur den Russen übergibt.

(Musikakzent)

Als sich die Gelegenheit ergibt, geht nach Lohm, Kreis Kyritz.

Ihre Missionsversuche werden vom Pastor beobachtet. Der Pastor schwärzt sie beim Bürgermeister an.

„Und da hat der Bürgermeister gesagt, der war Kommunist: ‚Ich war im KZ und da war ich mit Zeugen Jehovas zusammen und wenn die SS Maßnahmen gegen diese Menschen ergriffen hat, ist denen immer die Strafe auf den Fuß gefolgt. …. Ich unternehme gegen das Mädchen nichts. Die ist so fleißig.’“
„ …die waren sehr beeindruckt die Bauern, weil ich habe jede Arbeit gemacht. … Aber ich habe alle Maschinen bedient und bin mit die Pferde gefahren. Ich bin raus in die Koppel, ich habe 12 Kühe gemolken und manchmal noch mehr. Und dann bin ich zur Molkerei gefahren. Und da haben die Bauern schon immer gewartet und Fragen gehabt, haben mich gefragt. Und der Pfarrer hat schräg rüber gewohnt von der Molkerei und das hat er beobachtet. Und der, in der DDR gab es ja Karten bis in die 70er Jahre. Und das war ja Anfang 1950 und da war er nicht auf seine Karten angewiesen, Lebensmittelkarten, denn die Bauern haben ihm Butter, Speck, alles gegeben. Und der hatte jetzt Angst, die ganzen Bauern würden Zeugen und er würde nichts mehr kriegen. Und weil der Bürgermeister mich nicht angezeigt hat, ist er nach Potsdam und hat mich beim Stasi angezeigt.“ [Anm.: lt. Renate Bekheet haben die Bauern nicht mehr die Kirche besucht und der Pfarrer wurde versetzt.]

Renate wird wegen „verbrecherischer Spionagetätigkeit, Boykotthetze und Mordhetze gegendemokratische Politiker“ zu 10 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Ihr Arbeitgeber erhält 8 Jahre.
Renate Beekhett kommt zuerst 3 Jahre nach Cottbus ins Gefängnis. Sie arbeitet dort als Hauptköchin.

„ … da wurde ich Hauptköchin für 5000 Leute, nich, da waren 3000, da waren drei 1000 l-Kessel. Da habe ich … auf dem Podest gestanden und die Rührlöffel waren wie vom Ruderboot solche Dinger. So habe ich die Suppe gerührt.
Und der Anstaltsleiter, der kam immer in die Küche. Der kannte meinen Vater vom KZ her. Und der wollte mir helfen, dass ich frei komme. Beim Hitler konnten die Zeugen unterschreiben, dass sie sich vom Glauben los sagen. Das gab es bei den Kommunisten nicht. Aber der hätte mir die Möglichkeit eingeräumt, wenn ich unterschrieben hätte, dass ich eben nicht mehr Zeuge sein würde, wäre ich frei gekommen.“

Renate Bekheet unterschreibt nicht.

(Musikakzent)

Durch Petra von Manteuffel, der Nichte des Generals [Anm.:Hasso von Manteuffel], bekommt sie eine Bibel. Die Bibel wird zerteilt und an viele Personen aufgeteilt.
Renate Bekheet erhält regelmäßig ein Paket von Ihrer Mutter, in dem Literatur versteckt ist.
So sind alle Zeuginnen Jehovas immer mit biblischer Literatur versorgt. Renate Bekheet gibt in der Nachtschicht die Literatur an die Glaubensbrüder weiter. Bei einer Razzia findet die Stasi Literatur. Sie verdächtigen sofort Renate Bekheet und entfernen sie aus der Küche.

Später wird Renate Bekheet in das Gefängnis Hoheneck bei Stollberg im Erzgebirge überstellt.
In Hoheneck sind zum Teil um die 100 Zeuginnen in einen Saal zum Schlafen untergebracht.
Sie halten sogar ihren Gottesdienst in dem Saal ab.
Sie wird für ein Vierteljahr von den Zeuginnen getrennt und zu den kriminellen Frauen verlegt. Die meisten der Frauen sind lesbisch.
Als die Stasi merkt, dass sie ihrem Glauben nicht abschwört, kommt sie zurück zu den Zeuginnen Jehovas.

In Hoheneck gibt keine Kanalisation, viele Inhaftierten stecken sich mit TBC an. Renate Bekheet setzt sich dafür ein, dass die Kanalisation gebaut wird.

„Wir mussten in erzgebirgischen Felsenboden, denn Stollberg ist ja Erzgebirge, 6 Meter tiefe Gräben machen. Und Freiheitsleute, Firmen von draußen haben dann die Rohre gelegt und die haben auch abgestützt. Dann mussten wir von ganz unten auf den Podest schaufeln, dann raus und über die Mauer. Und ich war immer sehr kräftig, weil ich aus der Landwirtschaft kam und ich habe dann manchmal für 2 ältere Schwestern mitgeschaufelt. Ich habe denen das hingeschaufelt, sag: ‚Macht langsam.’ Und dann bin ich hingerannt und habe es wieder zur nächsten und dann wieder. Und das haben die vom Turm beobachtet, aber die haben nichts gesagt. Die haben, die haben nur gesehen, wie wir zusammenhalten. Das hat die schon auch beeindruckt. Und dann hatten wir endlich Kanalisation. … da hatten wir auf jeder Zelle eine Toilette. Das war eine große, große Erleichterung. Das war aber in Hoheneck. In Cottbus hatten sie immer noch die Kübel.“

(Musikakzent)

Nach fast 5 Jahren Haft kommt sie überraschend frei.
Sie fängt sofort wieder an zu missionieren und gerät an das Haus eines Polizisten. Sie wird 4 Stunden verhört, darf aber wieder gehen.
Sie setzt sich am nächsten Tag nach Berlin ab und geht später in den Westen.
Hier setzt sie ihren Missionsdienst fort und kommt über einige andere Stationen nach Witzhausen.
Sie heiratet in Witzenhausen, bekommt Kinder und führt mit ihrem Mann eine Wäscherei.
Nach der Scheidung heiratet sie erneut und adoptiert 2 Kinder.

Inzwischen lebt sie allein. Sie ist mit über 80 Jahren noch immer ein wenig für die Wäscherei tätig und missioniert.

Bluthochdruck, Rückenprobleme und Herzprobleme behält sie als Folgeschäden aus der Haft zurück
Obwohl das Leben nicht immer gut zu ihr war, hat sie ihre positive Lebenseinstellung nicht aufgegeben.

Sie wurde von der „Freien Altenarbeit“ in Göttingen zum „Erzählcafé eingeladen, um ihre Geschichte zu erzählen. Roland Müller hat sie interviewt.
(Gedicht und Lied Meta Kluge 1957 in Hoheneck entstanden „Und wieder blühn dort draußen tausend Blumen“)

© Ingeborg Lüdtke

Dieser Artikel ist urheberrechtlich geschützt und darf nicht ohne meine Erlaubnis kopiert und verbreitet werden.

Text- und Data-Mining: Ich behalte mir eine Nutzung aller Inhalte dieser Webseite für kommerzielles Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

— Renate Bekhet verstarb am 16.09.2017- –

Die Familienfotos stammen aus dem Privatbesitz von Renate Bekheet, die auch die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung erteilt hat.

Weiterführende Literatur:

Sybylle Plogstedt, Knastmauke. Das Schicksal von politischen Häftlingen der DDR nach der Wiedervereinigung. Psychosozial-Verlag

Falk Bersch/Hans Hesse, “Wie ein dumpfer Traum, der die Seele schreckt”. DDR-Frauenvollzugs in Bützow-Dreibergen nach autobiografischen Aufzeichnungen von Meta Kluge . s.218, Klartext Verlag, 2006

Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. Heyne Taschenbuch 19/9. 39. Auflage (10. Auflage dieser Ausgabe), 2001. Seite 218, Bericht von Otto Leischnig

Veröffentlicht unter DDR, Frauen, Geschichte, Religion | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Noah Klieger kehrt zurück nach Mittelbau-Dora

Ausschnitt aus der Radiosendung “Noah Klieger im Audimax Nordhausen” ausgestrahlt im StadtRadio Göttingen am 11. November 2010

Der 80 jährige Noah Klieger ist zurückgekehrt (2007) an den Ort, an dem er viel leiden musste. Er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht über seine Inhaftierung in den KZ´s Malines (Mechelen), Auschwitz, Mittelbau-Dora und Ravensbrück zu berichten. Vor ihm sitzt in dem Vorlesungssaal der Gedenkstätte OLYMPUS DIGITAL CAMERAMittelbau-Dora eine Schulklasse. Sie sieht ihm sein Alter nicht an. Obwohl er nicht größer als 1,70 m sein mag, ist er eine imposante Erscheinung. Die schlohweißen Haare sind nach hinten gekämmt. Die Nackenhaare fallen in einer Innenrolle auf den Kragen der schwarzen langen Lederjacke. Eine Hand steckt in der Hosentasche und sein muskulöser Oberkörper wird versteckt durch das geschlossene braune Stoffhemd. Die schwarze Stoffhose passt zu den modernen schwarzen Lederschuhen.

Er verzichtet darauf, sich interviewen zu lassen. Als noch tätiger Journalist hält er den Veranstaltungsverlauf lieber selbst in der Hand. Er steht hinter einem Stuhl, dessen Sitzfläche ihm zu gewandt ist.

Der gebürtige jüdische Straßburger spricht perfektes Deutsch mit einem leichten weichen französischen Akzent. Er beginnt seine Erzählung mit der Verladung von ca. 150 Häftlingen in einen Viehwaggon. Sie befinden sich in Gleiwitz in Oberschlesien. Sie haben nichts zu essen und zu trinken. Menschen werden zu Tode getrampelt. Leichen liegen in Schichten aufeinander. Lebende sitzen auf den Toten. Am 1.2.1945 kommen sie Dora an. Sie werden in dem Kinosaal untergebracht.

Er erzählt flüssig, distanziert, sachlich. Zu sachlich. So als ob es nicht seine Geschichte ist.

Ihm wird dies bewusst und er merkt an, an dass es nicht so leicht war, wie es sich anhört.

Noah Klieger wird persönlicher und berichtet, dass er sich als französisch-politischer Gefangener ausgab. Er erhält einen roten Winkel mit einem F. Die SS sucht eine Gruppe Feinmechaniker. Er hat zwar keine Ahnung davon, besitzt aber als alter Häftling ein Gespür dafür, wann es gut ist, sich für einen Einsatz zu melden oder nicht. Andere die dieses Gespür nicht haben, melden sich unbewusst für Vernichtungstransporte.

Er muss eine Prüfung als Feinmechaniker ablegen. Wenn er sie nicht besteht, wird er aufgehängt.

Nur ein Wunder kann ihn retten. Die Schüler sind Mucksmäuschen still. Kein Flüstern, kein Räuspern.

Wird das Wunder geschehen? Noah Klieger lässt sie nicht teilhaben an seinen Ängsten, seinen Hoffnungen. Setzt seinen Bericht sachlich fort: Ein französischer Häftling verteilt die Prüfungsbogen und verschafft ihm die Lösungen. Er ist als Erster fertig. Er ist der Beste. Im Atelier besteht er auch die 2. Prüfung. Im Stollen ertönt die Frage: „Wer kann Deutsch?“. 5 Häftlinge melden sich. 2 Juden werden niedergeschlagen. Ihm hilft sein gutes Gedächtnis. Er kann sich gut an die Erzählungen seines Vaters über eine Münchner Kneipe erinnern. Der SS-Mann kennt die Kneipe. Dies hilft ihm. Er wird Vorarbeiter und gehört zu den Leuten des Mittelwerk-Betriebsdirektors Sawatzki und erhält etwas bessere Verpflegung. Er ist an dem Bau der Rakete V2 beteiligt.

Sie arbeiten langsam und schlampig. Verzögern die Produktion.

Nordhausen wird zerbombt.

Als das Lager evakuiert wird, wandert er ohne Verpflegung 10 Tage durch den Harz. Er lernt wie man im Schlafen gehen oder im Gehen schlafen kann. Die zweite Reihe der Marschierenden liegt im Gehen auf den Schultern der ersten Reihe.

Am 14.4.1945 kommt er in Ravensbrück an und wird am 29.4.1945 von der Roten Armee befreit.

Während er über die Befreiung spricht, nimmt er wieder die Rolle des Beobachters ein. Er berichtet wie zwei russische Offiziere beim Anblick der Leichenberge und dem Verwesungsgeruch in Ohnmacht fallen. Seine eigenen Empfindungen lässt er außen vor.

Nun bittet er die Schüler Fragen zu stellen. Die Schüler zögern. Er deutet an, dass er dann ja gehen könne. Zögerlich kommen die Fragen.

Jemand fragt, ob er seine Eltern wieder getroffen hat. Er hat beide Eltern wieder getroffen. Beide überlebten Auschwitz.

Warum ist er wieder an die Orte seines Leidens zurückgekommen?

Die Reise nach Ausschwitz ist für ihn eine Pilgerfahrt zu nichtvorhandenen Gräbern. Eine Hommage an die Toten. Außerdem ist es der Wunsch jedes Häftlings, der in Auschwitz war, als freier Mensch rein und raus gehen zu können.

Hat er traumatische Erinnerungen? Nein. Er konnte immer darüber erzählen. Andere haben Selbstmord begangen.

Eine Frau – später erfahre ich, dass es die Lehrerin ist – meldet sich, fragt nach dem Grund seiner Verhaftung.

Er reagiert sehr heftig. Er verlässt seinen Platz hinter dem Stuhl. Geht in den mittleren Gang, stellt sich vor ihre Reihe. Einige Stühle sind zwischen ihnen. Heftig sagt er: „Weil ich Jude bin! Wenn Sie das bis jetzt noch nicht mitbekommen haben, tun Sie mir leid.“ Er stapft wieder nach vorn. Ist ärgerlich.

Es ist still im Vorlesungssaal. Kein Raunen, kein Stirnrunzeln.

Welche Gedanken hielten ihm an Leben? Er wollte einen Tag nach Hitler leben, wollte überleben.

Hatte er Freundschaften in Dora? Ja, nur wenige Freunde. Oft kannte er die Namen nicht. Es gab Interessensgemeinschaften.

Hat es einige Mithäftlinge wieder getroffen? Ja seinen Freund Elie Wiesel und welche aus dem Block.

Die Schüler schweigen, wissen nicht was sie noch fragen sollen. Er ist irritiert. Gekränkt. Provoziert. „Hier steht einer der letzten Auschwitzüberlebenden. Bald gibt es keinen mehr. Wenn keine Fragen mehr sind, dann fahre ich jetzt nach Berlin“, sagt er fast trotzig. Die Schüler schweigen weiter. Spüren sie, dass sie nie die Geschehnisse des Lagers vollständig begreifen können? Dass sie es nicht schaffen können, ihn aus der Erzählerrolle zu drängen, damit er von seinen eigenen Leiden und Gefühlen spricht?

Er geht durch den Zwischengang Richtung Tür und wird von einigen Schülern und einem Begleiter angesprochen.

Vieles bleibt ungefragt. Vieles ungesagt.

Die Schüler erfahren nicht, dass er unter den mehr als 4500 Holocaust-Überlebenden war, die auf dem baufälligen Schiff „Exodus“ von Europa nach Palästina reisten, aber dort nicht bleiben durften.

(c) Ingeborg Lüdtke

Text- und Data-Mining: Ich behalte mir eine Nutzung aller Inhalte dieser Webseite für kommerzielles Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Buchempfehlung: Noah Klieger hat seine Erlebnisse in dem Buch “12 Brötchen zum Frühstück” niedergeschrieben.

Veröffentlicht unter Geschichte, KZ Auschwitz, KZ Mittelbau-Dora, NS-Geschichte | Verschlagwortet mit , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Leopold Engleitner verstarb am 21.4.2013 im Alter von 107 Jahren

EngleitnerLeopold Engleitner verstarb am 21.4.2013 im Alter von 107 Jahren. Im Juli wäre er 108 Jahre alt geworden. Auf persönlichen Wunsch wurde er in aller Stille beigesetzt.

Er war der älteste Überlebende des KZ Buchenwald.

Als er 100 Jahre alt wurde, erschien der Film “Ungebrochener Wille” von Bernhard Rammerstorfer.
Einen ausführlichen Bericht findet man unter https://www.radio-uebrigens.de/?p=138

Veröffentlicht unter Geschichte, KZ Buchenwald, KZ Niederhagen - Wewelsburg, KZ Ravensbrück, NS-Geschichte | Verschlagwortet mit , , , | Schreib einen Kommentar

„Weil ich nicht ‚Heil Hitler‘ sagte“

Die Sendung wurde am 15. November 2004 in dem Magazine „MixUp“ ausgestrahlt

Interview Dr. Hans Hesse mit Erna Ludolph in der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück

Sprecherin:

Im September 2002 sprach Erna Ludolph in der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück mit dem Historiker Dr. HansLudolph Hesse Hesse über ihre Erlebnisse.

Dr. Hans Hesse:

Frau Ludolph Sie sind mittlerweise in einem Alter, wo ich Sie ruhig fragen darf, wie alt Sie sind oder?

Erna Ludolph:

94, demnächst 95.


Dr. Hans Hesse:

94, demnächst 95. Frau Ludolph, warum sind Sie verhaftet worden?


Erna Ludolph:

Weil ich nicht „Heil Hitler“ sagte und denunziert wurde. Diese Denunziantin war eine Kommunistin. Sie hatte es nötig, sich wieder eine neue Basis zu schaffen und hat dann einen Beweis bringen müssen, dass sie sich wirklich umgestellt hatte und hat mich als Opfer genommen.

Sprecherin:

Erna Ludolph kommt daraufhin 3 Monate in das Zuchthaus Lübeck-Lauerhoff. Fast ein Jahr nach ihrer Freilassung verteilt sie einen „Offenen Brief“, der auf die Verfolgung und Mißhandlungen der Zeugen Jehovas aufmerksam macht. Sie wird denunziert und kommt erst in das Gefängnis Bützow-Dreibergen und wird nach ihrer Entlassung in das Frauen-KZ Moringen überstellt. In ihrem Lebensbericht schreibt sie: „Alles war sehr eng. Man hatte Mühe einen Sitz- und Schlafplatz zu finden.“ Sie findet nur deshalb ein freies Bett, weil in der Decke ein Loch war und es dort manchmal hereinschneit. Später kommt sie in das KZ-Lichtenburg. Dies war aber nicht die letzte Station.

Dr. Hans Hesse:
Sie kamen ja dann nach Ravensbrück.

Erna Ludolph:
Ja.

Dr. Hans Hesse:

Wann?

Erna Ludolph:

1939.

Dr. Hans Hesse:

Das heißt also, Sie gehörten zu den ersten Bibelforscher- Häftlingen (Zeugen Jehovas) hier in Ravensbrück?

Erna Ludolph:
Ja.

Dr. Hans Hesse:

Haben Sie auch diese Situation vom 19. Dezember 1939 mit dem Nähen der Pistolentaschen für die Wehrmacht miterlebt?

Erna Ludolph:

Das ist das Thema! Ich kam in den Nähsaal. Dann eines Tages kommt die Aufseherin und sagt: „Alle heraustreten.“ Es war ein harter Winter. „Ihr braucht Euch keinen Mantel, keine Jacke anziehen. Ihr kommt gleich wieder rein.“ Und habe ich gesagt: „Zieht Eure Jacken an.“ Und dann standen wir vor der Baracke und dann war der Kommandant Kögel da. Er hatte da eine kleine Nähtasche in der Hand. „Wer diese Nähtaschen für unsere Soldaten nicht nähen will, der trete auf die andere Seite.“ Der Mann hatte noch nicht ausgesprochen, da war ich schon gleich die Erste [auf der anderen Seite] und alle anderen kamen nach. Plötzlich war die Seite leer. Der ist schneeweiß geworden. Eine solche Reaktion hatte der nicht erwartet. „Ab hinter den Zellenbau und ZellenbauKrematoriumverreckt.“ Dann sind wir hinter den Zellenbau gekommen. Du dann sind wir dahin und haben als erstes Kommando Strafe stehen müssen bei uns so und soviel Grad Kälte. Es war da der Stalingrad-Winter, Dann kamen die Kolonnen, die im Außendienst waren nach und nach herein und wurden dann bei der Pforte gleich gefragt, ob sie diese Taschen für die Soldaten nähen wollten. Die waren alle stur, bis wir alle bei einander waren.. Dann haben die zum Schluss sogar noch die aus dem Revier [Anm.:Krankenstation] geholt und die standen auch da. Dann haben wir den ganzen Tag ohne Essen und ohne alles stehen müssen und das drei Tage lang, raus und rein und so weiter. Bis wir dann in diesen Baracken mit 7-9 Personen in der Zelle waren.

Dr. Hans Hesse:

9 Personen.

Erna Ludolph:

Und da war nur ein Bett an die Wand geschnallt. Und da hatten wir [auf dem] Fußboden weder Stroh noch eine Decke, auch nichts unter dem Kopf. Da mussten wir auf dem Fußboden bei 32 ° Kälte [in der ungeheizten Zelle schlafen]. Es hat Wochen gedauert bis wir hinaus mussten. Das war dann aber das Ende.

Sprecherin:

Die Haftbedingungen ändern sich für sie. Später arbeitet sie erst in der Gärtnerei und dann in einem Privathaushalt. Kurz vor Kriegsende wird sie entlassen. Sie verstarb am Sonntag den 26. September 2004 im Alter von 96 Jahren.

© Ingeborg Lüdtke

Text- und Data-Mining: Ich behalte mir eine Nutzung aller Inhalte dieser Webseite für kommerzielles Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Veröffentlicht unter Frauen, KZ Ravensbrück, NS-Geschichte | Verschlagwortet mit , , , , | Schreib einen Kommentar

Glosse: Was so alles in der Zeitung steht

Magazin “Mix Up” im Stadt Radio Göttigen ausgestrahlt am 2. Februar 2004

Was so alles in der Zeitung steht…

Mal Hand auf Herz, glauben Sie alles was in der Zeitung steht?Zeitung
Ich hatte da so seit geraumer Zeit so meine Zweifel, aber seit letztem Sonntag zweifele ich entweder an mir oder an der Zeitung.

(Musik: Geigen)

Da las ich doch unter der Überschrift:
LIVE: André Rieu in Göttingen. Ein Geigen-Paradies
„Die Lokhalle hing voller Geigen.“

Hm, eigentlich hingen da 50 Kronleuchter an der Decke. Schließlich habe ich sie alle einzeln nachgezählt.
Oder waren das verzauberte Geigen die da hingen??

(Musik)

Dass André Rieu uns in eine andere Welt entführte, stimmte ja und die Show und die Musik waren auch perfekt.
Alles wahr.
Aber..

Ja aber was sollte das denn hier schon wieder:
„Drei Stunden lang dauerte ein Rieu-Konzert.“
Wieso eigentlich 3 Stunden?
Von 20 Uhr bis 22 Uhr sind doch nur 2 Stunden und dann als Zugabe noch 35-40 Minuten.
Also nee, 3 Stunden waren das nicht.
Oder sollte es etwa am Freitag beim ersten Konzert länger gedauert haben??
Frechheit…

(Musik)

Also weiter im Text:
„Dazwischen plauderte Rieu mit seinen Fans.“
Also mit mir hat er nicht geplaudert. Na ja, er erzählte einige nette Geschichtchen zwischendurch, aber persönlich mit den Fans geplaudert, ist was anderes.

Na und dann dies hier erst mal:
„So wiegte sich die ganze Lokhalle in Dreivierteltakt.“
Das stimmt ja schon ganz und gar nicht.
In unserer Reihe hat sich nichts gewiegt.
Der mir bekannte Herr zu meiner Rechten hatte schon im Vorfeld angekündigt, er wolle auf keinen Fall schunkeln und der unbekannte Herr links von mir machte ebenfalls keine Anstalten sich einzuhaken.
Unter meinen Füßen wiegte sich auch nichts.

(Musik)

Und zu guter letzt steht hier noch: “Die Zuschauer tanzten mehr nach Hause, als dass sie gingen.”
Das stimmt auch nicht, es tanzte keiner nach Hause. Die Massen bewegten sich zur Garderobe und der uns begleitende Herr hatte schon im Vorfeld betont, wenn wir 2 Frauen tanzen wollten, dann mussten wir uns überlegen, wer führt…
Irgendwie war das letzte Lied auch mehr ein Schlaflied weniger eine Aufforderung zum Tanz.
Erst dachte ja er spielt „Leise rieselt der Schnee..“

Also wenn ich diesen Artikel so lese, dann frage ich mich, ob ich den Sekt in der Pause nicht doch zu schnell getrunken habe. Habe ich deshalb Gedächtnislücken??

Oder was mich noch viel mehr beschäftigt: Hat André Rieu etwas am Freitag etwas anderes gespielt.
Hätten wir doch Freitag gehen sollen?
Oder stimmt das eher etwas Jimmy Durante einmal sagte:
„Kritiker sind Leute, die einem sagen, ob man ein Konzert genossen hat oder nicht…“

© Ingeborg Lüdtke


Die Glosse bezieht sich auf ein Konzert im Januar 2004 und auf einen Artikel im “Extra Tip” vom 25.01.2004

Text- und Data-Mining: Ich behalte mir eine Nutzung aller Inhalte dieser Webseite für kommerzielles Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Veröffentlicht unter Unterhaltung | Verschlagwortet mit , , | Schreib einen Kommentar