„Der Schmerz“ – Hintergründe zum Theaterstück

Bad Gandersheimer Domfestspiele 2003: Hintergründe zum Theaterstück „Der Schmerz“

Das Theaterstück „Der Schmerz“ wird auch in diesem Jahr (2003) wieder während der Bad Gandersheimer Domfestspiele aufgeführt. Es ist eine Collage aus dem Tagebuch „Der Schmerz“ von Marguerite Duras und dem Buch „Das Menschengeschlecht“, das ihr damaliger Mann Robert Antelme geschrieben hat. Der französische Widerstandskämpfer Robert Antelme gelangte über das KZ Buchenwald in das Außenlager Brunshausen bei Bad Gandersheim. Die spätere berühmte Schriftstellerin Marguerite Duras wartete verzweifelt in Paris auf ein Lebenszeichen oder die Todesnachricht ihres deportierten Mannes.

Klosterkirche Brunshausen

Klosterkirche Brunshausen

Aus den Aufzeichnungen von Robert Antelme geht hervor, dass sich das KZ Brunshausen in der Klosterkirche Brunshausen befand, eben jenen Ort, an dem das Theaterstück aufgeführt wird. Der Historiker Dr. Joachim Neander erklärte: „Gandersheim war ein kleines KZ. Es hatte im Schnitt etwa 500 Häftlinge. Es war also ein reines Arbeits-KZ. Die Häftlinge hatten nichts weiter zu tun, als dort unter ziemlich schrecklichen Bedingungen Sklavenarbeit für einen Rüstungsbetrieb (einem Zweigwerk der Heinkel-Flugwerke) zu leisten.“

Das KZ Brunshausen wurde am 4. April1945 vor den US-Truppen evakuiert. Am Morgen des Abmarsches wurden 40 kranke und schwache Häftlinge in ein Wäldchen bei Clus getrieben, erschossen und in einem Massengrab verscharrt. In dem Theaterstück zeigt der Schauspieler Daniel Fries recht eindrucksvoll den imaginären Abmarsch der kranken Häftlinge Richtung Wald, wenn er sagt: „Jetzt würden sie nach links einbiegen, um auf die Straße zu kommen … man musste nach links einbiegen, nach links (schreit), nach links. Die Gruppe ist nach rechts abgebogen.“

Im Sommer 2002 wurde dieser Weg von der Klosterkirche bis zum Massengrab als Robert-Antelme-Weg eingeweiht.

Massengrab

Massengrabals Robert-Antelme-Weg eingeweiht.

Robert-Antelme-Weg

Robert-Antelme-Weg

Zur Einweihung kam auch der ehemalige politische Häftling Willy Semon. Er war sowohl selbst Häftling als auch einer der Bewacher, die die Kranken zum Wäldchen treiben mussten. Sichtlich bewegt, berichtete er wie er der Erschießung zusehen musste und später aufgefordert wurde, die halbtoten Kameraden ganz zu töten. Er hat dies abgelehnt.

An diesem Ort des Grauens berichtete er auch von seinem guten Freund Bernhard Döllinger, ein Zeuge Jehovas. Bernhard Döllinger war

Gedenkstein Bernhard Döllinger

Gedenkstein Bernhard Döllinger

bei der anderen Gruppe, die evakuiert wurde. Er war der zweite Häftling, der auf der ersten Etappe von Bad Gandersheim nach Bad Grund erschossen wurde. Der Historiker Dr. Joachim Neander konnte anhand der Aufzeichnungen genau nachweisen, an welcher Stelle Bernhard Döllinger ermordet wurde. Am 5.April 2000 wurde dort der Gedenkstein bei Bad Grund unterhalb des Parkplatzes „Iberger Tropfsteinhöhle“ im Teufelstal eingeweiht. Die Ermordung Bernhard Döllingers hatte noch ein gerichtliches Nachspiel in Göttingen. Der SS-Mann Albert Jokkussies und der Kapo Fritz Sohl wurden angeklagt, an der Ermordung beteiligt gewesen zu sein. Beide wurden zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Sie haben aber nur circa zwei Jahre davon abgesessen. Joachim Neander berichtete über weitere Ermordungen auf dem sogenannten „Todesmarsch vom KZ Bad Gandersheim“ bzw. Brunshausen: „Die nächsten zwei waren Franzosen, die etwa 500 m weg von der Stelle, wo Bernhard Döllinger ermordet wurde, ermordet wurden.“ Bei Clausthal Zellerfeld wurden 21 Häftlinge ermordet. Zu Fuß mussten die Häftlinge auf dem Marsch bis nach Maisdorf in der Nähe von Thale im Ostharz weitergehen. Der Transport teilte sich danach auf. Einige Russen und Polen konnten fliehen. Auch Willy Semon floh. Der Rest des Transportes zog anfangs auf Treckern und später zu Fuß bis Bitterfeld weiter, per Bahn kam er über Dresden und Prag am 27. April 1945 nach Dachau. Zwei Tage später wurde das Lager von den US-Truppen befreit. Den Todesmarsch überlebten ca. 150 Häftlinge. Auch der französische Widerstandskämpfer Robert Antelme überlebte. Er wurde von Francois Mitterand in einem Leichenhaufen todkrank entdeckt und nach Paris transportiert. Seine Frau Marguerite Duras pflegte ihn aufopferungsvoll gesund und ließ sich danach wegen einem anderen Mann scheiden.

© Ingeborg Lüdtke

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Fotos: Karlo Vegelahn und Ingeborg Lüdtke

Literaturhinweis:

Robert Antelme, Das Menschengeschlecht, dtv 11279

Paul Le Goupil, Gigi Texier, Pierre Texier, Bad Gandersheim -Autopsie eines Außenkommandos von Buchenwald, Stadt Bad Gandersheim

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KZ-Außenlager Bad Gandersheim: Todesmarsch und Gerichtsurteil

Ein Sendung vom 3. April 2000 über den Todesmarsch vom KZ-Außenlager Brunshausen bei Bad Gandersheim, der am 4.4.1945 begann und dem dazugehörigen Göttinger Gerichtsurteil

Am 4. April 2000 jährt sich der Beginn des Todesmarsches vom KZ-Außenlager

Klosterkirche Brunshausen

Klosterkirche Brunshausen

Brunshausen zum 55. Mal. Das ehemalige KZ-Außenlager Brunshausen lag bei Bad Gandersheim. Anlässlich des Jahrestages findet am 4. April 2000 in der ehemaligen Klosterkirche Brunshausen eine Sonderveranstaltung um 19 Uhr statt. Der Historikers Dr. Joachim Neander spricht über das Thema „Die Ermordung von Zeugen Jehovas auf dem Todesmarsch vom KZ Bad Gandersheim“.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich war sehr erstaunt zu lesen, dass es in Bad Gandersheim ein KZ gegeben hat. Bei Bad Gandersheim fallen mir immer nur die Domfestspiele ein.

Inzwischen habe ich einige Nachforschungen angestellt und bin folgenden Fragen nachgegangen:

Wo befand sich das KZ in Bad Gandersheim? Worin bestand die Tätigkeit der KZ-Häftlinge?

Was hat es mit dem Todesmarsch auf sich?

Und vor allem, was hat dies mit Göttingen zu tun?

In dem „Heimatgeschichtlichen Wegweiser zu Stätten des Widerstandes“ und der Verfolgung 1933-1945, Bd. 2 fand ich folgenden Hinweis.

Ich zitiere auszugsweise:

Klosterkirche Brunshausen bei Bad Gandersheim

Klosterkirche Brunshausen bei Bad Gandersheim

„Von Anfang Oktober 1944 bis zum 4.4.1945 bestand im heutigen Ortsteil Brunshausen ein Außenkommando des Konzentrationslagers Buchenwald. In der ehemaligen Kirche des Klosters Brunshausen wurden zunächst etwa 250 Häftlinge untergebracht; deren Zahl stieg dann auf über 500 bis zur Evakuierung im April 1945. Am 4.April 1945 wurde dieses Außenkommando vor den näherkommenden US-Truppen „evakuiert“, und zwar in zwei Richtungen: zum Ort

Massengrab im

Massengrab im Wäldchen bei Clus

Meßdorf …, wo die Gefangenen am 12. April 1945 ankamen; und in Richtung Dachau, das nur noch ein Teil der Häftlinge am 27./28.April 1945 erreichte. Vor dem Abmarsch in Richtung Dachau kam es zu einer brutalen Vernichtungsaktion: Am frühen Morgen wurden etwa 40 kranke und schwache Häftlinge in ein Wäldchen bei Clus getrieben dort erschossen und in einem Massengrab verscharrt.“

Ich hatte Gelegenheit den Historiker Dr. Joachim Neander persönlich über das KZ Bad Gandersheim zu befragen.

Ingeborg Lüdtke:

Herr Dr. Neander, zunächst möchte ich Sie bitten, erstmal etwas über Ihre Person zu berichten.

Dr. Joachim Neander:

Ich bin Lehrer in Clausthal am Gymnasium Robert-Koch-Schule [Anm.: inzwischen pensioniert]. Unterrichte Mathematik und Physik und beschäftige mich seit etwa 7 Jahren mit der Geschichte der Konzentrationslager in der Harzregion. Ich bin darauf gekommen, weil ich eine Arbeit von Schülern und Schülerinnen betreut habe, die sich am Geschichtswettbewerb um den Preis des Bundespräsidenten beteiligt haben und wir haben uns hier ein Denkmal für ermordete KZ-Häftlinge angeschaut, dass hier in der Nähe von Clausthal Zellerfeld steht und das war das Interessante dabei. Es wurde immer in der bisherigen Literatur geschrieben, es seien Häftlinge des KZ Dora Mittelbau gewesen, aber wir haben nachweisen können, dass es sich um Häftlinge des KZ Gandersheim gehandelt hat.

Ingeborg Lüdtke:

Das ehemalige KZ in Bad Gandersheim befand sich ja in Brunshausen in der ehemaligen Klosterkirche. Welche Tätigkeiten hatten die Häftlinge dort auszuführen?

Dr. Joachim Neander:

Die Häftlinge mussten in einem Zweigwerk der Heinkel-Flugzeugwerke [arbeiten], das von Mielec in Polen im Sept. 1944 nach Bad Gandersheim verlegt wurde und zwar mussten sie dort aus Halbfabrikaten Flugzeugrümpfe montieren.

Ingeborg Lüdtke:

Das KZ Bad Gandersheim war ja eine Außenstelle von dem KZ in Buchenwald. Kann man die Zustände in dem KZ Bad Gandersheim mit den Zuständen in Buchenwald gleichsetzen?

Dr. Joachim Neander:

Nein, das kann man nicht. Buchenwald, war ein großes Stammlager mit einer großen eingespielten Organisation, sowohl innerhalb der SS als auch der Häftlinge. Gandersheim war ein kleines KZ. Es hatte im Schnitt etwas 500 Häftlinge und all das, was man so aus den großen Konzentrationslagern hört, das gab es dort nicht. Es war also ein reines Arbeits-KZ. Die Häftlinge hatten nichts weiter zu tun, als dort unter ziemlich schrecklichen Bedingungen Sklavenarbeit für einen Rüstungsbetrieb zu leisten.

Ingeborg Lüdtke:

Ist auch bekannt welche Häftlingsgruppen es in dem KZ gab?

Dr. Joachim Neander:

Ja, es heißt, dass es Häftlinge aus 14 Nationen waren. Ich weiß es also nicht ganz so genau, weil ich nicht die Lagerkartei zu Gesicht bekommen habe, aber ich kann anhand der Unterlagen, die ich eingesehen habe folgende aufzählen: Reichsdeutsche, Volksdeutsche, Franzosen, Italiener, Russen, Ukrainer, Polen, Spanier, Holländer … ja, das sind schon mal eine ganze Menge.

Ingeborg Lüdtke:

Ja, das stimmt.

Dr. Joachim Neander:

Und unter den Deutschen befanden sich auch zwei Zeugen Jehovas, damals noch im KZ-Jargon als Bibelforscher bezeichnet.

Ingeborg Lüdtke:

In Ihrem Vortrag referierten Sie über „Die Ermordung von Zeugen Jehovas auf dem Todesmarsch vom KZ Bad Gandersheim“. Können Sie uns Näheres über den Todesmarsch berichten?

Dr. Joachim Neander:

Ja, das KZ wurde am 4.April 1945 evakuiert, wie das so schön heißt. Die Häftlinge mussten also zu Fuß abmarschieren. Wohin sie sollten, dass ist nicht ganz bekannt. Ich vermute, weil sie die erste Woche lang in Richtung Osten … Nordosten marschiert sind, dass sie möglicherweise zu dem KZ Heinkelwerke Oranienburg sollten. Es würde auch naheliegen, weil sie auch für Heinkel gearbeitet haben. Es wurden am Morgen des Abmarsches 40 Häftlinge in ein Wäldchen nahe den KZ geführt. Man hat den Häftlingen gesagt, man brächte sie nach Bad Gandersheim ins Lazarett und man hat sie dort ermordet, verscharrt. Es [ist] dann auf der ersten Etappe von Bad Gandersheim nach

Gedenkstein Bernhard Döllinger

Gedenkstein Bernhard Döllinger

Bad Grund, … ein Häftling ermordet worden und zwar eben ein Zeuge Jehovas von dem wir den Namen nicht kennen. Das nächste Todesopfer auf dem Marsch war dann am Morgen des 4. April bei Bad Grund Bernhard Döllinger, ein Bibelforscher, über dessen Ermordung wir sehr genau Bescheid wissen. Die nächsten Zwei waren Franzosen, die etwas 500 m weg von der Stelle, wo Döllinger ermordet wurde, ermordet wurden. Dann sind auf dem Wege von Clausthal Zellerfeld nach Braunlage 21 Häftlinge bei Clausthal Zellerfeld ermordet worden und dann weiß ich noch definitiv, dass ein Häftling in Werningerode gestorben ist oder ermordet wurde. Also das weiß ich nicht genau, dass der dort begraben wurde, auf dem Gelände der Ziegelei Heuer, wo die Häftlinge zwei Tage geblieben waren. Der Marsch ist dann zu Fuß weitergegangen bis nach Maisdorf. Das liegt in der Nähe von Thale im Ostharz, nicht Meßdorf wie im „Heimatgeschichtlichen Wegweiser“ steht. Und dort hat sich der Transport praktisch aufgespalten. Eine größere Gruppe Polen und Russen konnte fliehen und der Rest, [der] dann noch ein Stück mit Treckern weitertransportiert [wurde], musste dann wieder zu Fuß marschieren bis Bitterfeld. [Er] ist dann von da auf die Bahn verladen worden [und] über Dresden, Prag nach Dachau gekommen und ist … am 27.April eingetroffen. Zwei Tage bevor das Lager von den Amerikaner befreit wurde. Von den etwas über 500 Häftlingen dürften einschließlich derjenigen, die fliehen konnten, maximal 150 überlebt haben. Deshalb ist dieser Evakuierungstransport zurecht als Todesmarsch bezeichnet worden.

Ingeborg Lüdtke:

Gibt es denn auch noch einen Zeitzeugenbericht von einem Überleben?

Dr. Joachim Neander:

Der französische Literat Robert Antelme [Antelme geschrieben), hat ein Buch geschrieben, kurz nach seiner Befreiung. Dieses Buch ist auch auf Deutsch übersetzt [worden]. Seit 1987 [ ist es] erhältlich unter dem Titel „Das Menschengeschlecht“ und er beschreibt sehr ausführlich die Lebensbedingungen im KZ Gandersheim und auch den ganzen Evakuierungsmarsch bis Dachau.

Ingeborg Lüdtke:

Und was uns als Göttinger noch ganz besonders interessiert ist: Welche Verbindung besteht zwischen dem KZ Bad Gandersheim und Göttingen?

Dr. Joachim Neander:

Ja, also die Beziehung, die mir da als erstes auffällt, ist eben die, dass im Juli 1949 ein Prozess vor dem Schwurgericht in Göttingen stattfand gegen einen SS-Mann [Anm.:Albert Jokussies] und einem Kapo [Anm.: Friedrich Sohl], als einen Häftling, der mit Wachfunktion auf dem Todesmarsch beauftragt war. Die beide (wurden] angeklagt und auch verurteilt, … an der Ermordung dieses Zeugen Jehovas Bernhard Döllinger bei Bad Grund beteiligt gewesen zu sein. Dieser Prozess ist in Göttingen geführt worden und das ist also sozusagen einmal die nächste Verbindung zwischen Göttingen und dem KZ Gandersheim.

Spercherin:

Vielleicht haben Sie sich auch gerade gefragt, wie hoch das Strafmass für die beiden Angeklagten war?

Das Urteil lautete: (Originalton von Dr. Joachim Neander aus dem Alten Rathaus)

„Im Namen des Rechts – Strafsache gegen den Transportarbeiter Albert Jokkussies … und den Bürstenmacher Fritz Sohl … wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit in Tateinheit mit Beihilfe zum Mord. Das Schwurgericht in Göttingen hat in der am 6.Juli 1949 begonnen und am 7. Juli 1949 beendeten Sitzung für Recht erkannt: Die Angeklagten werden wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit, in Tateinheit mit Beihilfe zum Mord ein jeder zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt [Anm.: Zitat Adelheid Rüter-Ehlermann/ C.F. Rüter: Justiz und NS-Verbrechen]“

Allerdings brauchten die beiden in Göttingen Verurteilten die Strafe nicht voll absitzen. Albert Jokussies kam aufgrund eines Gnadengesuchs im September 1951 frei. Fritz Sohl kam schon im Juli 1951 frei.

An den Stätten, wo die beiden „Zeugen Jehovas“ ermordet wurden, erinnert bisher nichts und niemand an das Verbrechen. Dies soll nun anders werden.

Am 5. April 2000 findet die Übergabe eines Gedenksteines [Anm.:s.o. Foto des Gedenksteines für Bernhard Döllinger] bei Bad Grund unterhalb des Parkplatzes „Iberger Tropfsteinhöhle“ im Teufelstal statt. Die Grußworte wird der Bürgermeister von Bad Grund Dr. Wolfgang Domröse sprechen.

Anschließend gibt es noch einige „erläuternde Worte zur Ermordung des Zeugen Jehovas Bernhard Döllinger“ von Dr. Joachim Neander.

Schlusswort:

Vielleicht hat sich nun der eine oder andere gesagt:

„ Das ist ja alles sehr schrecklich, aber warum können wir die Vergangenheit nicht endlich ruhen lassen? Heute wird doch niemand mehr auf die Idee kommen diese Vergangenheit zu wiederholen.“

Wurde aus der Vergangenheit tatsächlich gelernt?

Wie sieht es heute in einigen Teilen Europas mit der Menschlichkeit aus?

Wie menschlich ist der Mensch?

© Ingeborg Lüdtke

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Bilder: Mit freundlicher Genehmigung von Karlo Vegelahn

Literaturhinweis:

Adelheid Rüter-Ehlermann/ C.F. Rüter: Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen Nationalsozialististischer Tötungsverbrechen 1945-1966. Bd. 5. Die vom 03.06.1949 bis zum 21.12.1949 ergengenen Strafurteil Lfg. Nr. 148-191. Bearbeitet im „Senarium voor Strafrecht en Strafrechtspleging Van Hamel“ der Universität von Amsterdam. University Press Amsterdam, Amsterdam 1970, S.. 127-138

Petra Schmidt/Victoria Breitenfeld, Opfer und Täter in einer Person. Zwei Biographische Skizzen aus: Dachauer Hefte Nr. 10 (November 1994): „Täter und Opfer“. S. 167-190

„Heimatgeschichtlichen Wegweiser zu Stätten des Widerstandes“ und der Verfolgung 1933-1945, Bd. 2: Niedersachsen I.Regierungsbezirke Braunschweig und Lüneburg. Hrsg. Studienkreis zur Erforschung und Vermittlung der Geschichte des Widerstandes 1933-1945 und dem Präsidium der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten, Pahl-Rugenstein Verlag, S. 33

Ulrike Puvogel/ Martin Stankowski unter Mitarbeit von Ursula Graf, Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation. 2. überarbeitet Auflage, Hrsg. Bundeszentrale für politische Bildung. S. 376-377

Joachim Neander, Giovanni aus: Allgemeiner Harz-Berg-Kalender für das Jahr 1995, Piepersche Druckerei GmbH, Clausthal-Zellerfeld, 1994, S.20-25

Zeitschrift „Südniedersachsen“, Hrsg. Verein Südniedersächsischer Heimatfreunde e.V., Northeim 1999, Beitrag von Joachim Neander (weitere Angaben nicht bekannt)

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Keiner wollte etwas wissen

Der Mitschnitt der Lesung wurde am 27. Januar 2005 im StadtRadio gesendet

Zeitzeugin Charlotte Tetzner las im Holbornschen Haus aus ihrem Buch “Frierende

 

Der Historiker Dr. Hans Hesse mit Charlotte Tetzner im Holbornschen Haus

Der Historiker Dr. Hans Hesse mit Charlotte Tetzner im Holbornschen Haus in Göttingen

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus“ las Zeitzeugin Charlotte Tetzner vor 80 Anwesenden aus ihrem neuen Buch „Frierende“. Mit der Inhaftierung Charlotte Tetzners im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück beginnt der Leidensweg der 1920 geborenen Zeugin Jehovas durch fünf nationalsozialistische Konzentrationslager. Verhaftet wurde sie als Kommunistin, im Lager war sie mit Zeuginnen Jehovas zusammen und weigerte sich dann dem neu erworbenen Glauben abzuschwören. Im KZ Auschwitz trennte sie den roten Winkel der Kommunisten ab und nähte sich den lila Winkel der „Bibelforscher“ an ihre Kleidung. Nach der Räumung von Auschwitz im Januar 1945 kam sie auf Irrwegen über Bergen-Belsen in das KZ Mittelbau-Dora. Nach der Bombardierung Nordhausens im April 1945 endete der Todesmarsch im Harz , Charlotte Tetzner und 25 Glaubensschwestern waren plötzlich frei.

Nach Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft kehrte Charlotte Tetzner in ihre sächsische Heimatstadt zurück, wo sie erneut verfolgt wurde. Die DDR-Behörden entziehen ihr den Status „Opfer des Faschismus“. Mit 80 Jahren begann sie ihre Erlebnisse aufzuschreiben. Bis in die 90ziger Jahre „wollte keiner was wissen“, antwortet sie nachdenklich auf Fragen.

Ihr Mann Heinz Tetzner

Heinz TetznerHeinz Tetzner der ebenfalls 1920 geboren ist, studierte Kunst in Weimar. Da seine Kunst nicht der offiziell geforderten Kunst entsprach und er sich als Zeuge Jehovas nicht an den Wahlen in der DDR beteiligte, wurde er beruflich immer wieder behindert. Erst nach dem Ende der DDR wurde sein Schaffen durch den Bundesverdienstpreis 1. Klasse und durch die Eröffnung des Heinz Tetzner-Museums

Heinz-Tetzner-Museum in Gersdorf in Gersdorf gewürdigt. Er wurde in Göttingen von der Kunsthistorikerin Dr. Elke Purpus vorgestellt, die früher an der Universitätsbibliothek Göttingen tätig war und jetzt als Direktorin die Kunst- und Museumsbibliothek der Stadt Köln leitet. Seine Bilder und Holzschnitte waren den DDR-Kunstverantwortlichen nicht „schön“ genug, enthalten sie doch oft düstere Szenen, ausdrucksstarke Gesichter, die oft Tetzner Bilder aus Frierende024Tetzner PurpusGefühle der Trauer, des Leids und der Wut ausdrücken. Tetzner bleibt sich ein Leben lang treu, „schreibt in seinen Bildern alles nieder“. Auch wenn ihm immer wieder von der Partei signalisiert wird, dass „es in der DDR keine verwelkten Rosen gibt“.

Der Historiker Dr. Hans Hesse, der in der Gedenkstätte KZ Moringen die Verfolgung der Zeuginnen Jehovas erforscht hatte, moderierte die Veranstaltung. Die Doppelverfolgung der Zeugen Jehovas im NS-Regime und in der DDR sei historisch einzigartig. Während andere Historiker bei Zeugen Jehovas von geistigem oder religiösem Widerstand sprechen, sprach Hesse vom Verfolgtenwiderstand.

Ein Höhepunkt der Veranstaltungsreihe ist am 27.01.2005 um 20 Uhr im Alten Rathaus. 60 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz liest Manfred Lahnstein aus der Lebensgeschichte seiner Schwiegereltern „Massel und Chuzpe – Wie Blanka und Rudolf den Holocaust überlebten“.

© Giselher F.O. Reichert, mit freundlicher Genehmigung

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Augen aus Auschwitz

Die Sendung wurde am 12. Januar 2004 im Magazin „MixUp“ im StadtRadio Göttingen ausgestrahlt

IngeAUGEVor einiger Zeit erschien das Buch „Augen aus Auschwitz“ von dem Historiker Dr. Hans Hesse.

Bei Auschwitz denkt man eher weniger an Göttingen, aber das KZ Auschwitz und die Universität Göttingen sind durch Dr. Karin Magnussen verbunden.

Karin Magnussen studierte ab 1928 in Göttingen für ein Jahr Biologie, Chemie, Geologie und Physik.

Zwischendurch studierte sie in Freiburg, kam wieder zurück nach Göttingen und legte ihre Doktorprüfung im Mai 1933 in den Fächern Zoologie, Botanik und Geologie ab.

1931 trat sie der NSDAP bei.

Ab 1935 war sie Mitarbeiterin des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP Gau Hannover.

1936 erschien ihr Buch „Rassen- und bevölkerungspolitisches Rüstzeug“.

Das nur als Hintergrundsinformation zu dem Buch „Augen aus Auschwitz“.

Welcher Zusammenhang nun zwischen Karin Magnussen und Auschwitz besteht, erfuhr ich in einem Gespräch mit dem Historiker Hans Hesse.

Sein Buch „Augen aus Auschwitz“ befasst sich mit einer Oldenburger Sinti-Familie. Worum geht es in diesem Buch?

Dr. Hans Hesse:

„Da geht darum, dass eine Biologielehrerin aus meiner Heimatstadt Bremen, sich von Dr. Mengele Augen von Kindern schicken lassen hat. Und zwar hatte sie Interesse an diesen Augen, weil diese Kinder verschiedenfarbige Augen hatten. Das linke Auge war zum Beispiel braun und das rechte Auge war blau und das nannte man Heterochromie. Diese Biologielehrerin Karin Magnussen hat an dem Kaiser-Wilhelms-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem gearbeitet. Einem sehr renommierten Institut der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der heutigen Max-Planck-Gesellschaft und war mit dieser Thematik wissenschaftlich befasst. Sie hat dann, und das ist das eigentlich Schreckliche, durch Mengele in Auschwitz Versuche an diesen Kindern durchführen lassen. Sie hat versucht die Augenfarben dieser Opfer, dieser armen Menschen zu verändern. Dr. Mengele dann diese Versuche in Auschwitz durchgeführt und hat dort Augeneintropfungen vorgenommen. Das hatte für die Opfer zum Teil schreckliche Folgen. Eine Zeugin berichtet zum Beispiel, dass die Augen ausgeflossen seinen. Nach einer bestimmten Dauer, dieser in Anführungsstrichen „Behandlung“ hat dann Mengele die Kinder erwiesenermaßen durch eine Injektion ins Herz tot gespritzt. Er hat dann die Augen herausnehmen lassen und hat sie dann der Frau Magnussen zugeschickt, die dann diese Augen für ihre Zwecke weiter verwendet hat.“

Sprecherin:

Dr. Hans Hesse berichtet, wie es dann mit Karin Magnussen nach 1945 weiterging.

Dr. Hans Hesse:

„Nach 1945 hat sie dann in Bremen an einem Gymnasium Biologie unterrichtet. Sie war als beliebte Lehrerin bekannt. Und man lobte ihren interessanten Unterricht. Unter anderem hat sie auch Augenuntersuchungen mit den Schulkindern durchgeführt.“

Sprecherin:

Karin Magnussen verstarb am 19. Februar 1997.

(c) Ingeborg Lüdtke

Literaturhinweis:

Hans Hesse, Augen aus Auschwitz. Ein Lehrstück über nationalsozialistischen Rassenwahn und medizinische Forschungen. Der Fall Dr. Karin Magnussen.

Klartext-Verlag, Essen 2001

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„Ich will mich nicht kleinkriegen lassen“

Charlotte Tetzner Hörsaal Uni Göttingen

Charlotte Tetzner Hörsaal Uni Göttingen

Interview mit der Zeitzeugin Charlotte Tetzner von November 1998 im Hörsaal der Universität Göttingen

Ingeborg Lüdtke:

Frau Tetzner, vorhin hat Herr Runge Sie ja schon einmal begrüßt und sich auch bedankt, dass Sie den weiten Weg gemacht haben, um uns als Zeitzeugin Fragen zu beantworten. Für Sie ist das ja auch aufregend, genau wie für mich, einmal aufregend durch die lange Fahrt. Das war auch nicht so einfach. [Anm.: Sie reiste von Gersdorf bei Chemnitz allein per Bahn an.] Es kommen durch den Film [Anm. „Fürchtet Euch nicht“ von Fritz Poppenberg] ja auch wieder Gefühle hoch. Für mich ist das heute auch etwas Neues, denn ich habe nie in einem solchen großen Rahmen Fragen gestellt. [Anm. ca. 90 Anwesende im einem Uni-Hörsaal in Göttingen]. Ich denke, wir beide schaffen das schon. Ich möchte auch mit den Fragen beginnen.

Ingeborg Lüdtke:

In den Film sagen Sie: „Da legte man uns etwas zum Unterschreiben vor. Meine Mutter hat das gar nicht gelesen und unterschrieben. [Anm: Gemeint ist eine Verpflichtungserklärung, die u. a. die besagt, dass man sich von den Lehren der Bibelforscher/Zeugen Jehovas abgewandt hat. Charlotte Tetzner geb. Decker und ihre Mutter waren als Angehörige des Kommunisten Anton Decker als politische Häftlinge inhaftiert worden. Nach dem Tod von Anton Decker sympathisierten aber mir den Zeugen Jehovas.] Was ist denn danach aus Ihrer Mutter geworden?

Charlotte Tetzner:

Meine Mutter hat Verbindung [zu den Zeugen Jehovas] aufgenommen. Sie hat mir das später erzählt. Sie lernte eine Schwester [Anm: Getaufte Zeugen Jehovas sprechen sich mit Bruder und Schwester an] aus Chemnitz kennen und mit der hat sie guten Kontakt gepflegt. Aber sie sagte mir auch noch etwas anderes. … Ein Neffe von ihr, der bei der SS war, das ist die Leibgarde, der hat sich an den Ortsgruppenleiter … gewandt und darum gebeten, dass meine Mutter doch überwacht werden sollte. Also, da ging es schon wieder weiter. Aber da ist ja nie etwas geschehen.

Ingeborg Lüdtke:

Es ist natürlich schön, dass Sie Ihre Mutter danach noch lebend wiedersehen konnten. Eine andere Sache steht auch in dem Zusammenhang mit diesem Zitat. Sie haben ja gesagt, dass Sie [die Verpflichtungserklärung] ja hätten unterschreiben können. Haben Sie denn jemals bereut, dass Sie dieses Papier nicht unterschrieben haben?

Charlotte Tetzner:

Nein niemals, denn es ist ja Reichtum für mich gewesen, ich hab ja etwas gefunden, was mich so ausgefüllt hat, was mich auch stark gemacht hat. Und ich … man sieht ja, es hat bis heute gehalten. Es ist im Herzen gewurzelt und was einmal da drin ist, das bleibt.

Ingeborg Lüdtke:

Sie haben dann aber auch erzählt, dass Sie jetzt Himmler gegenübergestellt wurden und das war natürlich jetzt auch nicht so einfach jetzt Ihren Standpunkt klar zu machen, obwohl Sie ja noch gar nicht solange den Glauben der Zeugen Jehovas angenommen hatten: Sie waren ja vorher Kommunistin. Wie haben Sie sich denn gefühlt in dieser Situation, als Sie vor Himmler standen?

Charlotte Tetzner:

Na ja, ich muss sagen, da war ich schon aufgeregt, denn wie ich schon im Film sagte, argumentieren konnte ich nicht. Ich habe [zu]gehört, das Gehörte in mich aufgenommen und ja die Schwestern haben mich [vorher] auch ein bisschen [moralisch] unterstützt und so konnte ich eben so reagieren vor dem Mann und ich könnte aber jetzt nicht sagen, was dieser Mann zu mir gesagt hat. Er hat mich sicher überzeugen wollen, aber das ist so an mir vorbeigegangen. Ich hab nur den einen Gedanken gehabt: … Ich will mich nicht kleinkriegen lassen. Nein, ich war auf Nein eingestellt.

Ingeborg Lüdtke:

Ich persönlich fand diese Haltung sehr mutig und es hat sehr positiv auf mich gewirkt.

In dem Film [Anm. „Fürchtet Euch nicht“ von Fritz Poppenberg] berichten Sie auch von dem grausamen Fußmarsch in dieser Nacht und Sie sagen wörtlich: „Bald schon sahen wir auf unserem Fußmarsch Männerhäftlinge liegen. Zum Teil erschossen und zum Teil erschlagen oder Sie wurden einfach weggeknallt. “Es ist ja so, dass der Tod immer wieder etwas Unnatürliches für uns ist und viele Menschen ja auch gar nicht damit umgehen. Wie haben Sie persönlich überhaupt diese grausamen Bilder überhaupt verarbeiten können? Es war ja nicht nur ein Toter, es waren Tote, es waren ja Leichenberge.

Charlotte Tetzner:

Ja nun, das war ja eigentlich schon von Anfang an … ich muss sagen Ravensbrück war beinah ein Vorzeige-Lager. Das war sauber, da gab es sogar Blumenrabatten vor den Baracken, jedenfalls solange ich dort war. Später ist es auch überbelegt gewesen und da war es dann auch nicht mehr so. Aber nun dieser Krasse Unterschied nach Auschwitz zu kommen: Lehm und Dreck und Gestank und diese MenschenMadame de Gaulle beschreibt das ja so wunderbar – [verhielten sie so] als ob das eine gestörte Persönlichkeit war. Also ob in den Menschen etwas [ab]getötet war. Diesen Eindruck hat [sie] ganz treffend bezeichnet. Und wenn man das auf einmal so sieht, da erstarrt man irgendwie erst einmal innerlich und das muss man erst mal alles [verarbeiten]. Man muss ja damit leben … und allmählich ist es auch so, dass einem dann das Gebet hilft und man sagt: „Na gut, wir gehören nicht zu den Juden.“ Die waren ja nur zur Vernichtung bestimmt und man hat dann doch irgendwie das Vertrauen gehabt, [das man überleben wird.] Und es ist auch so, dass man irgendwie sich ein bisschen einen Panzer schaffen musste, dass nicht alles so ganz innen drin beschädigt wird. Es lässt sich ganz schwer erklären. Man sah das täglich. Man sah die Selektionen und da wurden immer wieder die Kranken ausgewählt und auf einen bestimmten Block gebracht. Und dann kamen die Lkws du die Menschen wurden verladen. Die schrien. Die Aufseher, die dabei waren, stiegen noch auf die Trittbretter der Lkws und schlugen noch mit Knüppeln auf diese Menschen. Sie schlugen ihnen noch die Köpfe blutig und das muss man eben alles mit der Zeit von sich weisen können. So war dann auch das Ende ganz normal, dass dann Menschen die vielleicht nicht mehr konnten, erschossen oder erschlagen wurden.

Ingeborg Lüdtke:

Wie ist das heute so? Haben Sie davon noch Alpträume?

Charlotte Tetzner:

Nein, das habe ich nicht. Ich meine vielen mag das so gegangen sein, aber ich bin vom Wesen her ein fröhlicher Mensch. Das hat auch Auschwitz nicht totmachen können. [Ich bin] auch immer positiv. Das ist vielleicht der Grund, dass ich das hier alles zu verarbeitet hatte.

Ingeborg Lüdtke:

Eine andere Sache ist jetzt noch, dass mit der Zeitschrift der SPIEGEL im September (1998) ein Bericht durch die Medien ging,der berichtete, dass eine Jüdin sich mit dem NS-Arzt Dr. Münsch getroffen hat. Es sei sogar so weit gekommen ist, dass sie ihm die Hand gegeben hat. Es war so viel Unverständnis als Reaktion in den Leserbriefen zu hören. Man konnte nicht verstehen, wie sie ihm einfach zur Versöhnung die Hand geben konnte.

Wie war das bei Ihnen persönlich, haben Sie jemals Hass gegenüber Ihren Verfolgern empfunden?

Charlotte Tetzner:

Nein, Hass nicht eher eigentlich Mitleid mit diesen [Menschen] ja, die sind ja irgendwie … durch diesen Hitler [verführt worden], der hat ja eine Art gehabt, dass er alle mitgerissen hat und ich meine, wie das alles vorbei war, dann ist bestimmt ein mancher gewesen, der sich doch Gedanken gemacht hat. Zumindest wissen wir es ja .., von einem Fall und zwar aus dem Standhaft-Film [„Standhaft trotz Verfolgung“, Hrsg. Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas], dass ein SS-Mann oder ein Offizier sogar von der Wewelsburg später ein Bruder [Zeuge Jehovas] geworden ist. Und so muss man immer denken, dass die [Menschen] von Grund auf ja nicht böse sind, sie sind aber manipuliert worden und sie haben sich manipulieren lassen.

Ingeborg Lüdtke:

Was können Sie uns jetzt heute so auf den Weg noch geben?

Charotte Tetzner:

Nun, dass wir unseren Kopf selbst zum Denken brauchen, dass wir überlegen, was wir tun, dass wir vor allen Dingen keine Menschenfurcht haben. Denn Menschenfurcht legt eine Schlinge und es ist gut, wenn wir konsequent, das was wir als Recht empfunden haben, auch tun und nicht mit der Masse gehen.

Ingeborg Lüdtke:

Vielen Dank für das Gespräch. Es sind jetzt bestimmt noch viele Fragen offen, aber die Zuhörer können dann noch Fragen direkt an Sie stellen. Ich gebe jetzt erstmal das Wort wieder an Herrn Runge zurück.

(Charlotte Tetzner ist inzwischen verstorben.)

© Copyright Ingeborg Lüdtke

Charlotte Tetzner geb. Decker

Geboren: 1920
Geburtsort: Chemnitz
Verhaftet: 15.4.41
Verhaftungsgrund: kommunistischer Vater
KZ: KZ Ravensbrück: ca. Mai 41 – Oktober 42, danach KZ Auschwitz-Birkenau und KZ Mittelbau-Dora

Buchveröffenlichung: Charlotte Tetzner, Frierende, 2004, Klartext Verlag, Essen

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Gedenksteineinweihung in Buchenwald mit Simone und Max Liebster

Gedenkstätte Buchenwald, Weimar, 9. Mai 2002, 14 Uhr

„Warum denn in die Ferne schweifen, sieh´ das Gute liegt so nah.
(Johann Wolfgang von Goethe)

(Musikakzent)

„O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, weil du mein Schicksal bist.
Wer dich verließ, der kann erst ermessen, wie wundervoll die Freiheit ist!“

(Musikakzent)

Welches der beiden Zitate würden Sie eher mit der Stadt Weimar in Verbindung bringen?

2 unterschiedliche Aussagen.

Beide Aussagen sind eng mit der thüringischen Stadt Weimar und ihrem Umland verbunden.

Ich möchte Sie einladen, mich während meinem kurzen Besuch in Weimar und in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald zu begleiten.

Es ist der 9. Mai 2002.

(Motorengeräusch)

Wir kommen morgens auf dem Marktplatz in Weimar an und werden dort von unserer Stadtführerin erwartet.
(Geräusch: Menschenmenge)

Goethe Schiller WeimarDa heute der Blumenmarkt ist, führt uns die Stadtführerin schnell in eine ruhigere Ecke.
Wir lassen uns von ihr in die Welt der Dichter, Denker und Fürsten von Weimar entführen.
Wir können es fast spüren: Weimar als ehemaliger geistiger Mittelpunkt Europas.

Wir betreten nun den Goethepark und werfen einen Blick auf sein Gartenhaus.
Hier können wir Johann Wolfgang von Goethes Worte verstehen:

„Warum denn in die Ferne schweifen? Sieh das Gute liegt so nah.“

Liegt das Gute aber immer so nah?

Wir verlassen nun Weimar und fahren Richtung Ettersberg nach Buchenwald.

(Musik)

(Motorengeräusche)

Wir biegen links in die Zufahrtsstraße zur KZ-Gedenkstätte Buchenwald ab.
Rechts an der Straße steht ein Schild mit der Aufschrift „Blutstraße“.
Die lange Straße durch eine schöne Landschaft wurde 1939 von den Häftlingen gebaut.
Teilweise ist die Straße noch original erhalten.

Im Geist hören wir das Hämmern der Häftlinge beim Straßenbau.

(Geräusch Straßenbau)

Mir fällt der Liedtext von Gunter Gabriel ein:
„Getränkt mit unserm Schweiß ist jeder Meter Gleis…“ [Anm:Intercity Linie 4]

Nur Schweiß?

Wie viele der Häftlinge haben wohl bei dem Bau der Straße und 1943 bei dem Bau der Bahnstrecke ihr Leben verloren?

Uns beschleicht ein sehr beklemmendes Gefühl.

Bevor wir zur eigentlichen Veranstaltung mit einem ehemaligen Inhaftierten in den Kinosaal gehen, sehen wir uns noch etwas auf dem Platz der Gedenkstätte Buchenwald um.

Über 250 000 Menschen waren hier inhaftiert und mehr als 50 000 Menschen starben.Jedem das Seine

Wir treten durch ein eisernes Tor mit der Aufschrift: Jedem das Seine.

Welch eine Ironie!

(Windgeräusch)

BuchenwaldVor uns liegt eine große öde Fläche mit nur wenigen noch erhaltenen Gebäuden.
Lagerbaracken gibt es nicht mehr. Ihre Standorte sind nun durch Steine gekennzeichnet.

Wir gehen noch kurz in das gut erhaltene Krematorium mit der Verbrennungsanlage.Krematorium Buchenwald
Hier ist wieder das beklemmende Gefühl!

Wie viele Menschen wurden hier wohl verbrannt?

Wer hat wohl die Verbrennungsanlage bedient?

Warum dieser Wahnsinn?

(Musik)

Wir verlassen das ehemalige Häftlingslager und gehen in den Kinosaal.

Mit uns sind ca. 200 Personen anwesend um der Feier für die Gedenksteinenthüllung am heutigen 9.Mai 2002 beizuwohnen.

Schalten wir uns einmal live in den Kinosaal.

Der stellvertretende Direktor der Gedenkstätte Rikola-Gunnar Lüttgenau erklärt den Grund der heutigen Veranstaltung:

Heute ist ein Tag, an dem etwas geschieht, das selbstverständlich sein sollte, aber es leider bisher nicht gewesen ist. Diese Gedenkstätte, wie Sie wissen, ist über 40 Jahre alt und bis heute hat es gedauert, in ihr ein Zeichen zur Erinnerung an die Zeugen Jehovas zu setzen. Sie, die bereits zu den ersten Häftlingen des KZ-Buchenwald gehörten und es bis zu seiner Befreiung, die hier auch Max Liebster vor über 57 Jahren erlebte, bleiben sollten, waren in den Ausstellungen der Gedenkstätte bis 1990 mit keinem Wort erwähnt.

Weshalb wurden die Zeugen Jehovas bisher nicht erwähnt?

Ihr Schicksal fügte sich so gar nicht in die vorgegebenen Erinnerungsschablonen der DDR, passte so gar nicht zum Kommunistischen Führungsanspruch, der sich auch immer erinnerten Antifaschismus formulierte.

Der Gedenkstein zu dem wir uns gleich im ehemaligen Block 45 im Durchgangsblock des KZ Buchenwald begeben werden, ist auch ein Zeichen dafür, dass in der heutigen Gesellschaft das Schicksal der Zeugen Jehovas gesehen wird und Anerkennung findet.

Es ist nicht viel, denn wie gesagt, mit dem heutigen Tage geschieht etwas, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Aber es dennoch ein Zeichen für die gemeinsame Achtung des Lebens. Eine Achtung, die auch eine Aufgabe ist, da sie bewahrt werden muss, diese Achtung vor dem Leben. Insofern ist sie überhaupt nicht selbstverständlich. Es ist gut, dass der Gedenkstein uns an diese gemeinsame Aufgabe erinnern wird.

(Musik)

Walter Köbe, der [Anm.: damalige] Leiter des Informationsbüros der Zeugen Jehovas sagte einführend:

Beim Ausmarsch der Häftlingskolonnen aus dem Lager Buchenwald wurde offizielle das „Buchenwald-Lied“ gesungen, dessen Refrain lautet:

„O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, wie du mein Schicksal bist. Wer dich verließ, der kann es erst ermessen, wie wundervoll die Freiheit ist.“

Zahllose Häftlinge haben die ‚wundervolle Freiheit’ nicht mehr erleben dürfen, darunter mindestens 38 Zeugen Jehovas, die ihr Leben in Buchenwald oder in einem Außenkommando dieses Lagers einbüßten.

Die Überlebenden haben das Grauen des Lagers niemals vergessen und ein Leben lang in der einen oder anderen Weise darunter gelitten – doch meist nicht oder selten darüber gesprochen.

Walter Köbe nennt die Zahlen der inhaftierten Zeugen Jehovas:

Daher ist heute bekannt, dass im Durchschnitt zwischen 300 und 450 Zeugen Jehovas in Buchenwald inhaftiert waren. Der Höchststand betrug 477 Personen. Das war am 16. Dezember 1938. Wahrscheinlich waren insgesamt 800 „Bibelforscher“ oder mehr während des Bestehens des Lagers zwischen 1937-1945 inhaftiert.

Welche besondere Behandlung erfuhren Zeugen Jehovas in Buchenwald?

Als Folge der Widerständigkeit der „Bibelforscher“ behandelte die SS sie mit besonderer Härte und Brutalität. Neu ankommende Zeugen Jehovas kamen sofort in die berüchtigte „Strafkompanie“, die seit August 1937 bestand. Sie mussten dort die schwersten und schmutzigsten Arbeiten verrichten, die auf 10 bis 12 Stunden täglich und auf den Sonntag ausgedehnt, und genossen keine Vergünstigungen wie andere Häftlinge.

Die SS hielt die Zeugen zudem in speziellen Baracken innerhalb des Lagers hinter Stacheldraht „isoliert“ und erteilte ihnen Briefverbot.

Später durften sie nur einmal im Monat nicht mehr als 25 Worte an Ihre Angehörigen richten.

(Musik)

Nun folgte das Zeitzeugengespräch mit Max Liebster.

Johannes Wrobel vom Geschichtsarchiv [Anm: bis Ende 2009] in Selters erzählt kurz die Vorgeschichte:

Herr Liebster, bevor wir den großen gedanklichen Sprung zur ihrer Haft in Buchenwald machen, erlauben Sie mir bitte folgende Anmerkung: Sie wurden am 15. Februar 1915 in Reichenbach/Odenwald als Kind jüdischer Eltern geboren, was zu ihrer Verschleppung in nationalsozialistische Konzentrationslager führte. Mit Max und Simone Liebster, dann im Frankfurter Gefängnis und auch bis zur Einlieferung in das KL Sachsenhausen. Später hatten sie in den Lagern Neuengamme, Auschwitz und Buna weitere Kontakte zu Zeugen Jehovas.

Max Liebster berichtet über seine Ankunft und die schlimmen Zustände in Buchenwald:

Nach einem furchtbaren Transport von Auschwitz Buna, wie die Russen näher gekommen sind, wollten sie alle Gefangenen innerhalb Deutschlands transportieren. Auf offene Kohlewagen im Januar 1945 wurden wir in Gleiwitz aufgeladen. [Wir fuhren] über Prag … und nur jeden zweiten oder dritten Tag [bekamen wir et]was zu Essen, [ei]ne Suppe. Wir sind hier angekommen. Es sind mehr Tote angekommen als Lebendige. Wir waren sehr ausgehungert, sehr schwach. Und der Empfang war furchtbar hier in Buchenwald im Januar 1945. Die jüdischen Häftlinge wurden alle hier ins kleine Lager hereingezwängt. Es wurden zweimal so viele, manchmal dreimal so viele [Häftlinge, wie möglich]in den Bettkasten reingezwungen. [Wir lagen wie die Sardinen.]Ein Kopf [lag] nach der einen Seite [hin], der andere Kopf nach der anderen Seite. Manchmal ist man auch wach geworden und da waren Tote gewesen. Und bei jedem Appell wurden auf einer Seite der Baracken die Toten [gelegt] und auf der anderen Seite[standen] die Lebenden. Zweimal am Tag war Appell. Und wir mussten draußen stehen in der Kälte, ich habe immer noch Frostnarben an den Händen und an den Füßen. Das ist noch von dieser Zeit. Und da hab ich gesehen, dass es unmöglich ist, dort in dem kleinen Lager zu überleben. Jeden Tag, sind die Leute gestorben wie die Mücken. … Jetzt hier in Buchenwald bin ich eines Tages [mitgegangen], die Suppe zu holen. Ich war aber sehr schwach, ich konnte keinen 50 Liter Suppenkessel tragen. [Anm: hat er sich freiwillig gemeldet, mit anderen den Suppenkessel vom Hauptlager ins „Kleine Lager“ zu tragen] Die Suppe war mehr Wasser wie Steckrüben oder Kartoffeln. Fleischrationen hat man kaum gefunden. Und bin ich doch hingegangen und da war Otto Becker und da hab’ ich ihn erzählt, dass ich mit Zeugen Jehovas in Neuengamme zusammen gelebt hab’, wo Ernst Wauer mir viel von der Bibel erzählt hat. Dann hat er gefragt : „Wo kommst du her?“ Ich habe ihm gesagt: „Ich bin von Reichenbach, im Odenwald [bin ich] geboren.“ Da hat er gesagt: „Da ist ein Kommunist [aus Reichenbach], der [Kapo] Kindinger. Der ist Blockältester, der hat schon was zu sagen. Der [ist schon] zwölf Jahre im KZ.“ Er hat mich [zu ihm] hingebracht und der [Kapo Kindinger] hat mich wirklich aus dem „Sterbelager“, dem kleinen Lager herausgebracht und mir mehr Essen gegeben, denn er hat das Essen verteilt. Und da konnte ich auch einen anderen im Sterben liegenden jüdischen Jungen, Fritz Heikorn von meiner Ration geben, so dass er auch wieder Kraft bekommen hat. Er konnte schon kaum mehr laufen.

Dem Hungertod war Max Liebster zwar entgangen, aber es drohte ihm als Juden eine andere Gefahr.

Und eines Tages hat der Kindiger mir gesagt: „Die wollen alle Juden vernichten, bevor die Amerikaner das Lager übernehmen.“ Sie haben sie oben am Bahnhof in Viehwagen aufgeladen, mit Gewalt raufgejagt und dort mussten sie im Wald ihre eigenen Massengräber graben. Sie wurden mit Maschinengewehren erschossen. Die nächste Gruppe musste sie begraben und dann die nächste Gruppe musste daneben ihre eigenen Massengräber graben. Und dort musste ich arbeiten gehen. Da habe ich den Fritz Heikorn getroffen, der hat vom Herrmann Emter auch eine biblische Erkenntnis bekommen; und dann hab ich den Kindinger gefragt, ob er auch meinen Freund Fritz behalten kann. Er wollte nicht, dass ich rauf gehe zum Bahnhof. „Ich tu dich verstecken“, weil ich von derselben Ortschaft im Odenwald war. Er hat gesagt: „Ich kann das nicht machen, denn ich würde mein eigenes Leben aufs Spiel setzen. Ich kann dich behalten, aber keinen anderen.“ So hab ich gedacht, ich gehe doch rauf an den Bahnhof mit dem Fritz. Ich habe noch ein paar Blätter von der Offenbarung gehabt, die wollten wir noch lesen, bevor wir erschossen werden sollten. Und da haben wir einen Holzhaufen [Schwellen]… gesehen, den ich auch 50 Jahre später wiedergefunden habe. [Das war] 1995, wo wir den „Standhaft-Film“ hier aufgenommen haben. Und dort haben wir die Maschinengewehre von den amerikanischen Soldaten gehört. Der Zug ist weggefahren, die SS ist verschwunden. Da wurde angesagt, Jehovas Zeugen wären die letzten, die von dem Lager transportiert wurden. Sie können sich alle zusammenfinden in Baracke Nummer 1. Wie es dunkel geworden ist, sind wir ganz leise dort hingegangen, da waren 180 Zeugen Jehovas dort.

Über die Befreiung berichtet er:

Wir konnten es kaum glauben, dass die Stunde der Freiheit gekommen ist. Und von dort aus wurden wir noch gepflegt bei den amerikanischen Soldaten, ich habe Gelenkrheumatismus gehabt und wurde gepflegt in den medizinischen Baracken von den amerikanischen Soldaten. Sie haben uns Reis in Milch gekocht, um die Magenwände wieder aufzubauen und wieder in einen besseren Zustand zu kommen.

Was hat ihn besonders beeindruckt?

Auf mich hat es einen großen Eindruck gemacht hat, dass alle Leute von Weimar gezwungen wurden, rauf zu[m Ettersberg zu] gehen, um durch das Lager durchzugehen und die Haufen, die toten Körper zu sehen, die dort vor dem Krematorium auf das Verbrennen gewartet haben. Mein eigener Vater wurde in Sachsenhausen im Frühjahr 1940 verbrannt. Die Leute [aus Weimar] mussten alle durch [das Lager] gehen, andernfalls hätten sie kein Brot bekommen. So war die Befreiung sehr beeindruckend, wir waren wie Träumende. Ich kann es heute noch nicht glauben, dass ich noch am Leben bin. Es sind 50 Jahre vergangen, und ich bin sehr froh, dass ich darüber Zeugnis geben kann. Denn was geschehen ist in der Vergangenheit und soll zur Lehre geschehen für die Zukunft, dass die Leute ein besseres Gewissen haben und „Nein“ sagen können, wie Jehovas Zeugen,

(Musik)

Wie ging das Leben der Opfer nach der Befreiung weiter?

Wie kann man das Erlebte verarbeiten?

Max und Simone LiebsterHierzu Simone Arnold-Liebster. Sie ist die Frau von Max Liebster:

Ihre Eltern waren im KZ und sie wurde als Kind in ein Erziehungsheim gebracht.

Wenn man aus einer Hölle zurückkommt, braucht man viel Zeit, um wieder normale Reaktionen zu haben. Es kommt dann auch darauf an, welchen Schaden man körperlich davon getragen hat. Was meinen Vater anbetrifft, er wurde vollständig taub geschlagen von einem SS, der ihm den Kopf zertreten hat, in Ebensee, und meine Mutter lag auch im Sterben in Gaggenau. Sie sind beide ganz schwach zurück gekommen. Ich kam von der Erziehungsanstalt. In dieser Erziehungsanstalt waren Kinder zwischen 6-14 Jahren und [wir] standen unter Sprechverbot. Wir durften überhaupt nicht untereinander reden. Man kann sich [das so] vorstellen: Man lebt ohne zu lesen, ohne zu spielen, ohne zu reden, also[es gibt] keine Kommunikation, das ist ja ein Abbruch von dem regelrechten Leben. Das ist nicht einfach zu verkraften, wenn man wieder zusammen kommt. Man ist die gleiche Familie, zusammengestellt von drei Fremden. Wir mussten wieder lernen, miteinander zu leben. Die Reaktionen hatten sich vollständig geändert. Ich war vorher ein fröhliches Kind und war jetzt ein stummes geworden. Vorher hatte ich Lebenslust und nachher habe ich nur noch auf Befehl gearbeitet, also hatte ich keine Initiative mehr. Mein Vater konnte nicht mehr sein tägliches Brot verdienen und das hat ihn schwermütig gemacht und Mutter hat auch viel zu tun gehabt mit dem Herzen. Also es war schwierig. Was uns dann wieder als eine Familie zusammengebracht hat, war die geistige Tätigkeit, dieselbe, die uns aufrecht gehalten hatte durch diese Hölle. Das Gleiche hat uns auch wieder zusammen gebracht, also das Bibellesen, von der Bibel zu sprechen, mit anderen unser Bibellesen zu teilen, das hat uns dann wieder zurückgebracht.

Kann man mit diesen Erfahrungen eine Ehe eingehen?

Simone Arnold-Liebster berichtet über ihre anfänglichen Bedenken Max kennen zu lernen:

Als ich dann in New York einen jungen Burschen Namens Max gesehen habe – und man mir gesagt hatte, warum da eine große Gruppe zusammen ist und [dazwischen war eine] Höhle. – Ich habe nichts mehr gesehen, denn die Amerikaner sind groß und Max ist klein – haben sie [zu]gesagt: „Wir wollen dir jetzt jemanden aus Deutschland vorstellen.“ Ich habe gesagt: “Wo ist er?“ „Ja, der ist dort in der Mitte, der erzählt gerade von seinen Gefühlen über sein Leben im Lager.“ Da habe ich gesagt,: „Ich will ihn nicht kennen lernen. Ich will ihn nicht sehen, das geht mich nichts an.“ Das war im Jahr 1950. Ich war noch nicht bereit, mit jemandem zu sprechen, der im gleichen Zustand war wie ich. Ich wollte weg von dieser Sache.

(Musikakzent)

Aber dann mit der Zeit, hat sich etwas in mir geändert und ich habe [nach]gedacht. Ich habe ihn aus der Entfernung liebgewonnen. Seine Freunde haben so gut von ihm gesprochen. Das sollte ich jetzt nicht sagen, denn er sitzt ja neben mir? [alles lacht] Und irgendwie hat sich dann mein Herz zu ihm geneigt und dann bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich eventuell die Person sein könnte, die ihn am besten verstehen würde, weil er ja auch sechs Jahre hindurch gelitten hat. Und ich wusste ganz genau, wie er fühlte, ganz ohne zu reden. Ich wollte ja selber nicht reden und er brauchte auch nicht zu mir reden. Wir haben uns verstanden. Also mit jemandem zusammen leben, wenn man den gleichen Werdegang durchgemacht hat, gibt schon etliches vor.

Wie kann man als Ehepaar sich gegenseitig helfen, die Ängste zu meistern?

Simone Arnold-Liebster liest hierzu eine Passage aus ihrem Buch „Allein vor dem Löwen“:

Dann heißt es hier [Anm: Zitat aus Simone Arnold Liebster, Allein vor dem Löwen]: „Unser gemeinsamer Lebensweg begann im September 1956. Wir hatten die gleichen Ziele, Interessen, den gleichen Lebensstil, eine ähnliche Vergangenheit, gleiche Vorlieben und Abneigungen und fühlten uns schon damals und erst recht jetzt wie Zwillinge. Über die vielen Jahre entwickelte sich eine starke Bindung. Ohne jemals unsere privaten „Fensterläden“ vollständig öffnen zu müssen, halfen wir uns gegenseitig – und tun es immer noch –, gelegentliche angstvolle Momente zu überwinden. Wenn es galt, eine neue Situation zu meistern, kam es schon einmal vor, dass er oder ich in Panik geriet. Im tiefsten Innern stiegen dann Gefühle auf, die uns suggerieren wollten, dass wir wertlos, unfähig und schwach seien.“ Ich möchte da noch mal sagen, das ist ein schweres Problem, psychisches Problem, das viele Leute, die so unter Druck gesetzt wurden, das ganze Leben lang dann nachziehen, dass man irgendwie wertlos ist, oder unfähig. Ich lese weiter: „Nur jemand, der zutiefst gedemütigt worden ist, der erniedrigenden Druck und extreme, entwürdigende Behandlung erfahren hat, ist in der Lage nachzuempfinden, wie tief die Brandmale sitzen, die die untersten Schichten des Bewusstseins mit Narben verunstalten.

Unsere Alpträumedie Angst vor Verhaftung, vor stampfenden Männerstiefeln, dem Brummen von Flugzeugen, der Schrecken vor lauten Stimmen, Schüssen, Hungergefühlen, erniedrigender Arbeit und Fron, vor extremer Kälte oder Hitze, vor erbärmlichen und entwürdigenden sanitären Verhältnissen, vor mangelhafter Bekleidung, dem Abgeschnittensein von der Familie – nahmen mit der Zeit allmählich ab. Sooft diese Ängste auftauchten, war Bibellesen die einzige Rettung und wirkte wie heilendes Salböl. Psalmenlesungen auf Tonband zu hören schenkten uns wieder Ruhe.“

Warum hat sie ihr Buch geschrieben?

Ich wurde dazu eingeladen, diese Sache nieder zu schreiben, damit die jüngere Generation weiß, wohin sie gehen kann, um Kraft zu finden. Und damit sie weiß, dass man vielleicht ganz klein sein mag, körperlich gesprochen, oder geistig gesprochen: jung, die gleiche Kraft steht jedem zur Verfügung. Ein jeder kann diese erhalten. Wir waren keine Supermenschen, wir waren einfach: „ein „kleines Mädchen“. Der Widerstand, der kam durch die geistige Erziehung. Da möchte ich mit den Schlussworten vielleicht dies noch mehr ans Licht bringen, da heißt es hier: „Jeder Überlebende des Naziterrors hat eine einzigartige Geschichte zu erzählen. Aus den Erlebnissen eines jeden lassen sich wertvolle Lektionen ableiten. In jedem dieser extremen Fälle wurden nicht nur die Grenzen menschlicher Leidensfähigkeit erprobt, sondern auch die Überlebensfähigkeit des Geistes belegt. Einen Sinn im Leben zu erkennen, für den zu kämpfen und den zu ertragen es sich lohnt, bedingen die Motivation, aus der Kraft geschöpft werden kann. Unsere Motive waren die bedingungslose Zuversicht in die Verheißungen Gottes und unser Wunsch, ihm treu zu bleiben.

Rikola-Gunnar Lüttgenau:

Ich habe jetzt die Freude überhaupt nichts mehr sagen zu müssen, außer dass der Dank natürlich dem Ehepaar gebührt, das sowohl die Kraft gefunden hat, hier zu diesem Ort zurückzukehren und dann noch zusätzlich die Kraft gefunden hat, auch ihre Erlebnisse und ihr Schicksal mit uns zuteilen. Wir werden uns jetzt in das ehemalige Häftlingslager des KZ Buchenwald begeben, zu dem ehemaligen von Herrn Wrobel schon genannten Block Nr. 45. Es ist ein Durchgang Block, in sofern man eben fast alle Häftlingsgruppen einmal in diese Block inhaftiert. Dieser Block befindet sich links von dem ehemaligen Kammergebäude. Das heißt, wenn Sie hier gleich durch das ehemalige Lagertor schreiten, befindet sich dieser Block unten rechts auf dem Lagergelände.

(Musik)

Gedenkstein an die Opfergruppe der Zeugen Jehovas

Gedenkstein an die Opfergruppe der Zeugen Jehovas

Nach den abschließenden Worten von Rikola-Gunnar Lüttgenau gehen wir wieder in das ehemalige Häftlingslager und verfolgen die Enthüllung des Gedenksteines durch Max Liebster.

Nun ist es Zeit sich wieder auf den Weg zu machen. [Motorengeräusch]

Wir fahren zurück über die „Blutstraße“ und hören im Geist wieder die arbeitenden Häftlinge:

(Straßenbaugeräusch).

Wo mag wohl der Holzstapel mit den Schwellen sein, hinter denen sich Max Liebster img134versteckte?

Wir halten noch kurz bei dem riesigen Mahnmal an und werfen einen letzten Blick

img135Weimar, hier wo Johann Wolfgang von Goethe 1832 gestorben ist. 105 Jahr nach seinem Tod wurde das KZ Buchenwald gebaut.

Wie hätte Goethe auf den Bau des KZ Buchenwald reagiert?

Gab es eigentlich Widerstand der Weimarer Bürger?

Was hätten wir getan?

Noch lange wird uns der Refrain des Buchenwaldliedes in Erinnerung bleiben:

(Musikakzent)

„O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, weil du mein Schicksal bist.

Wer dich verließ, der kann erst ermessen, wie wundervoll die Freiheit ist!“

© Ingeborg Lüdtke

Text- und Data-Mining: Ich behalte mir eine Nutzung aller Inhalte dieser Webseite für kommerzielles Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Für die Texte, Reden, Interviews und Buchzitate wurde für die Veröffentlichung die freundliche Genehmigung erteilt von Rikola-Gunnar Lüttgenau (Stellvertretender Direktor der KZ Gedenkstätte Buchenwald), Jehovas Zeugen in Deutschland, K. d. ö. R., Johannes S. Wrobel und der Arnold-Liebster-Stiftung.

Lieraturhinweis
Simone Arnold Liebster: Allein vor dem Löwen. Ein kleines Mädchen widersteht dem NS-Regime. Editions Schortgen, L-4004 Esch-sur-Alzette, 2002

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Geschichte der Wehrdienstverweigerung

Ubrigens …” eine Sendung von Ingeborg Lüdtke ausgestrahlt im StadtRadio Göttingen am 1.7.2003

Sprecherin: Die Bundeswehr war früher eine Armee zur Landes -und Bündnisverteidigung. Heute ist die Bundeswehr eher eine Einsatzarmee ohne geographische Grenzen. In den Verteidigungspolitischen Richtlinien heißt es u.a.:

„Künftige Einsätze lassen sich wegen des umfassenden Ansatzes zeitgemäßer Sicherheits- u. Verteidigungspolitik und ihrer Erfordernisse weder hinsichtlich ihrer Intensität noch geographisch eingrenzen. Der politische Zweck bestimmt Ziel, Ort, Dauer und Art des Einsatzes.“ (gelesen von Matthias Schneider-Dominco)

Angesichts dieser Tatsache mag der eine oder andere darüber nachdenken, den Wehrdienst zu verweigern.

Haben Sie sich auch schon mal gefragt, seit wann man in Deutschland den Wehrdienst verweigern kann?

In der folgenden Sendung möchte ich einen kurzen Überblick über die Geschichte der Wehrdienstverweigerung in der Neuzeit geben. Unter anderem habe ich auch einige Wehrdienstverweigerer über ihre Motive und Strafen befragt.

(Musikakzent)

Sprecherin:

Im Deutschen Kaiserreich unter Kaiser Wilhelm II. gab es zwar die Wehrpflicht, aber kein Recht auf Wehrdienstverweigerung.

Im Kaiserreich wurde versucht, Pazifisten zu kriminalisieren. Ein bekanntes Beispiel ist Rosa Luxemburg, die spätere Mitbegründerin der KPD. Noch als SPD-Mitglied hatte sie am 24. September 1913 in Frankfurt über das Thema „Gegen Militarismus und imperialistischen Krieg“ gesprochen. Rosa Luxemburg wurde angeklagt, zum Ungehorsam gegen die Obrigkeit aufgewiegelt zu haben. Aufgrund einer Falschaussage wurde sie zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.

(Musikakzent)

In der Weimarer Republik gab es keine Wehrpflicht. Durch den Versailler Vertrag war Deutschland auf ein Berufssoldatenheer von 100.000 Mann beschränkt worden.

In der Weimarer Republik gab es zahlreiche demokratie- und friedensbedrohende geheime Militärorganisationen, auch „schwarze Reichswehr“ genannt.

Diese gesetzlich verbotene geheime „schwarze Reichswehr“ war nicht vom Staat organisiert. Sie wurde aber von der Regierung nicht nur geduldet, sondern auch indirekt gefördert.

Journalisten, die über die „schwarze Reichswehr“ schrieben, wurden als Landesverräter angeklagt.

Der Pazifist Prof. Ludwig Quidde deckte 1924 in einem Presseartikel die Existenz der „schwarzen Reichswehr“ auf. Er wurde verhaftet, entging aber knapp einer Verurteilung.

Auch der Publizist Carl von Ossietzky wurde u. a. wegen Beleidigung des Militärs angeklagt. Er hatte unter eine Glosse von Kurt Tucholsky u.a. noch den Text geschrieben: „Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder.

Carl von Ossietzky wurde freigesprochen.

Später kam er ins Gefängnis, weil er über den geheimen Aufbau der Luftwaffe berichtet hatte.

(Musik: Katja Ebstein: Sag mir wo die Blumen sind)

Sprecherin:

Am 16. März 1935 kündigte Hitler an, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen.

Der Erlass des Wehrgesetzes vom 21. Mai 1935 bestimmte, dass „jeder deutsche Mann“ zwischen dem 18. und 45. Lebensjahr Wehrpflicht zu leisten habe.

Paragraph 69 des Militärstrafgesetzbuches lautet:

„Absatz 1: Wer in der Absicht, sich der Verpflichtung zum Dienste in der Wehrmacht dauernd zu entziehen oder die Auflösung des Dienstverhältnisses zu erreichen, seine Truppe oder Dienststelle verlässt oder ihnen fernbleibt, wird wegen Fahnenflucht bestraft.

Absatz 2: Der Fahnenflucht steht es gleich, wenn der Täter in der Absicht seine Truppe oder Dienststelle verlässt oder ihnen fernbleibt, sich für die Dauer eines Krieges, kriegerischer Unternehmungen oder innerer Unruhen den Verpflichtungen zum Dienste in der Wehrmacht überhaupt oder in den mobilen Teilen der Wehrmacht zu entziehen.“

Mit Beginn des 2. Weltkrieges trat die Kriegssonderstrafrechtsverordnung vom 17. August 1938 in Kraft.

Der Paragraph 5, über die Zersetzung der Wehrkraft lautet:

Absatz 1 Wegen Zersetzung der Wehrkraft wird zum Tode bestraft:

1. wer öffentlich dazu auffordert oder anreizt, die Erfüllung der Dienstpflicht in der deutschen oder verbündeten Wehrmacht zu verweigern, oder sonst öffentlich den Willen des deutschen oder verbündeten Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen sucht;

2. wer es unternimmt einem Soldaten oder Wehrpflichtigen des Beurlaubtenstandes zum Ungehorsam, zur Widersetzung oder zur Tätlichkeit gegen einen Vorgesetzten oder zur Fahnenflucht oder unerlaubten Entfernung zu verleiten oder sonst die Manneszucht in der deutschen oder verbündeten Wehrmacht zu untergraben;

(Musikakzent)

Sprecherin:

In dem Film „Fürchtet Euch nicht“ von Fritz Poppenberg (verstorben 4.10.2025) berichten die beiden Zeugen Jehovas Josef Rehwald und Richard Rudolph und der ehemalige politische Häftling Fritz Brinkmann von der ersten Erschießung eines Wehrdienstverweigerers:

Lagerkommandant Baranowski bat seinen obersten Vorgesetzten Himmler, um Erlaubnis ein Exempel statuieren zu dürfen, um den Widerstand der Zeugen Jehovas zu brechen. Es war der 15. September 1939. Wenige Tage nach dem Überfall deutscher Truppen auf Polen, als die Außenkommandos früher als üblich ins Lager zurückkehren mussten:(Richard Rudolph: O-Ton) ’Nun ordnete der Vierkant, der Lagerkommandant Baranowski August Dickmann an, dass der Schutzhäftling August Dickmann vorgeführt werden soll. Wir wunderten uns schon. Bruder August Dickmann war schon 3 Tage im Arrest. Nun ahnten wir, dass hier etwas besonders im Gange sei’.

(Josef Rehwald: O-Ton): ‘Eines Tages musste das ganze Lager (hier) aufmarschieren …Vor uns war eine große Kugelwand aufgebaut worden, rechts von uns standen 7 SS Leute, ein Erschießungskommando und ein SS Gedenkstein August DickmannOffizier im Range eines Sturmbannführers also mit 4 Sternen. Dann plötzlich kam ein SS Mann zwischen den Baracken hindurch und führte August Dickmann vor und er musste sich dann vor diese Kugelwand platzieren und zwar mit dem Gesicht zur Kugelwand.

(Richard Rudolph: O-Ton): ‘Und ihm wurde dann vorgelesen, dass er ein Feigling sei, dass er sich weigere für das deutsche Vaterland zu kämpfen und dass er als Feigling standrechtlich erschossen werden soll. Und nun wurde er noch gefragt: ‘Halten Sie Ihre Aussage aufrecht?’ Und er sagte: ’Jawohl.’

(Josef Rehwald: O-Ton): Dann gab der SS-Offizier den Schließbefehl (Schüsse) und August Dickmann fiel dann rückwärts um. Der zog dann noch seinen Revolver, der Offizier und schoss ihm wohl in Kopf, also den sogenannten Fangschuss geben. (Schuss) ‘

(Fritz Bringmann: O-Ton): ’Nicht nur für mich, sondern für uns alle war dieser Akt ein glatter offener Mord, den es bis dahin in Sachsenhausen nicht gegeben hat. Morde hat es etliche gegeben, aber so offen und vor der angetretenen den Lagebestand hat es nie zuvor eine solche Erschießung gegeben. Und ich muss sagen, dass hat nicht nur auf mich, das hat alles sehr deprimierend gewirkt, denn mit anschauen zu müssen, wie ein Mensch, der nur seiner Auffassung treu geblieben ist und keinen Wehrdienst leisten wollte, der sich also nicht zum Handlanger der Wehrmacht machen wollte. Das man den nur wegen seiner Gesinnung und wegen dieser Verweigerung erschießt, dass war für uns ein glatter, auch ein glatter politischer Mord.’

(Musikakzent)

Sprecherin:

Im Gegensatz zu August Dickmann, der ohne Verfahren auf Anordnung des Reichsführers Himmler hingerichtet wurde, wurden viele Zeugen Jehovas wegen Wehrdienstverweigerung zum Tode verurteilt.

Einer von ihnen war Horst Schmidt.

Horst SchmidtIn seiner Biographie „Der Tod kam immer montags“, die im Klartext-Verlag erscheint, beschreibt Horst Schmidt die Gerichtsverhandlung vom 30. November 1944:

(Musikakzent)

„Dann begann der Staatsanwalt mit seiner Anklagerede. Dass wir Landesverräter seien, dass wir das Deutsche Reich geschädigt haben und darum mit Recht den Tod verdienen würde, so sagte er. Dann begann die Vernehmung, die aber keine war. Es wurde keinem von uns Gelegenheit zur Verteidigung gegeben. Setzte man zur Verteidigung zur Erklärung…an, wurde man mit dem Satz niedergeknüppelt: “Sie lügen ja schon wieder…“

Geärgert habe ich mich über meinen Pflichtverteidiger … Er sagte nämlich, dass es für mein Handeln keine Rechtfertigung geben könne, er möchte aber sagen, dass mein Handeln nur im Sinne des Paragraphen 51 Absatz 2 gesehen werden könne. Das heißt, dass ich zwar nicht verrückt, aber doch religiösen Wahn erlegen sei. … Wenn ich so darüber nachdenke, hat die ganze Verhandlung 30 Minuten gedauert … In dieser kurzen Zeit wurden 11 Angeklagte verurteilt. Fünf zum Tode, wozu ich auch zählte.“

(Musikakzent)

Sprecherin:

In dem Film „Fürchtet Euch nicht“ berichtet Horst Schmidt über seinen Aufenthalt im Zuchthaus Brandenburg:

„Ich kam dann auf die Vollstreckungsstation … Wie viele Personen da untergebracht waren, das weiß ich nicht. Ich schätze, dass es ungefähr hundert gewesen sind. Un(d), na ja es fällt einem schwer über die Dinge zu reden. Einmal in der Woche war dann der sogenannte Hinrichtungstag. Und dann konnte man hören wie die Zellen geschlossen wurden, aufgeschlossen, zugeschlossen. Man wartete von Woche zu Woche und wusste nicht, wann bist Du an der Reihe.“

Sprecherin:

Horst Schmidt berichtet weiter:

„Dann ging also bei uns die Zellentür auf, und wir standen wie es so üblich war unter dem Fenster, das heißt der Tür gegenüber. Dann wurde der Name des Franzosen aufgerufen und dann kam die Frage: ‘Sind Sie Brillenträger? ’und dann das Wort „Raustreten“. Dann wussten wir natürlich was los war. Dann wurde der Name des Polen aufgerufen und die ganze Zeremonie wiederholte sich noch und nun auch austreten und ich blieb alleine stehen. Und ich dachte: ’ Naja, jetzt bis Du dran.’ Und der Wachtmeister kuckte auf seinen Zettel, kuckte mich wieder an und und dann ging die Tür wieder zu. Und … also ich kann nicht schildern, wie mir damals zumute war … vielleicht, dass es sich jeder persönlich vorstellt.”

(Musikakzent)

Sprecherin:

Im ersten Jahr des Krieges gab es 117 Todesurteile wegen Wehrdienstverweigerung. Die meisten Todesurteile wurden gegen Zeugen Jehovas verhängt.

Auch in den weiteren Kriegsjahren gab es Todesurteile. Auch diese Todesurteile ergingen nicht alle an Zeugen Jehovas.

Todesurteile wurden u.a. erteilt aufgrund von offener Wehrdienstverweigerung, Fahnenflucht, Wehrdienstentziehung oder Selbstzerstümmelung.

Ein Todesurteil betraf den Buchhalter Marzell Schweitzer aus Straßburg. Seine Eltern hatten aufgrund des Versailler Vertrages die französische Staatsangehörigkeit angenommen. Marzell Schweitzer diente erst in der französischen Wehrmacht. Er nahm nicht aktiv am Krieg teil. Er bekam die deutsche Staatsangehörigkeit verordnet und wurde in die deutsche Wehrmacht einberufen.

Aus Gewissensgründen verweigerte er den Wehrdienst. Marzell Schweitzer gehörte weder einer pazifistischen Vereinigung noch einer religiösen Sekte an.

In dem Urteil vom 5. Oktober 1943 heißt es auszugsweise:

„Der Angeklagte verharrte hartnäckig auf seinem ablehnenden Standpunkt … Er verstößt aufs schwerste gegen die ihm seinem Volke gegenüberliegende Treuepflicht und verdient keine Milde …“

(Musikakzent)

Sprecherin:

In der Kriegssonderstrafrechtsverordnung Paragraph 5, Absatz 3 über die Zersetzung der Wehrkraft heißt es:

Wer es unternimmt, sich oder einem anderen durch Selbstverstümmelung, durch ein auf Täuschung berechnetes Mittel oder auf andere Weise des Wehrdienstes ganz, teilweise oder zeitweise zu entziehen.

(2) In minder schweren Fällen kann auf Zuchthaus oder Gefängnis erkannt werden.

(3) Neben der Todes- und der Zuchthausstrafe ist die Einziehung des Vermögens zulässig.

Der ehemalige Oberlandesrichter Dr. Helmut Kramer findet den Umgang mit Selbstverstümmlern besonders entsetzlich:

„Es konnte an der Front geschehen, wenn man im Schützengraben lag, dass sich ein Soldat einen Schuss in die Hand in den Arm oder ins Bein beibrachte, Selbstverstümmelung durch Medikamente vornahm oder sich künstlich blind machte. Solche Soldaten wurden dann zum Tode verurteilt. In Braunschweig gab es eine Baracke, in der die Selbstverstümmler gesund gepflegt wurden, weil die Vollstreckung des Urteiles erst erfolgen durfte, wenn sie wieder gesund waren.“

Musik: Pur, Kein Krieg)

Sprecherin:

Nur in wenigen Fällen wurden Kriegsdienstverweigerungsfälle als NS-Verfolgungs- oder Gewaltmaßnahmen gewertet.

In dem Wiedergutmachungsfall von Herbert Steinadler fällte der Bundesgerichtshof am 24. Juni 1964 aus heutiger Sicht ein fragwürdiges Urteil.

Der Zeuge Jehovas Herbert Steinadler wurde am 19. September 1939 zum Tode verurteilt.

Dieses Urteil wurde in eine 10 jährige Zuchthausstrafe umgewandelt. Diese Strafe saß er in einem Strafgefangenenlager in Esterwegen ab.

Nach 1945 wohnte er in der sowjetischen Besatzungszone und war von 1950 bis 1960 wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas inhaftiert. Von 1961 bis zu seinem Tod lebte er in Hamburg.

1962 wurde sein Antrag auf Wiedergutmachung mit der Begründung abgelehnt, die Haft wegen seiner Wehrdienstverweigerung sei keine NS-Verfolgungsmaßnahme.

Herbert Steinadler klagte gegen dieses Urteil.

Nach seinem Tod bestätigte 1964 der Bundesgerichtshof das Urteil.

In der Begründung heißt es auszugsweise:

„Es gibt sicherlich keinen Staat, der jedem seiner Bürger das Recht zuspricht zu entscheiden, ob der Krieg ein gerechter oder ein ungerechter ist und demgemäß seiner staatsbürgerlichen Pflicht, Wehrdienst zu leisten, zu genügen oder ihre Erfüllung zu verweigern. Würde der Staat jedem Bürger das Recht zubilligen, so würde er sich selbst damit aufgeben. Denn die Frage, ob ein Krieg ein gerechter oder ungerechter Krieg ist, kann dem einzelnen Bürger nicht zur Entscheidung überlassen werden …“

(Musikakzent)

„Der vom NS-Staat geführte Krieg war ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Dadurch.. hat er ein Verbrechen im Sinne des Völkerrechts begangen. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass der einzelne ein Verbrechen begangen hat, weil er am Krieg teilnahm.

(Musikakzent)

Sprecherin:

Das Gesetz zur Aufhebung der NS-Unrechtsurteile trat im August 1998 in Kraft.

Alle Urteile wurden aufgehoben, „die unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des NS- Unrechtsregimes aus politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen ergangen sind.“

Hierunter fielen auch Urteile aufgrund von Wehrdienstverweigerung und Wehrkraftzersetzung.

Seit dem 28. Mai 2002 sind auch Deserteure eingeschlossen.

(Musikakzent)

Sprecherin:

Nach 1945 gab es in Deutschland zunächst keine Wehrpflicht. Es gab auch in den ersten Jahren der Bundesrepublik laut Helmut Kramer:

„ … zunächst keine Wehrpflicht. Es gab überhaupt keine deutsche Armee. Nach dem Grundgesetz war dies gar nicht vorgesehen. Es war kein Heer vorgesehen … und damit natürlich auch keine Wehrpflicht. Und damit war die Frage der Wehrdienstverweigerung gegenstandslos. Erst im Zuge der Adenauerpolitik entstand die Wiederaufrüstungsfrage; und es kam dazu, dass eine Bundeswehr beschlossen wurde.“

Peter Dürrbeck bestätigt dies:

Ich bin Jahrgang 1939 und gehörte mit zu den Ersten, die wehrpflichtig waren. Die Jahrgänge 1937/38 waren wohl die Jahrgänge, die als Wehrpflichtige als erste eingezogen wurden.

Sprecherin:

Die Wiederaufrüstung stand laut Helmut Kramer, im engen Zusammenhang damit, dass man die an den Massenmorden in Polen und in der Sowjetunion beteiligten Wehrmachts- u. SS-Generäle straflos stellte.

(Musikakzent)

Das Recht auf Wehrdienstverweigerung wurde eingeführt. Hierzu Robert Reichel im November 2000 während des Seminars „Repression und Selbstbehauptung“ an der Universität in Heidelberg:

„Nach den Erfahrungen mit dem Umgang mit Kriegsdienstverweigerern im Nationalsozialismus, besonders der zahlreichen Todesurteile nach Kriegsbeginn, hatte der Parlamentarische Rat in den Westzonen das Recht auf Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetz festgeschrieben.

Da heißt im Artikel 4 Absatz 3: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden, das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“

(Musikakzent)

Sprecherin:

Peter Dürrbeck verweigerte den Wehrdienst. Warum hat er verweigert?

Erstens meine Eltern waren Kriegsgegner. Mein Vater war sogar in der Nazi-Zeit in einer Strafkompanie, weil er ein Nazigegner war und ist 1948 aus der Kriegsgefangenschaft wiedergekommen und war sehr emotional, auch (ein) sehr starker Kriegsgegner, obwohl meine Eltern keine Pazifisten waren. Ich habe dann aus einem zweiten Grund verweigert. Und zwar wurde die Bundeswehr mit ehemaligen Generalstäblern der Naziarmee aufgebaut. Das heißt die ersten Generale im Amt Blank, waren ja alles Generale im Generalstab der Hitler-Wehrmacht. Und das war für mich ein Grund, den Wehrdienst zu verweigern. Ich bin dann vor eine Kommission vorgeladen worden, man machte ja noch eine Gewissensprüfung. Ich habe dort zunächst einmal meinen Grund dafür gesagt, dass ich verweigern will und dann kamen schon die Fragen: ‘Aber stellen Sie sich vor, ein Russe steht mit dem Maschinengewähr vor Ihrer Mutter und Ihrer Schwester und will sie angreifen.` Und dann habe ich politisch argumentiert, dass in zwei Weltkriegen Deutsche die Russen überfallen haben und damit war das eigentlich Gespräch schon beendet. Ich habe dann noch über meine Eltern erzählt, über die Verfolgung in der Nazizeit, aber das Gespräch war zu Ende. Dieses Gewissenverfahren endete damit, dass der Ausschuss dann beschlossen hat, dass ich nicht Wehrdienstverweigerer sein darf und politische Gründe nicht zählen, um den Wehrdienst zu verweigern. Ich habe dann Widerspruch eingelegt und bin beim 2. Mal mit den gleichen Fragen konfrontiert worden. Ich habe im Grunde genommen die gleichen Antworten gegeben. Das lief beim 2.Mal wie bei der ersten Prüfung, bin wieder nicht anerkannt worden als Wehrdienstverweigerer, weil ich wiederum politisch argumentiert habe und das wurde nicht als Gewissensgrund anerkannt. Ich habe dann anschließend beim Verwaltungsgericht Klage erhoben, die ich nach einiger Zeit zurückgezogen habe, weil ich der Auffassung war, doch zur Bundeswehr gehen zu wollen, um dort politisch zu argumentieren. Daraufhin bin ich aber nicht eingezogen worden, sondern man hat mir gesagt, ich müsse mich freiwillig melden, wenn ich dann zur Bundeswehr wollte. Das habe ich nicht getan. Ja, 2-3 Jahre später habe ich eine Verurteilung bekommen, weil ich gegen das KPD-Verbot zu widergehandelt habe. Ich bin zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden und dann war sowieso für mich das Verfahren insgesamt aus, denn da wurde ich nicht mehr zur Bundeswehr vorgeladen, denn damit war ich ja so belastet, dass die Bundeswehr mich nicht haben wollte.”

Sprecherin:

Peter Dürrbeck fügt noch hinzu:

“Obwohl ich dazu sagen muss, ich habe Wehrdienstverweigerung mit sehr zwiespältigen Gefühlen betrieben. Ich war nicht generell ein Wehrdienstverweigerer, sondern ich war gegen diese Bundeswehr eingestellt. Das muss ich dazu sagen, auch aus politischen Gründen. Ich wäre auch hingegangen und hätte versucht innerhalb der Bundeswehr beim politischen Unterricht und so weiter politisch zu argumentieren. Wie das ausgegangen wäre, kann ich schlecht sagen.”

(Musikakzent)

Sprecherin:

Robert Reichel erwähnt warum das Recht auf Wehrdienstverweigerung eingeführt wurde:

„Die SPD-Fraktion des Parlamentarischen Rates hatte damals diese Formulierung in den Artikel 4, der die Glaubens -und Gewissensfreiheit beinhaltet, eingebracht. Der Zusatzantrag, ich zitiere, hatte gerade zum Inhalt „das Menschen, wir haben dabei an die Menoniten, die Zeugen Jehovas und Mitglieder anderer Sekten gedacht, aufgrund ihrer religiösen Überzeugung und ihres Gewissen keinen Kriegsdienst mit der Waffe machen wollen.

Das Wehrpflichtgesetz von 1956 sah nun vor, das Kriegsdienstverweigerer zu einem zivilen Ersatzdienst herangerufen werden sollen.“

Sprecherin:

Werner Fischer verweigerte als Zeuge Jehovas auch den zivilen Ersatzdienst. Er berichtet:

“Ich wurde zweimal inhaftiert: 1964 war ich 2 Monate in Hannover und 1966 war ich 4 Monate in Wolfenbüttel. Nachdem ich zweimal in Northeim beim Amtsgericht verurteilt worden bin und die Bewährung 1966 in Göttingen (bei mir) zu nichts geführt hatte, gab es (für mich) keine Erleichterung.“

Sprecherin:

Wie sahen die Reaktionen der Richter auf seine Totalverweigerung aus?

Werner Fischer:

„Bevor ich das erste Mal verurteilt wurde, hat mich der Untersuchungsrichter in sein Zimmer zitiert und er machte mir dort deutlich, dass als er noch ein junger Mann war und Beisitzer beim Gericht, schon während der Nazizeit gemerkt hat, dass dort die Zeugen natürlich empfindlicher bestraft wurden als heute. Ihm war es auch nicht recht, dass man jetzt die Zeugen Jehovas wieder verurteilen musste und deshalb wollte er mich praktisch damit trösten, dass ich mit einer geringen Strafe zu rechen hätte. Aber er könne nicht dagegen an, da man zur damaligen Zeit überall die Zeugen Jehovas in dieser Weise bestrafte, Er könne nun keinen Präzedenzfall schaffen und sagen: „Sie gehen jetzt straffrei aus.“

Bei der Berufungsverhandlung in Göttingen war ein älterer Richter. Es war seine letzte Verhandlung. Er war nun ganz und gar nicht damit einverstanden, dass das Gericht in Northeim, da es nun schon eine Wiederholungstat war, ein Strafmaß von nur 4 Monaten ansetzte. Er machte deutlich, dass wenn er könnte – das sei nun aber rechtlich nicht möglich – er mich gerne noch eine längere Zeit absitzen lassen würde.“

Sprecherin:

Werner Fischer wurde am 19. Mai 1967 ein 3. Mal einberufen. Der Einberufungsbefehl erreichte ihn in der Universitätsklinik in Göttingen. Er befand sich dort wegen einer Hautkrankheit.

Er beantragte eine neue Musterung durch einen unabhängigen Arzt.

Am 19. Juli 1967 teilte ihm das Bundesverwaltungsamt mit, dass er zum Tauglichkeitsgrad B erklärt worden sei.

Am 21. Dezember 1967 wurde er vorzeitig aus dem Zivildienst entlassen, obwohl er den Zivildienst nie angetreten hat.

(Musikakzent)

Auch Johannes Zabel war Totalverweigerer.

Warum verweigerte er auch den Ersatzdienst?

Johannes Zabel:

„Ja, das hatte damals bei mir mehrere Gründe. Und zwar habe ich mich seiner Zeit auch intensiv mit dem ganzen Gesetz befasst. Ein Punkt, der mir aufstieß war, dass der Ersatzdienstleistende in der damaligen Rechtslage durch Gesetz verpflichtet war, Befehlen zu gehorchen, die den Einsatz von Leben und Gesundheit forderten. Das steht ganz klar in dem alten Gesetzestext, der sich auch mit der Wiedergutmachung von Schäden befasst, die bei der Ausführung von solchen Befehlen entstanden wären oder entstehen könnten. Als Christ fühle ich mich natürlich auch an das gebunden, was Jesus Christus gesagt hat: „Wir sollen dem Kaiser geben, was dem Kaiser gehört und wir sollen Gott geben, was Gott gehört, gemäß Markus 12:17, und ich habe damals vor Gericht gesagt, dass dieser Anspruch des Staates auf Leben und Gesundheit der Bürger zu weit geht. Der Staat gibt uns Leben und Gesundheit eben nicht, sondern das sind Gaben Gottes. Also hat der Staat auch keine Verfügungsgewalt darüber, und wenn er sie beansprucht, dann ist dieser Anspruch nicht rechtmäßig. Ich kann diesen Anspruch als Christ jedenfalls nicht akzeptieren. Und der andere Grund für die Verweigerung lag darin, dass ich damals ein sogenannter Vollzeitprediger war. Ich hatte praktisch meine ganze Zeit in diesen Dienst der Verkündigung gestellt. Man könnte sagen, ich gehörte zu einer ordensähnlichen Gemeinschaft von Vollzeitpredigern, und wir bekamen natürlich nur eine relativ geringe Unkostenerstattung zur Bestreitung des Lebensunterhaltes. Die Verkündigung war mein eigentlicher Lebensinhalt, und ich wollte dies eigentlich auch so lange tun, wie es eben möglich war, und ich habe das ja auch einige Jahre getan. Und ich habe damals vor dem Gericht gesagt, dass diese Form des Gottesdienstes legitim in Deutschland ist. Sie ist also vom Staat geschützt. Ich darf das machen, das gehört zu meiner Religionsfreiheit. Und jetzt verlangt man aber in Verbindung mit diesem Ersatzdienst, dass ich den Gottesdienst aufgebe und irgendeinen anderen weltlichen Dienst verrichte, obwohl der ganz offenkundig kein Gottesdienst ist… In der ersten Instanz hat man auf Seiten der Schöffen sehr positiv reagiert. Sie haben meine Haltung akzeptiert und verstanden. Das Problem war damals natürlich, dass wir als Vollzeitprediger der Zeugen Jehovas nicht als zu einem Geistlichenstand gehörig betrachtet wurden, sodass das Argument jetzt Gottesdienst ständig zu verrichten, also als Vollzeitbeschäftigung, hier in dieser Form nicht anerkannt wurde. Wir wurden deswegen nicht vom Ersatzdienst freigestellt so wie die Geistlichen der protestantischen oder der katholischen Kirche.“

Sprecherin:

Johannes Zabel wurde dann vom Northeimer Gericht wegen Dienstflucht verurteilt. Das Urteil lautete wörtlich:

Eine Gefängnisstrafe von 3 Monate erschien angemessen, das Gericht hat die Vollstreckung der erkannten Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Das Gericht hat in dem längeren Gespräch mit dem Angeklagten während der Hauptverhandlung den Eindruck gewonnen, dass er von dem ihm vorgetragenen Gedanken wirklich überzeugt und das es ihm wahrlich ernst um die Belange der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas ist. Der Angeklagten machte auch keineswegs den Eindruck, dass er von dem zu Anklage stehenden Problem abgesehen zu strafbaren Handlungen neigt. Die einzige Möglichkeit, dass der Angeklagte in Zukunft straffällig werden könnte, ist eh wegen der Unzulässigkeit von Doppelbestrafung ausgeschlossen.“

Sprecherin:

Die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein. Das Göttinger Berufungsgericht distanzierte sich von der Berufungsbegründung. Trotzdem wurde die Bewährungsstrafe in eine Gefängnisstrafe von 3 Monaten umgewandelt.

Johannes Zabel wartete danach auf den Haftbefehl:

„Dieser Haftbefehl ist dann aber überhaupt nicht gekommen, stattdessen kam ein Schreiben, in dem steht: ’Gnadenweise Aussetzung der Strafe von 3 Monaten Gefängnis unter der Bewilligung einer Bewährungsfrist bis zum 30. 6Juni 1972’… Ich hätte damals eine Summe von 450 DM in monatlichen Raten an die Niedersächsische Gefängnisgesellschaft zahlen sollen. Auch das musste ich nicht tun, weil ich wie gesagt damals als Vollzeitverkündiger tätig war und eben nur eine geringe Aufwandsentschädigung bekam. Davon konnte ich diesen Betrag nicht abzweigen … und da schrieb dann der Herr Staatsanwalt: ’Mit Rücksicht auf Ihre wirtschaftlichen Verhältnisse stunde ich Ihnen bis auf weiteres die Bezahlung der Geldbuße. Ich werde zu gegebenen Zeit nachfragen, ob sich Ihre Eigentumsverhältnisse geändert haben.’… Und nachdem diese 3 Jahre vorbei und ich immer noch Vollzeitprediger war und das Geld nicht zahlen konnte, ist mir dann auch dies erlassen worden. Der endgültige Bescheid in dieser Strafsache sah so aus, dass also die ganze Angelegenheit auf dem Gnadenweg abgeschlossen worden ist.“

(Udo Jürgens, Es ist 5 Minuten vor 12)

Sprecherin:

In das Wehrersatzdienstgesetz wurde 1969 der Paragraph 15a eingefügt. Seitdem gibt es für Zeugen Jehovas die Möglichkeit ein freies Arbeitsverhältnis in einer Kranken-, Heil- und Pflegeeinrichtung abzuleisten. Dieses freie Arbeitsverhältnis muss ein Jahr länger dauern als der Ersatzdienst. Es wurde auf 2 1/2 Jahre festgesetzt.

Der Paragraph 15a wird auch „Lex Zeugen Jehovas“ genannt.

Inzwischen gilt dieser Paragraph nicht nur für Zeugen Jehovas.

Die Dauer der Wehrpflicht und des Zivildienstes wurde immer wieder verändert:

1984 : Der Zivildienst wird auf 20 Monate verlängert.

1990 : Der Wehrdienst wird von 15 auf 12 und der Zivildienst von 20 auf 15 Monate verkürzt.

1995 : Der Wehrdienst wird von 12 auf 10 Monate und der Zivildienst von 15 auf 13 Monate

verkürzt

2000: Der Zivildienst wird auf 11 Monate gekürzt.

2002: Der Zivildienst wird auf 10 Monate gekürzt

Zur Zeit gibt es eine Wehrpflicht von 9 Monaten (Stand 2003 – s.u. *aktueller Stand 2015).

(Musikakzent)

Sprecherin:

Im Göttinger Friedensbüro [seit Juni 2013 aufgelöst] findet einmal wöchentlich eine Beratung für Kriegsdienstverweigerer statt. Thomas Sivander auf die Frage, wer heute zu den Ratsuchenden gehört:

„Ins Friedensbüro kommen normalerweise keine Leute, die zum ersten Mal eine Kriegsdienstverweigerung machen, sondern Leute, die Probleme damit haben. Das heißt Reservisten, deren Kriegsdienstverweigerung abgelehnt worden ist oder auch jüngere Erstverweigerer, deren Begründung abgelehnt worden ist bzw. oftmals sind es Leute, die irgendwelche Fristen versäumt haben und dann Probleme bekommen bis hin zu den Leuten, die nicht nur Widerspruch einlegen müssen, sondern auch vor Gericht gehen müssen, um dann auf ihr Recht zu kommen. Sehr wenige kommen, aber dennoch findet es doch immer wieder statt, die sowohl den normalen Wehrdienst als auch den Zivildienst verweigern wollen“.

Sprecherin:

Wie viele Ratsuchende gibt es so im Jahr?

„Das kann man schwer sagen, ich denke das sind ungefähr 100-200 im Jahr, die sich persönlich oder telefonisch an uns wenden“

Sprecherin:

Wie hoch ist heute [Anm.: damaliger Stand] das Strafmaß bei Wehrdienstverweigerung?

„Sogenannte Wehrdienstverweigerung, wo also ein Zivildienst abgeleistet werden soll, kommt … wegen Fristversäumung oder anderer Probleme oder schlechter Begründung … vor Gericht… Wenn es vor Gericht kommt, dann wird meistens dem Kriegsdienstverweigerer Recht gegeben, denn es gibt ein uneingeschränktes Grundrecht auf Verweigerung des Wehrdienstes mit der Waffe. Es gibt kein wirkliches Strafmaß, das man sagen kann, da meist dem Kläger schon in der 1. Instanz, spätestens aber in der 2. Instanz Recht gegeben wird., Also da gibt es soweit ich weiß nicht einen einzigen Fall, wo jemand gezwungen wurde, den Wehrdienst in der Bundeswehr abzuleisten, wenn er bereit war den Zivildienst zu leisten. Für diejenigen, die aus politischen, moralischen oder religiösen Gründen nicht dazu bereit sind, gibt es eine unterschiedliche Behandlung. …Bei religiösen Gründen wird ganz anders verfahren. Dort wird eben häufig der Paragraph 15a angewendet, der ja extra auch für die Zeugen Jehovas eingerichtet wurde und eben ein freies Arbeitsverhältnis darstellt. Also kein abhängiges zivildienstleistendes Verhältnis, kein Wehrsold muss dort bezogen werden, sondern eine Arbeitsstelle, die mit einem freien Arbeitsverhältnis verbunden ist. Ich denke, dass dies von den meisten auch in Anspruch genommen wird. Diejenigen, die aus deutlich politischen Gründen ablehnen …und vorwiegend dann eher im linken, pazifistischen anarchistischen Spektrum angesiedelt sind, haben sehr unterschiedliche Strafmaße. Teilweise sind das sehr hohe Strafen. Das sind sehr seltene Strafmaße bis zu einjährigen Haftstrafen, teilweise hohen Geldstrafen… Der Durchschnitt der Strafmaße liegt bei 3 Monaten auf Bewährung. Es ist keine Haftstrafe, sondern die 3 Monate sind eine Bewährungsstrafe, die in das Führungszeugnis eingetragen wird, aber dann wieder nach einer gewissen Zeit gelöscht wird.“

(Musikakzent)

Sprecherin:

In diesem Jahr soll der Sinn und Zweck der Wehrpflicht überprüft werden.

Die „Grünen“ wollen die Wehrpflicht abschaffen, weil die Bundeswehr nicht mehr nur das Land verteidigt. Die Bundeswehr ist eine Armee ohne Grenzen geworden.

Es bleibt abzuwarten, wie die Neuregelung der Bundeswehr aussehen wird.

(Stand 2003* s. aktueller Stand 2015)

© Ingeborg Lüdtke

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* Aktueller Stand 2015

Die Bundesregierung hat am 15. Dezember 2010 beschlossen, die Wehrpflicht auszusetzen.

Auf das Recht der Zwangseinberufungen wird verzichtet.

Das Gesetz trat am 1. Juli 2011 in Kraft.

Der freiwillige Wehrdienst dauert bis zu 23 Monaten und gilt für Männer und Frauen.

Als Ersatz für den ausgesetzten Zivildienst wurde 2011 der Bundesfreiwilligendienst (BFD)  eingeführt.

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung besteht weiterhin. Das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben weist auf das Recht der Kriegsdienstverweigerung ausdrücklich hin.

Literaturhinweis: Weiterführende Information zum Thema ” Wehrdienstverweigerung” finden sich in dem Artikel von Ulrich Finck, Justiz und Kriegsdienstverweigerer aus dem Buch “Recht ist was den Waffen nützt” herausgegeben von Helmut Kramer und Wolfram Wette.

Hinweis:  Am 31. Januar 2014 ist Richard Rudolph im Alter von 102 Jahren verstorben.

Hinweis: Am 15. März 2021 ist Peter Dürrbeck im Alter von 82 Jahren verstorben.


Das Friedensbüro, Gotmarstraße, 3, gibt es seit Juni 2013 nicht mehr. „hiermit geben wir bekannt, dass der Verein “Fördergemeinschaft Friedensarbeit in Südniedersachsen e. V.” (das Göttinger Friedensbüro) zum 30.6.2013 aufgelöst wurde. Ecki Stedeler (für den ehemaligen Vorstand)“.

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Erster Wehrdienstverweigerer 1939 erschossen: August Dickmann

Magazin „MixUp“ im StadtRadio Göttingen gesendet am 13.September 2004

Das Recht auf Wehrdienstverweigerung wurde erst nach dem 2. Weltkrieg gesetzlich verankert

Vielen ist heute gar nicht so bewusst, dass das Recht auf Wehrdienstverweigerung erst nach dem 2.Weltkrieg gesetzlich verankert wurde. 1935 führte Hitler die allgemeine August Dickmann Wehrpflicht ein. 1938 wurde die Todesstrafe für Wehrkraftzersetzung eingeführt. In dem Film “Fürchtet Euch nicht” von Fritz Poppenberg wird von der 1.Erschießung eines Wehrdienstverweigerers im 2. Weltkrieg berichtet. Der Zeuge Jehovas August Dickmann wurde am 15.9.39 im KZ-Sachsenhausen hingerichtet.
Fritz Poppenberg sprach mit den beiden Zeugen Jehovas Josef Rehwald und Richard Rudolph, sowie mit dem politischen Häftling Fritz Brinkmann. Alle drei waren Augenzeugen der Erschießung.
(Film- O -Ton):
“Lagerkommandant Baranowski bat seinen obersten Vorgesetzten Himmler, um Erlaubnis ein Exempel statuieren zu dürfen, um den Widerstand der Zeugen Jehovas zu brechen. Es war der 15. September 1939. Wenige Tage nach dem Überfall deutscher Truppen auf Polen, als die Außenkommandos früher als üblich ins Lager zurückkehren mussten: (Richard Rudolph: O -Ton) ‘Nun ordnete der Vierkant, der Lagerkommandant Baranowski an, dass der Schutzhäftling August Dickmann vorgeführt werden soll. Wir wunderten uns schon. Bruder August Dickmann war schon 3 Tage im Arrest. Nun ahnten wir, dass hier etwas besonders im Gange sei’.
Gedenkstein August Dickmann(Josef Rehwald: O -Ton): ‘Eines Tages musste das ganze Lager (hier) aufmarschieren. … Vor uns war eine große Kugelwand aufgebaut worden, rechts von uns standen 7 SS Leute, ein Erschießungskommando und ein SS Offizier im Range eines Sturmbannführers also mit 4 Sternen. Dann plötzlich kam ein SS Mann zwischen den Baracken hindurch und führte August Dickmann vor und er musste sich dann vor diese Kugelwand platzieren und zwar mit dem Gesicht zur Kugelwand.’
(Richard Rudolph: O -Ton): ‘Und ihm wurde dann vorgelesen, dass er ein Feigling sei, dass er sich weigere für das deutsche Vaterland zu kämpfen und dass er als Feigling standrechtlich erschossen werden soll. Und nun wurde er noch gefragt: ‘Halten Sie Ihre Aussage aufrecht?’ Und er sagte: ‘Jawohl.’
(Josef Rehwald: O -Ton): Dann gab der SS-Offizier den Schließbefehl und August Dickmann fiel dann rückwärts um. Der zog dann noch seinen Revolver, der Offizier und schoss ihm wohl in Kopf, also den sogenannten Fangschuss geben.’
(Fritz Bringmann: O -Ton):’ Nicht nur für mich, sondern für uns alle war dieser Akt ein glatter offener Mord, den es bis dahin in Sachsenhausen nicht gegeben hat. Morde hat es etliche gegeben, aber so offen und vor der angetretenen den Lagerbestand hat es nie zuvor eine solche Erschießung gegeben. Und ich muss sagen, dass hat nicht nur auf mich, das hat alles sehr deprimierend gewirkt, denn mit anschauen zu müssen, wie ein Mensch, der nur seiner Auffassung treu geblieben ist und keinen Wehrdienst leisten wollte, der sich also nicht zum Handlanger der Wehrmacht machen wollte. Das man den nur wegen seiner Gesinnung und wegen dieser Verweigerung erschießt, dass war für uns ein glatter auch ein glatter politischer Mord.’

© Ingeborg Lüdtke

Filmtext: Mit freundlicher Genehmigung von Dreilinden-Film

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Hinweis:  Am 31. Januar 2014 ist Richard Rudolph im Alter von 102 Jahren verstorben.

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KZ-Lager Lenne bei Eschershausen

Interview mit Dr. Hilko Linnemann von der VHS Holzminden über das KZ-Lager Lenne bei Eschershausen

Ausgestrahlt am 17.11.2010 im StadtRadio Göttingen


Ingeborg Lüdtke:

Herr Dr. Linnemann Sie haben die diesjährige Veranstaltung der Reihe „Gedenken und Erinnern in Südniedersachsen“ für die Kreisvolkshochschule Holzminden organisiert.

Im Anschluss führten Sie die Teilnehmer zu der Erinnerungsstätte des Lenner Lagers.

Was versteht man unter dem Lenner Lager?


Dr. Hilko Linnemann:

Das Lenner Lager war das größte Zwangsarbeiterlager in der Region und Teil eines im Aufbau befindlichen Rüstungskomplexes im Raum Eschershausen im Landkreis Holzminden in der Endphase des Zweiten Weltkrieges. Zu diesem Rüstungskomplex gehörten noch ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald, ein Außenlager des Zuchthauses Hameln-Celle, sowie mehrere weitere Lager für Zwangsarbeiter aus ganz Europa. Insgesamt sollten in diesem Rüstungskomplex bis zu 10.000 Häftlinge eingesetzt werden. Für das Lenner Lager waren davon zwischen 3.500 und 5.000 Häftlinge vorgesehen.


Ingeborg Lüdtke:

Wo genau lag das Lager Lenne?


Dr. Hilko Linnemann:

Das Lager Lenner liegt in einem Waldgebiet, dem so genannten Schwarzen Land, am Rande der Gemeinde Lenne, im Landkreis Holzminden, direkt an der Bundesstraße 64 zwischen Eschershausen und Vorwohle.


Ingeborg Lüdtke:

Von wann bis wann hat es bestanden?


Dr. Hilko Linnemann:

Das Lager befand sich noch im Aufbau und wurde im Sommer 1944 begonnen und hat bis zur Befreiung der Lager am 07. April 1945 bestanden. Nach dem Ende des Krieges diente es zunächst der Unterbringung für die ehemaligen Gefangenen der Lager im Hils, die als so genannte „displaced Persons“ nicht in ihre Heimatländer zurückkehren konnten. Ab Ende 1945 wurden die Baracken dann zum Teil auf Abbruch in der Region verkauft. Einige dieser Baracken stehen noch heute an verschiedenen Orten in der Region.


Ingeborg Lüdtke:

Welche Opfergruppen und Nationalitäten waren hier inhaftiert?


Dr. Hilko Linnemann:

Die Opfer kamen aus vielen Ländern Europas. Größere Gruppen von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern kamen aus Osteuropa, wie beispielsweise der Sowjetunion oder aus Polen aber auch West- und Südeuropäer, wie Franzosen oder Italiener waren als große Gruppe vertreten. Die zahlenmäßig größte Gruppe bildeten jedoch Deutsche, die in ihrer Familie Verwandte jüdischen Glaubens hatten. Diese Opfergruppe wurde seit Ende 1943, verstärkt seit Sommer 1944 in Zwangsarbeiterlager eingewiesen und mussten für die Organisation Todt Zwangsarbeit leisten. Die Organisation Todt war als Bauorganisation geschaffen worden, die u.a. seit 1943 für den Ausbau der Untertageverlagerung von Rüstungsprojekten verantwortlich war und somit kriegswichtige Bauvorhaben wie zum Beispiel die Untertageverlagerung von Rüstungsproduktion im Hils bei Eschershausen durchführte.


Ingeborg Lüdtke:

Gab es auch bekannte Opfer?


Dr. Hilko Linnemann:

Ja, einige. Im Lenner Lager war beispielsweise der Atomphysiker Klaus Traube, der nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst Karriere in der Atomindustrie machte, sich aber seit Ende der 1970er Jahre in der Antiatomkraftbewegung und im Umweltschutz engagierte.

Ein weiterer bekannter ehemaliger Häftling war Klaus-Peter Bruns der seit Mitte der 60er Jahre zunächst Abgeordneter der SPD im Niedersächsischen Landtag und von 1970 bis 1976 Landwirtschaftsminister in Niedersachsen war.

Ebenfalls bekannt ist der FDP Politiker und spätere Finanz-Senator von Bremen, Wilhelm Nolting-Hauffoder der ehemalige Landtagsabgeordnete der SPD und Vorsitzender des Rechtsausschusses des Niedersächsischen Landtages Lothar Urbanczyk.

Einige ehemalige Häftlinge wurden Bürgermeister ihrer Heimatstädte. Darüber hinaus waren später erfolgreiche Geschäftsleute, Wissenschaftler und Beamte unter den ehemaligen Häftlingen.


Ingeborg Lüdtke:

Welche Arbeiten mussten verrichtet werden?


Dr. Hilko Linnemann:

Zunächst hauptsächlich Bauarbeiten, sowohl zum Aufbau des Lagers, aber auch beim Aufbau einer so genannten „Waldfabrik“, also einer Fabrikationsstätte mit großen Baracken, die zur Tarnung vor Luftangriffen in einem großen Waldgebiet aufgebaut wurde. Das Baumaterial musste zum Teil in das Waldgebiet getragen werden, so dass es sich um schwere körperliche Arbeit handelte, die die Häftlinge verrichten mussten. Darüber hinaus wurden die Häftlinge bei der Schaffung der Infrastruktur des Rüstungskomplexes, z.B. bei der Verlegung von Bahngleisen, aber auch für den Ausbau der unterirdischen Stollenanlagen eingesetzt. Ein Teil der Häftlinge arbeitete auch in der Produktion von Rüstungsgütern.


Ingeborg Lüdtke:

Und wer waren die Auftraggeber?


Dr. Hilko Linnemann:

Die Frage ist nicht einfach zu beantworten, da es sich um einen damals im Aufbau befindlichen Rüstungskomplex handelte, der sich durch eine Vielzahl von verschiedenen Lagern und die Beteiligung einer Vielzahl verschiedener Firmen und Institutionen auszeichnete, die in den Akten zudem noch mit Tarnbezeichnungen belegt sind. Ich versuche das mal möglichst einfach zu erklären.

Der Ausbau der Lager und der Stollen standen unter der Oberaufsicht der Organisation Todt, also unter staatlicher Aufsicht. Die Organisation Todt hatte die Einzelnen Bauprojekte jedoch an regionale und überregionale Baufirmen vergeben, für die die Häftlinge dann arbeiten mussten.

Neben den Ausbaumaßnahmen, sowohl der Grubenanlagen, als auch der verschiedenen Lager, lief aber auch bereits der Aufbau einer Produktion von Rüstungsgütern.

Zunächst wurden ab Ende 1943 in den Grubenanlagen des Asphaltbergwerks nur Material und Maschinen eingelagert. Daran waren z.B. das Marinearsenal Kiel oder auch die Continentale Gummi-Werke AG aus Hannover beteiligt. In weiteren Grubenbereichen wurden bis Mitte 1944 durch die Deutschen Edelstahl-Werke Hannover, Kurbelwellen, durch die C. Lorenz AG Berlin, Funkmessgeräte und durch die Härterei Reinhardt aus Leipzig, Zahnräder, hergestellt.

Ab August 1944 verlagert dann das Volkswagenwerk unter der Leitung von Ferdinand Porsche einen Teil seiner Rüstungsproduktion in die Stollenanlagen. Eins der Ziele war es Eschershausen im Rahmen des Jägerprogramms zum Zentrum seiner Flugzeugproduktion auszubauen.


Ingeborg Lüdtke:

Unter welchen Lebensumständen mussten die Inhaftierten arbeiten?


Dr. Hilko Linnemann:

Die Baracken bestanden aus 4 Räumen bei einer jeweiligen Größe von 5×12 Metern. In jedem dieser Räume waren mehr als 30 Personen untergebracht. Die Verhältnisse waren sehr beengt. Hinzu kam, dass es Herbst bzw. Winter war, die Baracken nicht isoliert waren, es wenig Heizmaterial gab und das Waldgebiet sehr feucht war. Augenzeugen berichten, dass morgens das Kondenswasser von der Decke tropfte. In der Regel mussten die Häftlinge 12 bis 14 Stunden arbeiten, wenn z.B. Baumaterial angeliefert wurde, musste auch manchmal noch darüber hinaus gearbeitet werden. In den Stollenanlagen kam erschwerend noch die konstante Temperatur von 7 Grad verbunden mit der Luftfeuchtigkeit und zum Teil Sauerstoffmangel erschwerend hinzu.

Die Ernährungssituation war schlecht, es gab im wesentlichen dünne Suppen, etwas Gemüse, wenig Brot, selten Fleisch. Die Nahrung reichte in der Regel nicht, um bei derLenner Lager körperlich schweren Arbeit bei Kräften zu bleiben. Hinzu kamen noch unzureichende hygienische Bedingungen. Als Folge der Mangelernährung und der schlechten hygienischen Verhältnisse kam es in den Lagern im Hils dann auch regelmäßig zu Krankheiten und Todesfällen.


Ingeborg Lüdtke:

Was sieht man noch vor Ort?


Dr. Hilko Linnemann:

Man sieht in dem Waldstück noch die Fundamente der ehemaligen Baracken und die damit zusammenhängende Struktur des Lagers, wie beispielsweise den Appellplatz.


Ingeborg Lüdtke:

Ist es in der Umgebung bekannt, dass es dies Lager gab?


Dr. Hilko Linnemann:

Ja. Durch die inzwischen jahrzehntelange Arbeit verschiedener Schulen der Region, des Heimat- und Geschichtsvereins Holzminden oder der Kreisvolkshochschule Holzminden und weiterer engagierter Institutionen und Einzelpersonen ist der Lagerkomplex mittlerweile bekannt.


Ingeborg Lüdtke:

Was tut die Kreisvolksschule im Zusammenhang mit den Heimatpflegern für diesen Gedenkort?


Dr. Hilko Linnemann:

Die Kreisvolkshochschule Holzminden hat in Zusammenarbeit mit Detlef Creydt, der sich seit Jahrzehnten mit der Erforschung der Lager im Hils beschäftigt hat und mit Dr. Manfred Grieger von der Historischen Kommunikation der Volkswagen Aktiengesellschaft im Rahmen mehrerer Qualifizierungsmaßnahmen für arbeitslose Jugendliche in den letzten 6 Jahren zunächst einen Geschichtspfad mit erklärenden Tafeln auf dem Gelände des Lenner Lagers angelegt. Zu diesen Projekten gehörte auch der Aufbau einer Baracke auf einem der Originalfundamente, in der seit einem Jahr die Dauerausstellung „Zwangsarbeit für die Rüstung im Nationalsozialismus“ gezeigt wird. Unterstützt werden die Projekte durch eine Vielzahl von Partnern, wie der Europäischen Union, dem Landkreis Holzminden, die Arbeitsgemeinschaft zur Arbeitsvermittlung Holzminden, der Kulturstiftung des Landkreises, von Kommunen, der Kreisvolkshochschule Holzminden, der Historische Kommunikation der Volkswagen Aktiengesellschaft, der Bildungsvereinigung Arbeit und Leben, dem Forstamt Grünenplan oder dem Heimat- und Geschichtsverein Holzminden.

Die Kreisvolkshochschule Holzminden hat das Gelände von den Niedersächsischen Landesforsten gepachtet und betreibt es nun als Gedenkstätte, in dem Ausstellungen gezeigt, Vorträge gehalten und Gruppen durch das Gelände geführt werden.

(c) Ingeborg Lüdtke

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Kontakt:

Dr. Hilko Linnemann

http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/erinnerungsorte/74848/erinnerungsorte-detailseite?id=467

Detlef Creydt

http://www.detlefcreydt.de/kontakt__impressum.html

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Jonathan Stark im Jugend-KZ Moringen (von Martin Guse)

Ausschnitt aus der Lesung vom 15. November 1999 im Alten Rathaus in Göttingen mit dem Sozialpädagogen Martin Guse und dem Historiker Dr. Hans Hesse im Rahmen der Veranstaltungsreihe “Gedenken an die Opfer des NS 27. Januar”:

Jonathan Stark wurde im Jugend-KZ Moringen die Haftnummer 1140 zugeteilt.

ehemaliges KZ Moringen

ehemaliges KZ Moringen

Der 17-jährige stammte aus Ulm und hatte die dortige Kunstmalerschule absolviert. Aufgrund seines Glaubens hatte er den Arbeitsplatz als Lithograph verloren. Am 01.10.1943 zum „Reichsarbeitsdienst“ einberufen, verweigerte er den Eid „auf Führer und Staat“. Nach ersten Vernehmungen durch die Gestapo wurde er am 23.11.1943 endgültig verhaftet und in das Polizeigefängnis Stuttgart überstellt. Dort traf er auf den Häftling Walter Schumann, der sich später an die heimlichen Gespräche mit dem Jungen erinnerte: „Keineswegs betrübt über seine Gefangenschaft erzählte er freimütig, er gehöre zur Organisation der Bibelforscher und habe aus innerer Überzeugung den Eid auf Adolf Hitler verweigert. Er hieß Stark und stammte aus Ulm. Was ihm bevorstand, wußte er gut: Welzheim, Konzentrationslager. So mancher seiner Glaubensgenossen saß bereits dort. Wie er sagte, standen seine Angehörigen in geheimer Verbindung mit ihnen. Bis in alle Einzelheiten war er über die Behandlung dort unterrichtet. Beim Reichsarbeitsdienst hatte man ihn zunächst eingesperrt und durch andere Maßnahmen immer wieder zum Eid pressen wollen. Da er jedoch standhaft blieb, hat man ihn endlich der Gestapo zur weiteren Behandlung übergeben. (…) ‘Aber’, so fuhr Stark in seinem Bericht fort, ‘es kam dann bei meiner Vernehmung noch ein anderer Beamter hinzu, ein dicker, unsympathischer Mensch’, der habe ihn angeschrieen, er sei ein großer Vaterlandslump und das beste wäre, man würde ihn ohne langes Federlesen erschießen. Auch der Vater von Stark, dessen inzwischen erfolgte Verhaftung man dem jungen Menschen mitteilte, gehöre hingerichtet; überhaupt alle Bibelforscher. Aber auch damit ließ sich der junge Stark nicht einschüchtern. Man merkte ihm an: er war bereit, sich zum Märtyrer machen zu lassen und, wenn es sein mußte, für seinen Glauben in den Tod zu gehen.“ [1]

Galgen KZ SachsenhausenAus dem Polizeigefängnis Stuttgart überstellte man Jonathan Stark nicht nach Welzheim, sondern Anfang 1944 in das Jugend-KZ Moringen, wo die SS ihn der Gruppe der politischen Häftlinge, den sog. „Stapo-Häftlingen“ und dem entsprechenden Häftlingsblock, zuordnete. Im Herbst 1944 in das KZ Sachsenhausen verschleppt, als Todeskandidat gekennzeichnet und in Block 14 untergebracht, wurde Jonathan Stark dort am 01.11.1944 im Alter von 18 Jahren durch den Strang hingerichtet. [2]

[1] Schumann, Walter, Nur vierzehn Tage. Ein Tatsachenbericht. Stuttgart o.J., S. 107/108

[2] Vgl. Auswertung des Lagerbuches durch Dr. H. Muth beim Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes in Arolsen; in: Institut für Zeitgeschichte München, Deponat Muth; dazu: Aussage des Vaters von Jonathan Stark vom 21.11.1945 im Archiv der Wachtturmgesellschaft, Selters; weitere Quellen: Leber, Annedore, Das Gewissen steht auf. Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand von 1933 – 1945, Berlin 1954, S. 20 sowie Lechner, Silvester, Das KZ Oberer Kuhberg und die NS-Zeit in der Region Ulm/Neu-Ulm, Ulm 1988, S. 89

(c) Martin Guse, mit freundlicher Genehmigung

Beitragsausschnitt aus Martin Guse “Der Kleine, der hat sehr leiden müssen …” Zeugen Jehovas im Jugend-KZ Moringen aus dem Sammelband Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas“ – Verfolgung und Widerstand der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus, (Hrsg.) Hans Hesse, Bremen 1998, Edition Temmen

Ausschnitt aus der Radiosendung vom 1. Oktober 2008 über die Heeresmunitionsfabrik Volpriehausen und das Jugend-KZ Moringen

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